Schweitzer Fachinformationen
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Ascot, Juni 1898
Ein lilafarbener, mit Federn verzierter Hut aus der Zuschauergalerie unter ihm kitzelte seine Nase und versperrte seine Sicht auf die Rennbahn.
Lord Atticus Fitzgerald unterdrückte ein Schnauben und beugte sich zur Seite. Von Jahr zu Jahr ähnelte das aufregendste Ereignis des Sommers mehr einer Modenschau als einem Pferderennen. Egal wohin Atticus blickte, buhlten Meisterwerke der Haute Couture um die größte Aufmerksamkeit. Es schien so, als müsse das Jahrhundert jetzt, da es sich allmählich dem Ende zuneigte, noch einmal so richtig dick auftragen. Frauen in hochtaillierten Kleidern, deren Gesichter unter weiten Hüten verborgen blieben, zierten die Armbeugen ihrer Ehegatten, während sie in ihren Ziegenleder- oder Seidenhandschuhen ergriffen applaudierten und sich von Kellnern mit Champagner verköstigen ließen.
Sie alle waren hier, um zu sehen und gesehen zu werden. Die Crème de la Crème Großbritanniens. Lord Atticus befand sich in einem Schmelztiegel voller Lords, Dukes und ehrenhaften Ladys. Und ein paar wenige nicht ganz so Ehrenhafte, wie er jetzt feststellte. Sein Blick fiel auf die Dame zu seiner Rechten, die Countess of Suthness.
Sie war eine achtunddreißigjährige schottische Adlige und eine Bekannte seiner Frau gewesen. Ihr kupferrotes Haar bildete einen magischen Kontrast zu ihren ozeanblauen Augen. Besonders gefiel ihm der eine gelbe Sprenkel. Schon immer hatte ihn ihre Erscheinung fasziniert.
Gerade donnerte eine Horde Jockeys die Rennbahn entlang, und die Countess stand auf, um ihr Pferd anzufeuern. Atticus schielte zu ihr hoch. Ein Windstoß schmiegte ihr Kleid sanft an ihren Körper. Darunter zeichneten sich äußerst wohlgeformte Kurven ab. Wie er dank seiner Ausschweifungen wusste, reichten die neumodischen Korsagen der Damen bis über die Hüften, und dementsprechend saß Atticus neben einer perfekten Sanduhr. Er schluckte und befeuchtete seine Lippen. Man merkte ihr ihre Vergangenheit nicht mehr an. Eine Frau, nun so anmutig verpackt, die einst in einem Bordell lebte .
Das lag natürlich weit zurück. So weit, dass es geradezu kleingeistig wäre, die Geschichte wieder aufzurollen. Man sagte ihr nach, dass sie sich in bewundernswerter Manier ihren neuen Pflichten hingab und dass sie ihre Bildungslücken sehr rasch aufzufüllen vermochte.
Trotz allem oder gerade deswegen spürte Atticus ein Ziehen in seiner Brust, wenn er sie traf. Im engen Korsett der gesellschaftlichen Konventionen frohlockte das Verderbliche umso mehr. Das war der Grund, warum Atticus aus den gefallenen Frauen ein Geschäft machte. Nicht offiziell natürlich. Er kümmerte sich um sie, half ihnen, eine geachtete Position zu erreichen, und als Gegenleistung kümmerten sie sich in so mancherlei Hinsicht um ihn. Den Aufstieg der Countess hatte er leider verpasst. Allzu gern wäre er ein solches Bündnis mit ihr eingegangen. Nun war sie Mutter dreier Kinder und aufgrund ihrer aufgeschlossenen Ehe nahezu unabhängig.
