Schweitzer Fachinformationen
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Noch ein paar Zentimeter nach hinten. Da ist noch Platz.«
»Bist du dir ganz sicher?« Meine Schwester Theresa lehnt sich aus dem Fenster des VW-Polos, der vor dem riesigen hölzernen Anhänger wie ein Spielzeugauto wirkt. »Es sieht ziemlich knapp aus.«
Anstelle einer Antwort hebe ich die Augenbrauen und winke energisch.
»Na gut, auf deine Verantwortung.« Ihr Kopf verschwindet wieder im Inneren des Fahrzeugs. Wenige Sekunden später bewegt sich der Anhänger in Zeitlupe weiter auf mich zu.
»Noch ein Stückchen . und Stopp!« Der hintere Reifen kommt genau innerhalb des weißen Streifens zum Stehen, der die Grenze unseres Marktstands markiert.
Eine Autotür schlägt zu, und wenige Sekunden später steht Theresa neben mir, betrachtet ihr Werk mit gerunzelter Stirn. »Muss ich nicht noch ein Stück weiter nach vorne?«
»Du stehst super«, sage ich. »Das hätte ich nicht besser hingekriegt.«
Ihre Mundwinkel zucken. »Hast du nicht erst letzte Woche einen Strafzettel fürs Falschparken bekommen?«
»Möglich. Aber das ändert nichts an meiner Aussage.«
Theresa atmet hörbar aus. »Keine Ahnung, wie Mama das immer geschafft hat. Bei ihr sah es so einfach aus.«
»Stimmt.«
Wir schauen einen Moment schweigend auf unseren Verkaufswagen, der in seinem jetzigen Zustand aussieht wie ein großer Lastencontainer aus dunklem Holz.
»Also dann.« Theresa zieht den Reißverschluss ihres Daunenmantels zu. »Lass uns anfangen.«
Ich reiße meinen Blick los und folge ihr zum Kofferraum des VW-Polos. Um uns herum sind die Aufbauarbeiten schon in vollem Gange. Der Falkenhainer Weihnachtsmarkt ist schließlich das Ereignis des Jahres für unser Dorf, das außer malerischer Wanderrouten in die Voralpen und postkartenkitschiger Straßenzüge nicht viel für Touristen zu bieten hat. Am Freitag vor der offiziellen Eröffnung steht die Zufahrtsstraße zum Marktplatz voller Autos, viele davon mit auswärtigen Kennzeichen. Mitarbeiter der Stadt schmücken die große Tanne in der Mitte des Platzes mit Strohsternen und roten Kugeln und befestigen die letzten Lichterketten an der Rathausfassade. Rechts neben uns bringen unsere Nachbarn gerade die ersten Angebotsschilder an ihren Verkaufsständen an.
Ein Anblick, der mir so vertraut ist wie der Geruch von Zimt und Vanillezucker in unserer Backstube. Alles geht seinen gewohnten Gang, so wie jedes Jahr. Als wäre überhaupt nichts passiert.
Wut steigt in mir hoch wie überkochende Milch.
»Was für ein Chaos«, murmele ich. »Bilde ich mir das ein, oder wird es jedes Jahr schlimmer?«
»Sieht für mich aus wie immer«, antwortet Theresa, während sie an der Anhängerkupplung zieht. Mein Blick schweift immer wieder über das geschäftige Treiben um uns herum. Trotz der Hektik wirken die Standbetreiber gelöst, voller Vorfreude auf die Weihnachtssaison. Die Bewohner der alten Fachwerkhäuser rund um den Marktplatz haben bereits Tannenzweige und Lichtersterne in die Fenster gehängt. Über den Dächern der Häuser erheben sich in der Ferne die mächtigen schneebedeckten Bergkuppen der Alpen. Es sieht so verdammt malerisch aus, dass es beinahe schmerzt.
»Erde an Kathi. Willst du dich auch nützlich machen oder nur rumstehen?«
»Was?«
Meine Schwester deutet auf die Anhängerkupplung. »Der Anhänger. Allein kriege ich das Ding nicht abgekoppelt.«
»Oh, sorry.«
Mit vereinten Kräften trennen wir Auto und Anhänger, dann wirft Theresa mir ihren Autoschlüssel zu. »Ich habe für heute genug hinterm Steuer gesessen. Du parkst um.«
»Jawohl, Sir.« Ich salutiere zackig.
Bevor ich allerdings die Fahrertür öffnen kann, kommt ein Jeep mit Münchener Kennzeichen neben uns zum Stehen: »Theresa! Kathi! Wie schön, euch wiederzusehen!« Eine rundliche Frau mit grau melierten Locken zieht die Handbremse an und hüpft aus dem Wagen.
»Hey, Greta!« Theresa geht ihr entgegen und lässt sich umarmen.
Dann kommen die beiden auf mich zu, und Greta breitet die Arme aus. »Komm her, Liebes.«
Für einen Moment möchte ich nichts lieber, als mich in Gretas geöffnete Arme hineinsinken lassen. Mich wieder fühlen wie das kleine Mädchen, das allein über den Weihnachtsmarkt wanderte und bei der netten Dame mit dem Apfelpunsch Zuflucht fand.
Sie war Mamas engste Freundin. Würde sie mich noch umarmen, wenn sie von unserem Streit wüsste?
»Schön, dich zu sehen.« Ich trete einen Schritt zurück und verschränke die Arme vor der Brust. »Wie war die Fahrt?«
Sie lässt die Hände sinken und mustert mich über den dunkelblauen Rand ihrer Brille hinweg. »Du weißt ja, wie das ist. Der Stau aus München raus ist immer ein Albtraum.«
Ich betrachte die Spitzen meiner braunen Winterstiefel und brumme zustimmend.
