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Männer haben Gefühle, wissen es aber oftmals nicht. Sie tun sich immer noch sehr schwer - selbst im 21. Jahrhundert -, ihre Gefühle zu beschreiben, zu ihnen zu stehen, sie nicht gering zu schätzen. Blicken wir auf Bernd Schröder, den erfolgreichsten deutschen Trainer im Frauenfußball. Mit Turbine Potsdam formte er die beste Frauenfußballmannschaft der DDR, die später, 2010, auch die Champions League gewinnen wird. Schröder, ein Riese, oft »der Lange« genannt, ist ein harter Hund, der allen immer alles abverlangt hat. In einem Interview mit der Welt zu seinem Abschied als Trainer sagte er 2016: »Ich komme aus einer Familie, in der du dazu erzogen wurdest, möglichst keine Gefühle zu zeigen. Ich bin während des Zweiten Weltkrieges auf dem Lande geboren, wir waren drei Jungs, meine Eltern mussten schwer arbeiten. Jeder musste Härte zeigen, sonst hätten wir das nicht durchgehalten.«
Wenn man verstehen will, warum es die Männer den Frauen so schwer machten, als diese auch Fußball spielen wollten, wenn man verstehen will, gegen welche Mauern die Pionierinnen des Frauenfußballs anrennen mussten, muss man Männer wie Bernd Schröder und ihre Liebe zum Fußball betrachten. Bernd Schröder, Jahrgang 1942, war zwölf Jahre alt, als Deutschland im Sommer 1954 Fußballweltmeister wurde.
2020 ist Bernd Schröder beim Podcast »Legende verloren« zu Gast, der sich den vergessenen Geschichten des Frauenfußballs widmet. Dort erzählt er, wie der Triumph von 1954 sein Bild vom Fußball geprägt hat, das er dann auf den Frauenfußball übertrug. Er habe immer darauf geachtet, dass seine Frauenmannschaften ebenso ordentlich und brav im Bild standen wie die Helden von Bern. In Reih und Glied, nach der Größe aufgestellt, Trikots und Hosen in bestem Zustand, die Mannschaft als Einheit, gleichsam als Phalanx des Willens. Dieses beinahe soldatische Antreten habe er immer wieder üben lassen. Noch am 9. Mai 1990, als die hektisch gegründete Frauenfußball-Nationalmannschaft der DDR in Potsdam ihr erstes und zugleich letztes Länderspiel gegen die Tschechoslowakei absolvierte, habe ihn dieses Bild der 54er-Mannschaft geleitet. Und dann macht er einen eher unbeholfenen, aber sehr aufschlussreichen Witz: »Wenn wir schon nicht gut spielen konnten, wollten wir wenigstens gut aussehen.«
Was Schröder hier sagt, öffnet die Augen für viele Aspekte im Feld Frauen, Fußball, Männer und Gefühle. Der Mann ist die Norm, an der sich die Fußballerinnen zu messen haben; sie sollen nicht sie selbst sein, sondern eine Art nachgeahmter Mann. Für den Mann ist der Fußball nach 1945 einer der wenigen Orte, wo er privat und öffentlich, allein und in Gemeinschaft Gefühle zeigen, ja, fließen lassen darf. Für Männer wie Bernd Schröder, dem Härte ins Identitätsgepäck gelegt worden war, bedeutete Fußball Gefühl, ohne dass er das eigentlich wusste. Fußball war Härte, Kampf und Leidenschaft, aber eben auch Gefühl, nur wurde das unter Begriffen wie »Kameradschaft«, »Elf Freunde müsst ihr sein« oder »Sportsgeist« verborgen gehalten.
Auf dem Platz oder am Spielfeldrand liegen Männer einander in den Armen, streicheln und küssen sich, werfen sich zu Körperpyramiden aufeinander, kneifen Mitspielern in die Wangen, tätscheln ihnen den Po oder Hinterkopf oder geben sich anerkennende Ohrfeigen. Und sie haben lange Zeit darüber gewacht, dass Frauen nicht in diese Gefühlsarena vordrangen, der Fußballplatz sollte dem Mann gehören. Der Mann wollte nicht »verweiblichen«, die Frau sollte nicht vermännlichen. Der Mann als gleichsam natürlicher Gebieter über den Fußballplatz wollte diesen Platz nicht räumen für Frauen, die mit ihrem Anspruch auf Teilhabe die grundlegende Ordnung der Dinge störten.
Im Frühjahr 2023 beginne ich mit der Arbeit an einem Film über die Pionierinnen des Frauenfußballs. Bei den Dreharbeiten lerne ich Frauen wie Christa Kleinhans, Anne Trabant-Haarbach und Bärbel Wohlleben kennen. Sie sind herausragende Fußballerinnen gewesen und über den Platz hinaus große Persönlichkeiten, die wir im Lauf dieser Geschichte näher kennenlernen werden. Übereinstimmend schildern sie, wie wichtig in ihrer Kindheit dieser WM-Sieg 1954 für sie war und wie sehr er ihre eigenen Lebenswege bestimmt hat.
Als ich überlege, wie der Film heißen könnte, fällt mir daher der Titel »Die Heldinnen von Bern« ein. Darin steckt ein gewisses Provokationsmoment, denn die »Helden von Bern« werden bis heute ausschließlich männlich gedacht. Wer an sie denkt, denkt an Fritz Walter, Helmut Rahn, Toni Turek, Werner Kohlmeyer, an Werner Liebrich oder Horst Eckel. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder ist stolz darauf, die Mannschaftsaufstellung bis heute auswendig zu können, wie so viele Männer seiner Generation. Sie haben diese Mannschaft gleichsam inkorporiert, zum Teil ihrer Körper und Identität gemacht. Unter den »Heldinnen von Bern« könnten sie sich sicher zunächst gar nichts vorstellen.