Mit Schmeicheleien wartete er ihr auf. Sie unterhielten sich gut, lachten und redeten über Belanglosigkeiten und Pferde, bis er sich sicher genug fühlte, das Parkett der trivialen Unterhaltung zu verlassen. »Sie sehen reizend aus, Lady Suthness. Ihr Lebenslauf erinnert mich an eine Märchenfigur. An die Geschichte von Cinderella. Natürlich nicht ganz. Im Gegensatz zum Märchen fehlt Ihnen hierfür ja auch der richtige Prinz.«
Der Übergang war ihr nicht entgangen. Etwas in ihren Gesichtszügen änderte sich. Auch wenn sie die Maskerade der Etikette aufrecht hielt, erkannte er in ihren Augen Verachtung. »Lord Fitzgerald, Sie sind wohl immer für einen albernen Scherz zu haben, wie es scheint.«
»Oh, ich scherze nicht, meine Liebe. Ich sage Ihnen nur geradeheraus, welch tiefe Bewunderung ich für Sie hege. Gewiss gäben wir ein gutes Gespann ab.«
»Das glaube ich weniger«, entgegnete sie unbeeindruckt. »Und noch etwas, Lord Fitzgerald. Ich bin nicht >Ihre Liebe<.«
Nein, das war sie offensichtlich nicht. Atticus hatte sich getäuscht. Sie schien über jede Versuchung erhaben. Es überraschte ihn selbst, wie schnell seine Bewunderung in Verachtung kippte. Eins war klar: Sie würde es noch bereuen, ihn zurückgewiesen zu haben.
London, November 1898
Eine kultiviertere und angesehenere Frau als Christine Pike musste erst geboren werden. Sie gehörte dank ihrer ersten Ehe mit Monsieur Gillard zu den reichsten und durch die zweite Ehe mit Chiefinspector John Pike zu den respektabelsten Frauen, die London zu bieten hatte. Als Grande Dame und Liebling der Gesellschaft zog sie auf magische Weise ihre Mitmenschen in den Bann. Einladungen in ihr Haus am Belgravia Square kamen einer Auszeichnung gleich, und betrat sie den Raum, wurde sie schnell von ihren Bewunderern umzingelt, als hofften ihre Mitmenschen, etwas von ihrem Glanz färbe auf sie ab.
Auch als sie mit ihren Söhnen das Kaufhaus Harrods betrat, blieb sie nicht lange unerkannt. Ihr wachsamer Blick hingegen fiel sofort auf die Maschine, die bis in die erste Etage reichte. Seit Wochen machte das Geschäft ein Geheimnis um dieses Konstrukt, während die Times die Bevölkerung mit wilden Spekulationen fütterte. Heute sollte die große Enthüllung folgen. Einige Damen pressten ihre Taschentücher an die Stirn, und Herren bekundeten ihre Bewunderung. Das Objekt der Stunde war eine mechanisch gesteuerte Treppe, die sich von selbst bewegte! Man musste nichts weiter tun, als sich auf eine Stufe zu stellen und sich von ihr hinauffahren zu lassen.
»Du lieber Himmel«, raunte Christine ihren Jungs zu. »Dieses Konstrukt sieht aus, als würde es direkt aus der Unterwelt stammen.«
»Nicht eher aus einem Roman von Jules Verne?«, ertönte die amüsierte Stimme von Mr. Ellis, dem Geschäftsführer. Sein dicker Bauch, die ewige Gesichtsröte und die stetige, aber sich oft abwechselnde Begleitung einer attraktiven Dame stellten seine hedonistische Veranlagung unter Beweis. Freudig schüttelte er Christines Hand. »Lady Pike. Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben.«
Eine Adlige war Christine zwar nicht, doch die höfliche Anrede galt als selbstverständlich. Früher, als sie Monsieur Gillards Frau war, wurde sie »Madame« genannt, da klang das jetzige »Mrs. Pike« viel zu gewöhnlich. Die Verkäuferinnen, die sie bereits entdeckt hatten und ihre Bestellungen für sie bereithielten, huldigten ihr in ergebener Demut.
