Schweitzer Fachinformationen
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Zwei Meter Paul Witte. Plötzlich steht er vor mir, der von den Blauen. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Obwohl er da gestanden haben muss, die ganze Zeit. Ich bin um die Ecke gekommen, mit meinem Rad. Das habe ich geschoben, bloß von der zukunftsgrünen Wahlparty bei Katja die paar Meter Kesselstraße hoch und dann beim roten Turm um die Ecke auf den Marktplatz, und dann sehe ich diese Traube murmelnder Männer vor der Kneipe Zum Markt, eben noch bin ich in der Kesselstraße und lasse Katja hinter mir, meine grüne Katja, aufgebaute Schultern, gerader Rücken, nicht-berühren-Katja, gerade noch Kesselstraße und dann schon Marktplatz und schon in dieser Traube Männer mit ihren Bierhumpen in der Hand, rote Backen und glänzende Augen und Schulterklopfen, und er steht da. Paul Witte, vielleicht bald Oberbürgermeister von Grenzlitz. Zwei Meter groß, breite Schultern, blonde, abrasierte Haare, aber nicht ganz, so mit Seitenscheitel, »Jungs, lasst das junge Frollein mal durch mit ihrem Rad«, bassige Stimme, dann diese Schneise vor mir auf dem Bürgersteig in Grenzlitz, lauter lachende Münder, zwanzig, dreißig Blaue um mich herum, darunter Falk Schloßer, ganz sicher, ich kann es riechen, Falks Menthol. Und dann diese zwei Meter vor mir, zwei Meter blonder Mann, plötzlich Wittes weiß behemdete Brust vor meinem Gesicht, hochgekrempelte Ärmel, ich blicke hoch, da ist es, dieses jungenhafte Grinsen unter den kurzen Haaren, unter dem Seitenscheitel, mit den blauen Augen und den Grübchen und diesen dünnen Lippen, er steht vor mir auf dem Weg, Paul Witte, vielleicht bald blauer Bürgermeister von Grenzlitz. Und ich gebe ihm meine Hand, kurz halte ich seine Hand in meiner, hält er meine Hand in seiner. Ich gebe Paul Witte die Hand.
vielleicht hängt das ja zusammen?
was
na ich erzähle meiner schwester, dass ich kein mann mehr sein will, die regt das mega auf, und keine zwei monate später schüttelt sie einem nazi die hand
so einfach ist das nicht. und es ging eigentlich auch gar nicht um paul witte
nee schon klar. es ging dir um seinen lakaien, um diesen falk, wie heißt er? falk schloßer? ich weiß schon, der mit dem menthol und so
eigentlich ging es weder um paul witte, noch um falk. sondern um katja. für katja bin ich nach grenzlitz gegangen
lieber noah,
ich wollte dir nur kurz schreiben, damit du weißt, wo ich bin. ich bin in den zug gestiegen, gestern, nach unserem streit, ich bin in berlin am alex in den zug gestiegen und losgefahren, einfach richtung grenze, erst cottbus, dann grünlau und grenzlitz. es regnete, es regnete wirklich in strömen, jetzt scheint die sonne, maigelb, butterblumengelbe maisonne über grenzlitz, aber gestern drückte der regen die gräser im spreewald hinab, sie waren durstig zum himmel gewachsen und jetzt wurde der himmel ihnen zu schwer, und inmitten dieser müden gräser stand ein reh. ich habe es durch das fenster gesehen, das reh schüttelte seine nasse nase und starrte meinen zug an, und der zug zog die tropfen auf den fenstern in die länge, lang in die länge, bis sie sich nicht mehr halten konnten, bis sie losließen und sich in langen streifen über das glas auflösten, keine tropfen mehr, kleine rinnsäle jetzt, ein tropfen musste sich nur vorwagen, und dann folgten die anderen hinterher, immer hinterher, flussbetten auf den fenstern der ODEG, der ostdeutschen eisenbahn, die ODEG, bist du die schon gefahren? stell dir vor, ich glaube, ich bin überhaupt zum ersten mal richtig in ostdeutschland. also klar, an der ostsee war ich schon und auch mal in potsdam und in ostberlin ja eh, aber das war's dann auch schon, wir sind ja nie in den osten, nach dieser geschichte mit opa. und so habe ich das eben auch nie gemacht. also, abgesehen von dresden, aber das war ja etwas anderes, die antifa-blockaden von dresden nazifrei, und ob das der osten war, na, ich weiß nicht. in grünlau ist schluss, dachte ich im zug, ende, aus, und das erinnerte mich an etwas. meine erste fahrt in den osten fühlt sich an wie meine erste fahrt nach nordstadt. dieser zug endet hier, erinnerst du dich? wie wir bei oma und opa ankamen, aus dem süden, die berge waren wir gewohnt, berge und wald und bächle und gassen, und dann kamen wir in diese nordstadt, ans ende der welt, grau war es und das meer war nie da, bloß ebbe und schlick. hier in grenzlitz ist es ganz ähnlich. nur dass es keine nordsee gibt, sondern den limesfluss, und dahinter ist schluss.
der zug war recht leer, es war ja vormittags unter der woche, ich sage dir, ich bin echt einfach los in berlin, ich habe bloß ein paar sachen gepackt, ich weiß auch nicht. ich weiß nicht. ob wir nochmal reden sollen, noah, du warst so, du warst. so.
