Schweitzer Fachinformationen
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Wie ihre gesamte Generation sind Kevin und Arthur geplagt von den Sorgen um die Zukunft des Planeten. Als Studenten der Agrarwissenschaften lernen sie sich bei einer Vorlesung über Würmer kennen, werden bald unzertrennliche Freunde und schwören sich, ihren Beitrag zu einem Leben im Einklang mit der Natur zu leisten - mithilfe der Würmer und zum Wohle derselben. Kevin, Sohn von Landarbeitern, gründet ein Start-up-Unternehmen für Wurmkompostierung und erfährt rasanten Erfolg. Arthur, Pariser Stadtkind, versucht, in der Normandie den von Pestiziden ruinierten Acker seines Großvaters zu regenerieren. Beide Freunde sind überzeugt von ihren Projekten und schrecken nicht vor radikalen Vorgehensweisen zurück, doch die Herausforderungen der Realität stellen ihre Ideale auf eine harte Probe.
Mit feinem Humor und scharfer Beobachtungsgabe macht Gaspard Koenig die Paradoxien unserer heutigen Zeit erfahrbar und spannt den Bogen zwischen anarchischen Gemüsebauern und weltfremden Ministern, zwischen Hightech und Permakultur, Resignation und Gewaltbereitschaft im Zeichen der ökologischen Katastrophe. Ein Roman über die ehrliche Suche nach Lösungen in einer durch Klassen, Bürokratien und Bequemlichkeiten erstarrten Welt.
»Regenwurm ist zunächst kein besonders netter Name, das ist eher eine Kränkung. Besser ist es, vom Lumbricus zu sprechen, um ihm ein wenig wissenschaftliche Würde zurückzugeben. Familie: Lumbricidae. Art: Lumbricus terrestris. Diese Würmer stellen die primäre tierische Biomasse der Erde dar. Anders gesagt, wenn man sie alle auf eine Waage legen würde, dann wären sie schwerer, und zwar bei weitem schwerer als alle Homo sapiens, Elefanten und Ameisen zusammen. Um einen Eindruck der Größenordnung zu geben: Auf einen Hektar kommen zwischen einer und drei Tonnen von ihnen. Jedenfalls wenn man von Böden ausgeht, auf die der Mensch noch nicht seine dreckigen Pfoten gesetzt hat.«
Dieses kurze Video von Professor Marcel Combe, das auf Youtube kursierte, hatte Arthur Lust gemacht, seinen Vortrag zu besuchen. Als er aber den gewaltigen Hörsaal betrat, der so gut wie leer war und sich noch ganz neu anfühlte, und sich zwischen mit Schichtholz verkleideten Wänden wiederfand, die einen »natürlichen« Eindruck erwecken sollten, aber die Glas- und Stahlskelette der Gebäude rundherum nur noch mehr unterstrichen, zudem zwischen Studenten, die in den Sitzreihen verstreut waren und sich gegenseitig keines Blickes würdigten, da verließ Arthur der Mut. So hatte er sich sein Agrarwissenschaftsstudium nicht vorgestellt.
Arthur fragte sich, welche Widersinnigkeiten dazu geführt hatten, den Sitz der AgroParisTech in die Betonwüste des Plateaus von Saclay zu verlegen. Der vorhergehende Jahrgang hatte seine ersten beiden Semester noch auf dem Château de Grignon verbringen dürfen, umgeben von dreihundert Hektar Feldern und Wäldern. Generationen von Studenten hatten hier gelernt, Schafe zu melken und im Unterholz zu vögeln. Stattdessen musste Arthur zwanzigmal am Tag seine Keycard gegen eine Schleuse halten und sich in einem Labyrinth anonymer Gänge zurechtfinden, die sich nur durch die Nummern an den Türen unterschieden. Vor sechs Monaten war er an der Hochschule aufgenommen worden, noch nie in seinem Leben hatte er so selten die Natur gesehen. Draußen zwitscherten nur die Bulldozer, die den Boden aufwühlten. Die Wohnheimzimmer sahen genauso aus wie die Seminarräume und die wiederum glichen Umkleidekabinen im Fitnessstudio. Auf diesem Campus, der alles Nötige versammelte, sparte man gewiss viel Zeit, aber Zeit wofür? Um Pornos zu glotzen, um wieder und wieder an noch besseren chemischen Formeln zu arbeiten? Wer hatte schon Lust, etwas in einer Cafeteria trinken zu gehen, die zweimal am Tag geputzt wurde, oder ein Liedchen in einem Fachschaftsbüro zu singen, das wie ein Goldfischglas auf einem Grünstreifen lag?
