Schweitzer Fachinformationen
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Der Tod kam im fahlen Licht des beginnenden Morgens. Er kam mit einem Schrei, dem ein zweiter folgte, und dieser schloss den ewigen Kreislauf: Leben und Sterben.
Sinead war mit Colins Kind unter dem Herzen nach Cumbrien zurückgekehrt, an diesen dunklen, verwunschenen Ort - dunkler noch und verwunschener jetzt im November. Das Licht schien gefangen in den wuchernden Wäldern, hinter den nebelverhangenen Hügeln, den endlosen Regenschleiern. Der Besitz des verstorbenen Earls von Cumbrien duckte sich als grauer Schemen unter dem Wolkenhimmel. Die Mauern umschlossen das Haupthaus, die Gesindehütten, den Speicher und die Stallungen, als zögen sie ihren Kreis immer enger um die Gebäude. Ein stahlgrauer Bach schnitt mitten durch das Anwesen.
Die zwiespältige Vergangenheit war allgegenwärtig. Seamus der Ire und Earl von Cumbrien wider Willen, den die Liebe zu einer Engländerin hierherverschlagen hatte, war in England stets unglücklich gewesen. Ihm, dem Geschichtenerzähler und Säufer, wurde vom Meer der einzige Wunsch ertränkt, den er am Ende noch hatte: ein letztes Mal Irland, die Heimat zu sehen. Ihn rissen die Fluten zusammen mit seinem Wunsch auf den Meeresgrund, vergaßen dabei aber, das Unglück mitzunehmen, das fortan Sinead auf Schritt und Tritt verfolgte wie ein treuer Hund.
Bei ihrer Ankunft in Cumbrien hatte alles nahezu unverändert gewirkt: das Wetter, die düstere Landschaft, der Besitz. Die Zeit schien stehengeblieben. Doch wer hatte in all den Jahren für den Unterhalt des Anwesens gesorgt? Wer hatte den Verwalter bezahlt, wer den Knecht?
Sinead vergaß diese Fragen, als sie das ungeborene Leben in ihrem Leib spürte. Obwohl ihr das Kind anfangs den Genuss selbst geringster Speisenmengen vergällt hatte, schien ihr die Schwangerschaft umso besser zu bekommen, je weiter sie fortschritt: Ihr feuerrotes Haar war noch dichter geworden, die grünen Augen strahlender, die Haut glatt wie Rosenblätter.
»Ein Junge, das wird ein Junge, so wahr mir Gott helfe.« Die Wehmutter rief dies noch vom Wagen herab, als Sinead sie vom Verwalter aus dem nahen Dorf hatte holen lassen. Doch bald legten sich Kummerfalten über ihre Stirn. »Der Knabe liegt falsch in Euch.«
»Ein Mädchen, kein Knabe.« Sineads Hände strichen sanft über den gewölbten Leib. Sie lächelte. »Sie ist wild und ungestüm, wie ich es einmal war. Sie tritt mich mit den Füßchen. Sie ist ungeduldig und will hinaus.«
»Ein Knabe«, beharrte die Wehmutter, ein rundliches Weib mit strähnigem grauen Haar und wichtiger Miene. »Das sieht man auf den ersten Blick. Bei Knaben ist der Bauch spitz, bei einem Mädchen wäre er rund. Außerdem werdet Ihr Euch selbst einen Knaben wünschen, die sind nicht so schwer wie Mädchen, und die Geburt ist leichter.«
»Ein Mädchen.« Sinead sah nicht ein, warum sie der Hebamme recht geben sollte, deren wichtigtuerisches Gehabe ihr jetzt schon zuwider war. Außerdem verbarg die Wehmutter kaum ihre Abneigung gegen die Fremde, die sich anmaßte, nach all den Jahren hier aufzutauchen, um die Herrin zu spielen. Einen Ehemann hatte sie auch nicht vorzuweisen, zwar ging das Gerücht, es gäbe ihn, und König Edward habe ihn ob seiner Verdienste ums Vaterland geadelt, aber es war eben nur ein Gerücht, das im Dorf herumschwirrte, und wer glaubte schon Gerüchten. Außerdem, welcher Ehemann schickte seine hochschwangere Frau in ein fremdes Haus, das er selbst noch nie betreten hatte?