Dann tue ich, was jeder tut, der herausfinden will, ob der ihm eingefallene Titel schon einmal gefunden wurde und damit vergeben wäre. Ich bemühe eine Suchmaschine und finde exakt einen Treffer! In einem Interview mit der Zeit (2011) wird Gabriele Sobiech, Professorin für Körper- und Sportsoziologie, gefragt: »In die Diskussionen um Frauenfußball mischen sich mitunter chauvinistische Reflexe, vergessen geglaubte Frauenklischees werden ausgekramt. Was erhitzt die Gemüter so?« Worauf die Forscherin mit einer Gegenfrage antwortet: »Der Fußball hat in Deutschland eine starke nationale Bedeutung und die ist männlich konnotiert. Denken Sie nur an 1954, die Helden von Bern. Können Sie sich die Heldinnen von Bern vorstellen?«
Nein, das können wir nicht. Klar, bei der ruhmreichen Elf von Sepp Herberger, die im Wankdorfstadion von Bern die als unschlagbar geltenden Ungarn niederringt, handelt es sich zweifelsfrei um Männer. Aber wir übersehen, vor allem wir Männer, wie sehr dieser unverhoffte Triumph auch von Mädchen und jungen Frauen erlebt und gefeiert wurde. So wie der Fußball lange Zeit nur männlich gedacht wurde, wurde er auch männlich erzählt, überliefert, von Generation zu Generation weitergegeben. In dieser maskulinen Meistererzählung kommt die Frau nicht vor. Dass sie ausgeblendet wird, ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass der Mann ganz zu sich selbst kommt und bei sich bleibt, denn der Fußball ist Männer-Revier.
Ich habe lange Zeit nicht verstanden, wie diese Ausblendung funktioniert und wie ich selbst etwa als Erzähler daran beteiligt war. Ich gebe die Wörter »Männer«, »Gefühle« und »Wunder von Bern« in die Suchmaschine ein und stoße auf einen Artikel mit der Überschrift »Die Kinder von Bern. Als Deutschland 1954 Weltmeister wird, sehen viele Jungs ihre Väter zum ersten Mal weinen«. Sieben Männer schildern darin, wie sie als Kinder das Finale von Bern erlebt haben und was dieses kollektive Erlebnis für sie bedeutete. Nachdem ich den Artikel ein zweites Mal gelesen habe, suche ich den Namen des Autors und finde - mich selbst: Dass ich diesen Text vor nahezu zwanzig Jahren geschrieben hatte, war mir restlos entfallen. Und ich hatte nur Männer nach ihren Kindheitserlebnissen gefragt, Frauen und Mädchen kommen in den Schilderungen nur als diffuse Schatten vor.
So erzählt etwa Dieter Seidelmann: »Das Finale habe ich sogar in einer Kneipe im Fernsehen gesehen. Man musste sich vorher anmelden, dann wurden Stuhlreihen aufgestellt. Ich erinnere mich vor allem an Männer und Jungen, Frauen waren kaum in dem überfüllten Gastraum. Ich spielte den Reporter und kommentierte vor Aufregung die Spiele selbst mit. Meine Mutter musste mich beruhigen, so aufgedreht war ich.« Und ein anderer Zeitzeuge berichtete mir, wie seine Mutter ihm heiße Umschläge machen musste, weil er sich beim angestrengten Zuschauen den Nacken verrenkt hatte. Die Mütter waren also lediglich Ersthelferinnen für die übererregten Kinder, die Söhne natürlich; von Töchtern und Müttern, die ebenfalls mitfieberten, mitlitten und durch den Fußball geprägt wurden, ist in meinem Text keine Rede. Als männlicher Autor war ich auf männliche Zeitzeugen fixiert, weil der Hauptstrom der Fußball-Erinnerungen und des Redens über Fußball immer durch Männer bestimmt war und wurde. Ich hatte dabei kein Auge für Frauen, und ihre Ausblendung hatte ich damals nicht reflektiert, weil ich sie nicht sah. Und ich sah sie nicht, weil ich nichts von ihnen wusste.
Es ist an der Zeit, sich dieses Wissen endlich anzueignen.
Christa Kleinhans ist sechzehn, als Deutschland Weltmeister wird. Sie steht mit Freunden und Verwandten vor einem Friseurgeschäft, der Inhaber hat einen klobigen Fernseher ins Schaufenster gestellt. Eine dichte Menschentraube klebt geradezu an der Scheibe. Alle, wirklich alle, so Christa, waren aus dem Häuschen. Zu diesem Zeitpunkt spielt sie bereits Fußball, und der WM-Sieg bekräftigt und bestätigt sie in ihrem Weg. Bald schon werden die Zuschauer sie den »weiblichen Rahn« rufen.
Bärbel Wohlleben, die 1974 bei der ARD-»Sportschau« die erste Torschützin des Monats werden wird, ist 1954 zehn Jahre alt. Sie erinnert sich gut daran, wie sie sich alle, Nachbarn, Freunde und Familie, in den Armen lagen, wie laut der Jubel war, wie alle herumsprangen und sich eine selten erlebte Ausgelassenheit Bahn brach. Alle Kinder liefen nach dem Schlusspfiff erregt aus dem Haus und begannen die Partie sofort nachzuspielen. Bärbel mittendrin, auch sie spielte schon Fußball, und auch für sie war der Triumph der Deutschen eine Bekräftigung ihrer...
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