da war eine frau mit mir im zug, eine alte frau, sie hatte lila haare, wie ausgewaschen, ganz dünn, die haare, weich und dünn, einen beigen trenchcoat hatte sie an und eine kleine, viereckige handtasche aus braunem leder so über die brust gehängt. sie wollte in limenz aussteigen, ein bedarfshalt, wenn sie hier aussteigen möchten, drücken sie bitte den gelben halteknopf. die frau drückte den halteknopf, und als der zug hielt, ließ sie ihre stange los und ging in winzigen schritten durch die tür auf den bahnsteig, und da gingen die zugtüren schon wieder zu, sie erschrak, ruderte mit beiden armen, der zug fuhr los, die ODEG sog sie nach hinten, zupfte an ihrem beigen regenmantel.
erst also der bedarfshalt. und dann war es nass. und grau. und wenn ich ehrlich bin, fand ich das irgendwie angemessen, rechtes, graues, tristes grenzlitz, eine männer-stadt, wusstest du das? dass frauen hier abgehauen sind, nach 1989 sind sie weg, so viele, dass es hier viel mehr männer gab, frustrierte, sitzengelassene, arbeitslose männer, so stellte ich sie mir immer vor, grenzlitz: eine graue männer-stadt, männer in jeansjacke, frustrierte, in der trotzphase stecken gebliebene männer. mit schnurrbart. ich kann nicht sagen, dass sie mich mit offenen armen empfing, diese stadt, und mich wundert das nicht.
im bahnhof war alles leer und kalt und leise, einige menschen stiegen mit mir aus, aber keiner sagte einen ton, alle mit dem blick auf den grauen boden durch die nasse luft zur treppe, unten im gang pissegestank, alte holztüren grün lackiert, sie schwangen automatisch auf, das hätte man dem schweren holz gar nicht zugetraut, so spontan und flexibel sich zu öffnen, und dann draußen vor dem bahnhof: niemand, nichts und niemand, kein auto, keine menschen, nur regen und nasse straße, hau ab, geh zurück in dein berlin, mach, dass du weg kommst, du hast hier nichts zu suchen, rief mir diese stadt entgegen. der regen kroch an meinem schal vorbei in meinen nacken, mein nacken zog sich zusammen, genau dort, wo der kopf anfängt.
du fragst dich, was ich hier will. ich sage es dir nicht. du würdest es ja doch nicht verstehen. du hast gesagt, du willst von mir nichts mehr hören, noah. also erzähle ich es dir nicht.
aber dann. in der altstadt, da waren diese gepflasterten straßen aus runden steinchen, und ich sage dir, hier ist was, und deshalb schreibe ich dir, gestern noch hätte ich nicht gedacht, dass ich dir je wieder schreibe, aber diese pflastersteine hier in den grenzlitzer gassen . kennst du das, wenn du das gefühl hast, das straßenpflaster flüstert dir etwas zu? sie flüstern, die steine, da ist etwas, unter dem roten straßenpflaster, vielleicht auch nicht wirklich darunter, sondern irgendwie dazwischen, darin verborgen, verborgen zwischen den vielen kleinen rundlichen steinen, rot und rundlich. hier ist etwas, hier in grenzlitz.
ich weiß nicht. ich weiß auch nicht, warum ich dir das alles schreibe. jedenfalls bin ich jetzt hier, das solltest du wissen, damit es überhaupt jemand weiß. ich bin in grenzlitz, rand von sachsen, rand der republik, ende der welt. gute nacht.
Sie hat mich einfach sofort umgehauen. Ich glaube, es waren ihre Arme. Diese starken Oberarme, in weiß gekleidet, vor der Brust verschränkt. Oder nein, es waren ihre Augenbrauen. Zwei blonde Bögen über feuersprühenden Augen, diese Rundung, jedes Haar an genau seinem Platz, weil ja auch Katja genau an ihrem Platz war. Katja Stötzel in einem ganz weißen Körperanzug, sitzend in einer Kohlegrube, dahinter eine Reihe von Polizisten, Protest in der Lausitzer Kohlegrube für den Kohleausstieg, auf dem Video zerrt ein Polizist an ihrem Arm, und Katja sieht gar nicht hin, nein, Katja Stötzel schaut weiter vor sich in die Grube, und in ihrem Gesicht ist keine Wut zu lesen, keine Aggression, sie beschäftigt sich gar nicht mit dem Polizisten, der sich da gerade an ihrem Arm zu schaffen macht, sondern sie beschäftigt sich mit der Grube vor sich, diesem riesigen Loch, das Menschen in die Erde gebuddelt hatten, um sie zu verbrennen und durch diese Energie zu wachsen und dabei viel Dreck in die Luft zu pusten, was nun nicht mehr geht, weil schon zu viel Dreck in der Luft ist, und deshalb muss der Dreck nun im Boden bleiben, und dort sitzt Katja also, um mit ihrem Körper zu verhindern, dass dieses Loch tiefer gebuddelt wird, ganz logisch, ganz richtig. Sie starrt in dieses Loch vor sich und hebt eine Augenbraue. Eine feine, zarte, blonde Augenbraue. Da habe ich es entschieden. Oder ich habe es gar nicht entschieden, es war einfach klar: Jetzt geht die Reise zu Katja Stötzel. Ich werde die neue Coachin dieser Wahnsinnsfrau dort mit den Wahnsinnshaaren, und ich werde sie zur neuen Bürgermeisterin...
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