»Gibt es noch etwas, das ich tun kann, damit sie sich dreht?«, fragte Sinead, ohne große Hoffnung, einen praktischen Ratschlag zu erhalten. Sie hatte bereits verschiedene Beschwörungsformeln für eine erfolgreiche Geburt über sich ergehen lassen, ebenso wie einen Vortrag zur Nottaufe. Diese sei erforderlich, falls das Kind tot zur Welt kam. In einem Kauderwelsch, das wohl Latein sein sollte, hatte die Hebamme die Taufformel rezitiert, um gleich darauf zu erklären, einer ungetauften Totgeburt müsse man einen Pfahl durchs Herz treiben - nicht nur, um das Kind damit von der Ursünde zu befreien, sondern vor allem, damit es nicht zurückkehren und den Menschen Leid zufügen könne.
»Unsere Gottesmutter Maria und die heiligen Schutzpatrone Godehard und Norbert werden schon dafür sorgen, dass das Knäblein sich noch in die richtige Lage dreht.« Der belehrende Tonfall der Wehmutter wechselte ins Säuerliche: »Ihr werdet die Heiligen doch angerufen haben? Und warum tragt Ihr das Amulett nicht, das ich Euch zum Schutz für das ungeborene Leben gegeben habe?«
Sinead sah ihr fest in die Augen. »Hör zu. Ich bin wahrlich gottesfürchtig. Aber ich glaube nicht an heidnisches Zeug und habe wirklich genug von deinem frommen Getue und deinem Aberglauben. Ich habe gelernt, dass es am besten ist, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Kein totes Stück Haut und keine Knochen helfen mir, wenn ich in Not bin. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.«
Die Lippen der Wehmutter wurden schmal. Sie setzte gerade zu einer Erwiderung an, als Sinead aufstöhnte und sich zusammenkrümmte.
»Es geht los«, keuchte sie, während der unfassbare Schmerz, der ihren Leib zusammenkrampfte, nur langsam wieder verebbte.
»Gibt es eine Magd, die mir zur Hand gehen kann?« Die Wehmutter blickte demonstrativ an Sinead vorbei zum Fenster.
»Nur einen Knecht«, stöhnte Sinead.
»Kein Mann darf bei einer Geburt anwesend sein«, schimpfte die Hebamme. »Aber er soll Folgendes herbeischaffen: einen Wasserbottich, einen Füllkrug, eine Tonflasche, ein Kupferbecken mit Kamm und Pinsel, ein scharfes Messer und Nähzeug. Und danach soll er eine kräftige Suppe kochen, Ihr werdet sie zur Stärkung brauchen.«
Sineads Leib krümmte sich, und eine neue Woge des Schmerzes erfasste sie. Sie presste den angehaltenen Atem aus und sah die weißen Knöchel ihrer Hände, die sich in das Laken gekrallt hatten. In zwei flachen Schüsseln brannte irgendetwas, vermutlich Kräuter mit zerhackten Innereien gemischt. Der widerlich süßliche Gestank vermischte sich mit dem dünnen Rauch aus dem Kohlebecken. Sinead war speiübel, und das fortwährende Gebrabbel der Wehmutter, die Beschwörungsformeln herunterbetete, machte die Sache nicht besser.
»Wirst du endlich den Mund halten!«, schrie Sinead plötzlich und erschrak sogleich über den eigenen, heftigen Ausbruch. Erschöpft lehnte sie im Sitzen den Rücken gegen die hölzerne Rückwand des Betts. Für einen Augenblick herrschte Stille im Raum, nur das Knistern der Glut im Kohlebecken und das Zischen der Flammen in den Schalen waren zu hören.