Als die Stille zu lang wird, antwortet meine Schwester: »Aber jetzt bist du ja hier.«
Gretas Lächeln kehrt zurück. »Genau. Hier und bereit, diese Stadt vier Wochen lang mit erlesenem Alkohol zu versorgen.«
Greta Siebert ist Anfang sechzig und betreibt eine erfolgreiche Weinhandlung am Rand von München in dritter Generation. Aber im Dezember übergibt sie die Ladenleitung an ihren Sohn und verkauft Punsch und Glühwein auf dem Falkenhainer Weihnachtsmarkt, so wie schon ihre Großeltern, die von hier kamen. Mama hat immer gesagt, ohne Greta, die oft auf uns aufgepasst und ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat, hätte sie es vor zwanzig Jahren niemals geschafft, unseren Stand zu eröffnen, frisch geschieden und mit zwei kleinen Kindern.
Als wüsste sie, woran ich gerade denke, verdunkelt sich Gretas Gesicht. »Es tut mir so leid, Kinder. Eure Mutter . Ein Herzinfarkt, einfach so. Ich . ich kann das noch immer nicht wirklich glauben.« Sie greift nach unseren Händen und drückt sie.
Es schnürt mir die Luft ab. »Danke«, würge ich hervor und ziehe die Hand zurück. »Wir auch nicht.«
»Es kam völlig unerwartet. Als ich es vom alten Benno gehört habe, dachte ich erst, jetzt ist er völlig verrückt geworden.« Greta schüttelt den Kopf.
»Wir hätten dir Bescheid sagen sollen«, sagt Theresa. »Aber es gab so viel zu erledigen mit dem Café. Und das Pfarramt konnte uns nur ein sehr enges Zeitfenster für die Beisetzung anbieten.«
Es ist dieselbe Geschichte, die sie seit Wochen erzählt, unseren Nachbarn, den Stammkunden, Mamas Freunden aus dem Ort. Dabei ist es nicht mal die halbe Wahrheit.
Tatsächlich kann ich mich kaum an die Tage direkt nach ihrem Tod im September erinnern. Formulare mussten ausgefüllt, Anrufe bei Ämtern getätigt, ein Sarg bestellt, ein Pfarrer informiert werden. Dazwischen sind große schwarze Lücken in meiner Erinnerung. Tage, an denen ich einfach wie ein Roboter funktioniert habe. Theresas Version klingt besser, einfacher. Deshalb mache ich mir nie die Mühe, sie zu korrigieren.
»Das verstehe ich.« Greta presst die Lippen zusammen. »Macht euch um mich keine Gedanken, Kinder.« Die Anteilnahme in ihrem Blick kriecht mir durch den Mantel direkt unter die Haut. »Wenn ihr irgendetwas braucht, dann meldet euch einfach, ja? Es muss schwer sein heute, so ohne sie.«
Ich wende mich ab. »Entschuldige, aber ich muss noch das Auto umparken.«
»Tut mir leid«, murmelt Theresa hinter mir. »Sie ist gerade einfach .«
Ich höre nicht weiter zu, reiße die Tür auf und starte den Wagen. Von einer schnellen Flucht kann allerdings keine Rede sein, denn der gesamte Marktplatz steht voller Autos. Es dauert eine Weile, bis ich mich durchgeschlängelt habe und einen Parkplatz in einer kleinen Seitengasse finde. Dort stelle ich den Motor ab und lasse mich langsam zurück in den Sitz sinken.
Ich weiß, ich hätte die beiden nicht einfach stehen lassen sollen. Greta will nur nett sein, und Theresa . Für sie ist es genauso schwer wie für mich.
Aber jedes Mal, wenn uns jemand sein Beileid ausspricht, fühle ich mich wie eine Heuchlerin. Niemand weiß, wie Mama und ich auseinandergegangen sind. Nicht mal meine Schwester.
Die Turmuhr des Rathauses schlägt dreimal. In knapp zwei Stunden ist es dunkel. Es ist an der Zeit, mich zusammenzureißen. Ich atme tief durch, setze ein Lächeln auf und steige aus dem Auto.
Als ich wieder an unserem Verkaufswagen ankomme, ist Greta bereits weg. Ich spüre einen Hauch von Erleichterung, dicht gefolgt von einem schlechten Gewissen.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt Theresa in diesem bewusst neutralen Tonfall, den ich bis vor ein paar Wochen nicht kannte. Als wäre ich eine zerbrechliche Vase, die bei der kleinsten Erschütterung in tausend Teile zerspringt.
»Klar.« Ich nicke. »Alles super. Wollen wir jetzt endlich anfangen?«
Ein Grinsen huscht über ihr Gesicht. »Wir fangen an.«
Zuerst öffnen wir die große Holzklappe an der Frontseite des Wagens und befreien sie von Spinnweben, dann bringen wir den holzverkleideten Innenraum des Wagens auf Vordermann. Neben dem kleinen Ofen an der Rückwand, mit dem wir frisch auf dem Markt backen können, befinden sich Regale und Schränke für unsere Backzutaten, auf denen sich seit dem letzten Weihnachtsmarkt der Staub gesammelt hat. Der Innenraum ist gerade groß genug, dass sich zwei Erwachsene darin bewegen können, aber Theresa und ich kennen den Reinigungsablauf so genau, dass wir ihn auch blind durchführen könnten, ohne zusammenzustoßen. Sie beginnt von oben, ich von unten, und gemeinsam arbeiten wir uns mit bunten Putzlappen bewaffnet systematisch...
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