Vom ersten Tag an hatte sich Arthur wie im Exil gefühlt. Das Plateau von Saclay, einst einer der fruchtbarsten Böden von ganz Frankreich, war in eine funktionale Wüste verwandelt worden, ein endloses Gewerbegebiet, wo auf den Schildern statt Firmennamen »École polytechnique« oder »Télécom ParisTech« oder »École normale supérieure« stand. Angeblich wurden hier die fähigsten Köpfe Frankreichs versammelt, Studenten wie Wissenschaftler. Aber was wird aus einem fähigen Kopf, der in einem unerbittlich geometrischen Raum gefangen ist, vom fahlen Licht der Neonröhren geblendet wird und sich in einem Wald aus Kränen verliert? Eine atrophische Supermaschine, allzeit bereit, sich mit anderen Supermaschinen zu paaren, um eine Welt aus Supermaschinen zu gebären. War das die Aufgabe, die man den zukünftigen Agraringenieuren der AgroParisTech nun gestellt hatte? Die wichtigsten Vokabeln des landwirtschaftlichen Nachhaltigkeitssprechs zu erlernen, um dann guten Gewissens die Bauernhöfe Frankreichs in solarpaneelgedeckte Fleischfabriken zu verwandeln?
Das Perverseste an dieser Anlage war, dass hier und da ein Tupfer Ländlichkeit eingebracht worden war, wie ein Bedauern. Nachdem er die schier endlose Treppe von der Haltestelle des RER B heraufgekommen war, überraschten den keuchenden Studenten ein kleines Wäldchen sowie eine Fläche voll mit hohem Schilf, dann erst gepflasterte Wege und kurzgeschnittener Rasen. Auf dem Campus selbst bewahrte ein sorgsam eingegrenzter Teich einige Quadratmeter ungezähmter Natur. Rings um einen Miniaturstrand aus Kies hatten sich einige Büschel struppigen Grases gehalten, Binsen streckten ihre gelbbräunlichen Blüten von sich, einige Wasserhahnenfüße trieben auf dem Wasser wie riesenhafte Margeriten. Ein verteufelter Tümpel für den Spaziergänger des Anthropozäns.
Jedenfalls hatte sich Arthur geschworen, dass dieses Exil nur vorübergehend sein würde. Sobald er das Diplom in der Tasche hatte, das die Gesellschaft von ihm verlangte, wäre er weg. Wenn man ihn fragte, welchen Tätigkeitsbereich er für sich nach Abschluss des Studiums ins Auge fasste, antwortete er: »Meinen Garten bestellen.« Das war vage, aber ehrlich.
Arthur stand noch immer vor dem Eingang des Hörsaals und zögerte. Zweifellos hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht, wenn er nicht diesen einen Jungen mit ordentlich gekämmten blonden Haaren und markanten Wangenknochen gesehen hätte. Alles an ihm strahlte Gesundheit und Seelenfrieden aus: sein graues T-Shirt, das einen schmalen und muskulösen Körper erahnen ließ, der noch geschlossene Computer auf dem Tisch vor ihm, seine gelassene Ausstrahlung, mit der er wartete, ohne auf dem Sitz hin und her zu rutschen oder auf dem Handy herumzuspielen. Arthur fand ihn bemerkenswert, klar von der Menge der anderen unterschieden, die fiebrig mit sich selbst beschäftigt waren. Er ging bis zu ihm nach vorne und klappte den Sitz neben ihm runter. Der blonde Junge schob seinen Rechner beiseite, um ihm Platz zu machen, und streckte Arthur umstandslos die Hand entgegen, als wären sie sich am Stand einer Landwirtschaftsmesse begegnet. So viel Spontaneität war ungewöhnlich, selbst unter Studenten. Vor allem unter Studenten.