»Ihr müsst kräftig und gleichmäßig atmen«, unterbrach die Hebamme schließlich das Schweigen. Sie blickte hämisch auf Sinead herab, die im grauen Kittel kreidebleich mit schmerzverzerrtem, schweißnassem Gesicht auf der Bettstatt hockte.
»Ich bitte dich, hör auf mit dem heidnischen Zeug.« Nach ihrem Aufbrausen klang Sineads Stimme nun fast wie ein Flüstern.
»Es ist kein heidnisches Zeug«, gab die Hebamme schmallippig zurück. »Wie sonst soll sich das Balg noch drehen, wenn nicht mit Beistand von oben.« Störrisch nahm sie ihr Geschwätz wieder auf.
»Sie dreht sich nicht mehr«, stöhnte Sinead. »Ich kann schon die Füßchen spüren, wie sie nach draußen drängen.«
»Ihr hättet einen Bader oder Medicus aufsuchen sollen. So jemand hätte vielleicht das praktische Wissen, wie man ein Kind, das verkehrt herum liegt, von außen mit den Händen dreht. Doch jetzt ist es sowieso zu spät.«
»Es gibt keinen Bader im Umkreis von vierzig Meilen, und man hat mir gesagt, du bist die erfahrene Wehmutter hier!« Sinead kämpfte gleichzeitig gegen die Tränen und die wieder aufsteigende Wut. Fast konnte sie das Gefühl der Hilflosigkeit mit Händen greifen: Es ging um Leben und Tod! Und dieser Person fiel nichts anderes ein, als stinkendes Zeug zu verbrennen und völlig sinnlose Worte aufzusagen. Doch ihre größte Wut richtete sich zu gleichen Teilen gegen Colin und sich selbst. War sie wirklich so naiv gewesen zu glauben, alles würde gut werden, nur weil sie dahin zurückgekehrt war, wo sie geboren war? Wie war es möglich, dass sie die Umstände - all das Unglück - vergessen hatte: Die Mutter bei ihrer Geburt gestorben. Der Vater, ein Hurenbock und Säufer. Auch er tot, ertrunken auf seiner verzweifelten Flucht in seine Heimat Irland. Und Colin? Gab es ein größeres Rätsel als ihre Liebe? Er Engländer, sie Irin. Kein einziges seiner Versprechen hatte er gehalten. Auch er schien ertrunken, doch er hatte den verhängnisvollen Schiffbruch überlebt, ohne dass sie es wusste. Zur Geburt unseres Kindes werde ich bei dir sein - eines seiner vielen Versprechen. Wo bist du?, wollte sie hinausschreien. Aber sie wusste es ja - er war irgendwo unterwegs als Agent des Königs, in welchem Land auch immer, mit einem Auftrag, über den er nie sprechen würde. Nur ein einziges Mal ahnte sie, womit er sich seine Erhebung in den Ritterstand verdient hatte - damals, in Venedig, als sie den Totgeglaubten auf der goldenen Barke des Dogen Francesco Dandolo wiedertraf. Diesen sollte er für Vaterland und Ehre töten.
Die nächste Wehe überrollte sie. Und dann die nächste .
Hatte die Wehmutter während der Nachtstunden ihre Häme über Sineads Schmerzen noch verbergen können, so gelang ihr dies nun nicht mehr. Als hätte das Kind das fahle Morgenlicht gespürt, drängte es mit furchterregender Entschlossenheit aus Sineads Leib. Die Füßchen waren das Erste, was die Hebamme sah, doch alles, was ihr einfiel, war, die Hand vor den Mund zu heben und zu rufen: »O Gott, wenn es sich nur nicht mit der eigenen Nabelschnur erdrosselt!«
Sinead war beinahe blind vor Schmerzen und...
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