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Engel der Geschichte
«Und der dritte Engel blies seine Posaune; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel . Und der dritte Teil der Wasser wurde zu Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern, weil sie bitter geworden waren.» (Offenbarung des Johannes, 8:10-?11)
Die Metallskulptur von Anatoly Haidamaka, die vor dem Kunst- und Museumsort «Sirka Polin» (Wermutstern) in verfallenen Gebäuden der nach der Explosion von 1986 verlassenen Stadt Tschornobyl (Tschernobyl) steht und von der Charkiwer Fotografin Inna Dudnik in einem Moment der Sonnenverfinsterung eingefangen wurde, habe ich als Leit- und Titelbild dieses Buches gewählt. Die Plastik gedenkt der Tausende von «Liquidatoren», die mit Bleimänteln und Schaufeln in die Schlacht geworfen wurden, um mit ihren Händen und Leibern eine noch größere, globale Katastrophe zu verhindern und die Voraussetzung für die Errichtung des «Sarkophags» zu schaffen, der den havarierten Meiler heute umschließt, aber bald mürbe zu werden droht und erneuert werden müsste. Wir stehen hier freilich ganz auf dem Boden menschengemachter Katastrophen, die Menschen dann auch wieder ausbügeln müssen, nicht unter dem Unheils- oder Heilsstern eines göttlichen Jüngsten Gerichts.
Der von Russland entfesselte Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führt die Welt in anderer Weise, oder sogar - wenn man die ständigen Drohungen mit Nuklearwaffen, einer «schmutzigen Bombe» oder einer Havarie im militärisch besetzten AKW-Komplex Saporischschja bedenkt - oder in ganz ähnlicher Weise noch einmal an den Rand einer Katastrophe. Und diejenigen, die sich heute in diese Bresche werfen, freilich nicht als sowjetisch abkommandierte und schlechtinformierte «Liquidatoren» (ein unheilschwangeres Wort in sich), sondern als gut informierte und hoch motivierte Verteidiger ihrer politischen Selbständigkeit und selbstgewählten Lebensform, sind die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten; und es ist die resiliente ukrainische Gesellschaft als ganze, der das Europäische Parlament in einer außergewöhnlichen Geste den Sacharow-Preis 2022 verliehen hat.
Dieses Buch liefert keine aktuelle, sei es optimistisch oder pessimistisch getönte «politische Analyse», die ja, bis sie gedruckt ist, von den Ereignissen schon überholt sein könnte. Es versucht stattdessen, in Form einer historisch informierten, über mehr als drei Jahrzehnte bis zum Umbruch von 1989 zurückgreifenden Langzeitbeobachtung den tieferen Motiven und Gründen sowie den mentalen oder materiellen Bedingungen dieses von Putin als Letztentscheider unprovoziert und uninformiert vom Zaum gebrochenen, an Wahnwitz grenzenden Krieges nachzuspüren.
«Nachdenken über Russland» ist nicht zu verwechseln mit dem zu Recht in Verruf geratenen «Russland Verstehen», das pseudo-realpolitisch oder vage sentimentalisch um «Verständnis» für angeblich unverrückbare «geopolitische Interessen» oder «historische Ansprüche» der putinistischen Moskauer Machtkohorte wirbt. «Nachdenken über Russland» meint eher das Gegenteil: Einen nüchternen, gleichwohl empathischen Versuch zu verstehen oder wenigstens zu explorieren, wie es geschehen konnte, dass sich dieses Land mit all seinen reichen menschlichen und natürlichen Potentialen abermals in einen Malstrom destruktiver und autodestruktiver Gewalt hineinstürzt.
Die Antworten lassen sich in zwei oder drei Thesen nicht zusammenfassen, sondern nur in einer Zusammenschau vieler Faktoren. Ein Faktor, und nicht der unwichtigste, ist die lange und teilweise fatale Verflechtung der Russländischen oder Sowjetischen Imperialgeschichte mit den 1945 katastrophisch an ihr Ende gekommenen deutschen Weltmachtambitionen, wie ich sie in meinem Buch «Der Russland-Komplex» vor Jahren von vielen Seiten her schon beleuchtet habe - ein Nexus, der sich auch in dem hier vorliegenden Buch als ein roter Faden durchzieht.
Es versammelt ältere, neuere und neueste Texte sehr unterschiedlichen Charakters und wählt wieder einen eher reflektierenden und explorierenden Zugang. Fast alle die kurzen oder längeren Arbeiten, auch die aktuellsten, können nur als Momentaufnahmen gelesen werden, auf die sich «Im Widerschein des Kriegs» schon - noch während wir sie aus dem Fixierbad holen - neue Lichtreflexe oder Dunkelzonen einschreiben. Aber die Not des Autors ist ja auch die aller Zeitgenossen, die sich im Andrang der Nachrichten und Fluss der Ereignisse nach bestem Wissen und Gewissen orientieren und entscheiden müssen. Und der Zeitpunkt, an dem diese Texte jeweils geschrieben worden sind, ist selbst von Bedeutung, weil er etwas darüber aussagt, was man in diesem Augenblick schon hatte sehen können oder eben nicht.