»Hallo. Kevin. Kevin ohne Akzent auf dem e.«
Lustig, dachte sich Arthur, er sieht gar nicht aus wie ein Kevin, schon gar nicht wie ein Kevin ohne Akzent auf dem e.
Sofort machte er sich wegen dieses dummen Gedankens Vorwürfe und stellte sich seinerseits vor. Kevin lächelte ihn an, ohne etwas zu sagen. Sie klappten beide ihre Rechner auf. Der Vortrag fing bald an. Titel: Fortschritte und Herausforderungen der Lumbrikologie. Lumbrikologie, die Wissenschaft von den Regenwürmern. Mit anderen Worten: Da dieses Referat in keinem Studienplan eine Pflichtveranstaltung war, war der Hörsaal nicht besonders voll.
»Ich hätte vielleicht nicht kommen sollen«, murmelte Arthur, der noch Zweifel hatte. »Ich muss morgen noch was für ein Seminar abgeben.«
»Sag das nicht«, fuhr Kevin dazwischen. »Regenwürmer sind ziemlich cool.«
»Warum das? Weil man sie in kleine Stücke schneiden kann?«
»Nein. Mit solchem Blödsinn bringt man sie um.«
»Warum sind sie dann cool?«
»Sie sind zum Beispiel Hermaphroditen. Kommt bei Tieren nicht oft vor. Das hat mich fasziniert, als ich noch ein Kind war. Männlein und Weiblein gleichzeitig.«
»So gesehen wären ja Schnecken auch .«, sagte Arthur und stand auf.
Zu spät. Marcel Combe, »international anerkannter Experte«, so der Aushang, der den Vortrag ankündigte, trat auf. Arthur setzte sich wieder hin. Warum auch nicht. Der Referent machte ihn neugierig. Er hatte einen wachsbleichen Laboranten erwartet. Da stand aber ein alter Löwe von über achtzig Jahren, mit lockiger Mähne, glasklarem Blick, Boxervisage, breiten Schultern. Er war sehr gut gekleidet. Sein dunkler Anzug ließ ihn wichtig erscheinen. Seine gepunktete Krawatte wurde von einer silbernen Klammer gehalten. Auch die Regenwürmer hatten ihren Jean Gabin.
Professor Combe genoss die Wirkung seines Auftritts. Er ließ einen gleichgültigen Blick durch die spärliche Zuhörerschaft schweifen und vertiefte sich dann in die brandneue Elektronik, die in das schwere Holz des Podiums eingelassen war.
»Donnerwetter! Ihr seid hier aber verwöhnt«, bemerkte er mit rauer Stimme.
Gemurmel im Saal. Studenten von Eliteuniversitäten lieben es insgeheim, wenn man sie an ihre Privilegien erinnert.
»Regenwürmer mussten getötet werden, um diesen Campus zu bauen!«
Stille. Arthur dachte an die Szene aus Sieben Jahre in Tibet, in der die buddhistischen Mönche in Lhasa mit eigenen Händen die Regenwürmer retten, bevor sie die Fundamente eines Gebäudes gießen. Westliche Architekten trafen solche Vorkehrungen nicht. Arthur spähte auf eine Reaktion Kevins, der aber saß aufrecht auf seinem Sitz, die Finger über der Tastatur, bereit für die erste Information, die es sich aufzuschreiben lohnte.
»Ich darf mich vorstellen. Meine Abschlüsse sind schnell aufgezählt, weiter als bis zum Schulabschluss bin ich nicht gekommen. Ich habe als Gärtner angefangen. Ich habe in der Praxis gelernt. Und dann war ich Direktor des INRA, das, wenn ich es richtig verstanden habe, bald hierher, in Ihre Nachbarschaft, umziehen wird. Da wird man ganz besonders hübsche Labore haben und noch weniger Zeit im Gelände, auf den Feldern verbringen können. Entsprechend wird man dann noch mehr Quatsch von sich geben.«
Ein kleiner Schluckauf. Das INRA, das Nationale Institut für agronomische Forschung, war schließlich keine Kleinigkeit. Arthur fragte sich, ob sie es mit einem Wissenschaftsgenie oder einem verrückten Verschwörungstheoretiker zu tun hatten. Kevin wartete immer noch vor seinem Bildschirm, der Strich...
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