»Lady Pike, hier ist die Yardley Gesichtscreme, die Sie so lieben.«
»Lady Pike, in der Confiserie warten bereits die Veilchenpralinen auf Sie.«
»Lady Pike, das perlenbestickte Satintäschchen, welches sie bestellten, ist soeben eingetroffen.«
»Das kann warten, meine Damen.« Mr. Ellis schob Christine mit einem charmanten Lächeln an den Verkäuferinnen vorbei und brachte sie näher zur Rolltreppe. »Das müssen Sie einfach sehen, Lady Pike. Harrods ist weltweit das einzige Geschäft, das eine fahrende Treppe besitzt. Für ein noch aufregenderes Einkaufserlebnis.«
»Ich weiß nicht, Larry.« Tatsächlich spürte sie schon beim Anblick einen leichten Anflug von Schwindel.
»Ach kommen Sie, kommen Sie!« Mr. Ellis drängte Christine weiter, hielt ihre Hand, und auf drei traten sie gemeinsam auf die Stufe.
Christine wusste nicht, ob sie aus Angst oder aus Vergnügen schrie.
»Das, meine Liebe, ist die Zukunft«, sagte Mr. Ellis, während sie nach oben schwebten.
»Oh Larry, Sie verrückter Teufel.«
Oben angekommen, musste Mr. Ellis sie beim Auftritt auf den festen Boden stützen. Ein Kellner empfing sie sogleich mit einem Brandy.
»Der hier ist genau das Richtige für Sie, Lady Pike. Heute geht für jeden Besucher ein Brandy aufs Haus. Als Belohnung für ihren Mut und zur Beruhigung der Nerven.«
»Mit dem größten Vergnügen würde ich einen nehmen«, sagte Christine, ehe sie höflich verneinte. »Aber ich muss auf meine Gesundheit achten. Auf unsere Gesundheit.«
Und hier kam der Grund, warum Christine seit Wochen noch mehr strahlte als sonst. Ein unscheinbares Bäuchlein zeichnete sich unter ihrem marineblauen Nachmittagskostüm ab.
Dem aufmerksamen Mann wäre es schon früher aufgefallen, doch Mr. Ellis' Blick zeugte von Überraschung. »Bei den Göttern, Lady Pike! Herzliche Gratulation.«
Christine strich über den Bauch. Ein Gefühl von Verlegenheit nahm plötzlich Besitz von ihr. »Und das in meinem biblischen Alter, stellen Sie sich vor!«
»Aber ich muss doch sehr bitten. Ihr Alter ist doch nicht biblisch«, widersprach Mr. Ellis ungeachtet der Tatsache. »Die beste Zeit steht Ihnen noch bevor!«
Auch mit vierzig Jahren war sich Christine die Wirksamkeit ihres Dekolletés bewusst. Natürlich würde sie mit Mr. Ellis das Gespräch über die Schwangerschaft nicht weiter vertiefen, denn das sparte sie für ihre Freundinnen auf. Was sie wirklich überraschte, war nicht ihr Alter, sondern dass sie überhaupt schwanger wurde. Denn seit vielen Jahren hieß es, sie sei unfruchtbar. Wenn überhaupt, dann war dies ihre Achillesferse. Darum war sie auch so dankbar, mit ihrem Mann trotzdem vor zehn Jahren eine Familie gegründet zu haben, wenn auch eine zusammengewürfelte. Der fünfzehnjährige Eddie stammte aus der Verbindung ihres Mannes mit seiner ersten Ehefrau. Mit seinen weichen Gesichtszügen glich er seinem Vater, nur den Lockenschopf hatte er von seiner leiblichen Mutter geerbt. Diese lebte aber schon seit vielen Jahren in Indien. Peter war zwölf und der Sohn ihrer verstorbenen Freundin Rosalie. Und nun war tatsächlich ein drittes Kind unterwegs. Eines, das in ihrem Leib heranwuchs. Einfach so.
Gelassen erlaubte sie ihren Söhnen, in der Süßwarenabteilung ihr Taschengeld auszugeben, während sie einige Bekannte entdeckte und sich in Gespräche...
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