Das gilt auch für die längeren historisch-analytischen Texte, die in jüngster Zeit oder erst für dieses Buch verfasst worden sind. Auch wo sie im Tumult des Geschehens lange Linien der Entwicklung und wiederkehrende Strukturen herauszuarbeiten suchen, mal in einer sowjet- und kommunismus-geschichtlichen Perspektive, mal in einer auf die Putin-Ära und ihre Evolutionen konzentrierten Sicht, sind sie Reflexe eines Geschehens, das uns unweigerlich und schon im Moment, da ich dies schreibe, immer Neues lehrt und enthüllt. Erst recht gilt das natürlich für die Texte, die vor längerer Zeit verfasst worden sind oder sich auf Erinnerungen stützen: ob es nun ein erster Besuch im emotional erschütterten Moskau im Frühjahr 1989 war, eine Reise ins Innere Russlands im Sommer 2001, eine Sammelrezension über «Leben, Schreiben und Sterben in Putins Russland» aus dem Jahr 2007 oder mein letzter Besuch bei den Aktivisten von «Memorial» im Mai 2018 zu einer Konferenz, die (für Russland eher ein Novum) den «Lektionen von 1968» gewidmet war.
Diese Mischung macht dieses Buch, wie ich hoffe, nicht nur zu einem interessanten Lesestoff, auch für weniger Eingeweihte. Sondern diese Kombination entspricht auch der Situation unseres «Nachdenkens über Russland», das immer im Fluss ist und bleiben muss, weil überraschende Wendungen sehr wohl möglich oder schon eingetreten sind und der Weg in eine, gar noch nukleare Apokalypse keineswegs vorprogrammiert ist. Putin ist nicht Russland, Russland ist nicht Putin, wie die idiotisierenden Slogans der Regimepropagandisten besagen, weniger noch, als man das früher über den Zaren und sein rechtgläubiges Volk oder über Stalin und das allrussisch-sowjetische Proletariat behauptet hat - deren autokratische Allmacht noch stets an Ohnmacht gegrenzt hat und ganz plötzlich in sich zusammenfallen konnte.
Dieses Buch möchte ich den Moskauer Freundinnen und Freunden von «Memorial» widmen, denen ich das erste Mal im Frühjahr 1989 begegnet bin und die zusammen mit belarussischen und ukrainischen Menschenrechtsaktivisten mit dem Friedensnobelpreis 2022 ausgezeichnet worden sind. Sie stehen, mehr als ihnen selbst vielleicht gerade zumute ist, für Tausende, Zehntausende, Hunderttausende widerständiger, begabter Menschen, die dieses Land in seiner Geschichte immer wieder hervorgebracht hat und die, obwohl oder gerade, weil sie von den Machthabern, deren Speichelleckern und fanatisierten Sklavenseelen ins Abseits gedrängt oder zermalmt worden sind, trotzdem all das geschaffen haben, was wir mit Russland an Positivem verbinden.
Mag sein, dass das eine Hoffnung oder Erwartung ist, die mir als einem Beobachter aus der Ferne überhaupt nicht zusteht. Aber es ist immerhin eine historisch gesättigte Erwartung, die sich darauf stützen kann, dass es für die scheinbar ewige Ohnmacht, Strukturlosigkeit und Zerfallenheit der russländischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert weniger materielle oder mentale Gründe gibt als früher - und dass die durch diesen Krieg ausgelöste Krise und die durch nichts mehr zu camouflierende Niederlage auch eine kathartische Wirkung haben können. Wenn die Ambitionen der Aggressoren frustriert, wenn ihre präpotente Allmacht sich wieder als Ohnmacht erweist, dann fällt denen, die nicht mit den Wölfen geheult und ihren Kopf klar gehalten haben, eine Schlüsselrolle zu. Ob sie sich dem besser gewachsen zeigen als ihre historischen Vorläufer 1917/18 oder 1989/90, ist nicht zu prognostizieren. Aber die Voraussetzungen wären da, und aussuchen oder ausmalen können die, die in große, sehr plötzlich auftretende Umbrüche hineingeschleudert werden, sich das ohnehin nicht.
Der stählerne Engel der Apokalypse von Tschernobyl ruft unweigerlich jenen «Engel der Geschichte» wieder herauf, den Walter Benjamin in seinen posthum berühmt gewordenen Thesen «Über den Begriff der Geschichte» aus dem Jahr 1940 visioniert hatte: Wie er mit aufgerissenen Augen, «das Antlitz der Vergangenheit...
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