Schweitzer Fachinformationen
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Seitdem ich da kurz stehen geblieben bin, zum Innehalten, zum Atmen, zum Kurz-den-Mond-Anschauen, seitdem hab ich das Gefühl, hinter mir ist wer. Einer, der mir nach ist und mich verfolgt. Ich weiß auch, wer, natürlich weiß ich es, sonst hätte ich ja nicht so Angst. Dabei ist es unmöglich, es kann nicht sein, er kann nicht im selben Zug gewesen sein, und mit dem Auto würde er wahrscheinlich immer noch irgendwo bei Rosenheim im Stau stecken. Der Zug, dem ist das Deutsche Eck ja wurscht, der brettert da durch, so schnell darf man mit dem Auto gar nicht. Niemand darf auf der Strecke zwischen Wien und Innsbruck so schnell fahren wie ein Railjet Xpress.
Und meinen Zug, den kann er nicht erwischt haben. Da hätte er ja gleich losrennen müssen und mir nach, als ich raus bin, und das ist er nicht. In seinem Zustand hat der ja gar nicht mehr rennen können. Und ich hatte Glück mit dem Zug. Soll man gar nicht glauben, dass man in so einer Situation Glück hat, aber doch! In letzter Sekunde bin ich rein.
Direkt davor hab ich entschieden. Als ich zum Bahnhof gefahren bin, war mein Plan eigentlich Italien, weil ich immer Italien denk. Italien, wo man ins Meer starren kann. Egal, was ist, die Lösung ist immer Italien. Hauptsache Meer und Hauptsache reinstarren. Und ein Eis.
Aber in Italien, hab ich im letzten Augenblick gedacht, würden sie mich finden. Immerhin hat er mich dort schon oft gefunden. Obwohl ich einmal in Venedig, einmal in Triest, einmal in Rimini war. Hier aber, hier kann er mich nicht finden. Er weiß ja gar nichts von dem Ort. Er weiß, glaub ich, nicht einmal, dass es die Johanna überhaupt gibt.
Ich brauch mich also nicht ständig umdrehen und noch schneller rennen, als ich es eh schon tu. Aber ich muss, weil Bilder in meinem Kopf auftauchen. Ich seh ihn um einen Felsen biegen. Ich seh ihn aus dem Latschenlabyrinth brechen. Manchmal so, wie er immer aussieht, manchmal - und das ist noch viel schlimmer - so, wie ich ihn zurückgelassen hab. So, dass man sich fragt, wie soll der es denn bis hierher schaffen?
Wenn einen die Angst mal hat, dann hängt sie dran an einem, als wär man in ein Spinnennetz gerannt. Spinne immer noch im Nacken, Fäden in den Haaren.
Davor: gar nichts, nicht eine Spur davon. Obwohl es dunkel ist und tiefste Nacht und ich da mutterseelenalleine bin auf weiter Flur. Nichts dabei außer das Handy mit dem zerbrochenen Bildschirm. Dem obendrein der Saft ausgeht.
Kurz hab ich an Wölfe gedacht. Das sagen sie ja, Wölfe soll es geben. Hier sogar viele, wenn man dem Bauernbund glaubt. Der setzt sich nämlich dafür ein, sie erschießen zu dürfen, die Wölfe, im großen Stil. Muss man sich mal vorstellen. Wo doch jeder findet, man muss die Arten schützen und sich freuen, dass es überhaupt wilde Tiere gibt in unserem Land. Aber hier in den Tiroler Bergen ist halt alles anders, hier gibt es ja sogar noch eine Wildnis.
Hab jedenfalls noch keinen Wolf gesehen. Aber ein Geräusch hab ich gehört, weiß nicht, ob das ein Wolf war. Woher soll ich auch wissen, wie ein Wolf klingt? Die werden sich ja nicht wirklich vor den Vollmond stellen und einsam losheulen wie in den Winnetou-Filmen. Außerdem ist gar kein Vollmond. Nur halb ist er, der Mond, und zumindest in den Winnetou-Filmen, die ich kenn, hat sich noch nie ein Wolf für einen Halbmond interessiert.
Ich muss weiter. Wenn ich stehen bleib, holt es mich ein. Also weiter. Schnell. Bergauf. Immer weiter bergauf.
Zeitgefühl hab ich keins mehr. Manchmal ist Wald um mich herum, manchmal Wiese, manchmal Felsen, manchmal Latschen. Manchmal seh ich den Mond, manchmal nicht. Unglaublich, dass ich den Weg erkenne. Hätt ich mir gar nicht zugetraut.
Wenn ich eine Situation gar nicht aushalte, fängt mein Hirn von selbst an, Störungen einzubauen. Wie wenn man die Antenne von einem alten Radio verstellt, und auf einmal rauscht es. Jetzt rauscht da so ein Lied im Loop durch meinen Kopf, und ich kenn den Text zwar nicht gut, aber die wenigen Wörter, die ich kenn, die zisch ich mit, und vielleicht dreh ich mich deswegen nicht mehr ständig um und halluziniere Menschen in die Landschaft hinein.
Als ich über den Grat drüber bin und die Hütte nicht seh, packt mich gleich ein neuer Schreck, bis mir klar wird, dass das der falsche Hang ist, auf den ich da schau. Dass es hier noch weitergeht, dass ich runter und dann noch mal rauf und um den Berg herum muss.
Wenn der Wind nur nicht so wild fauchen würde und mir die Wangen zerschneiden, dann würd ich mich hinsetzen und kurz ein bisschen weinen, aber so trotte ich einfach weiter. Bergab. Das ist viel schwerer, weil der Mond nicht mehr draufscheint auf den Hang, und außerdem ist bergab immer schwerer. Man kann viel besser stolpern.
Wie ich als kleines Kind diese vielen Stunden Berghang geschafft hab! Niemals würd ich eine Sechsjährige da runter- und dann wieder raufjagen. Auch ohne Sturm und ohne Nacht nicht.
Natürlich bin ich verwöhnt und aus Wien, was fast so schlimm ist wie Deutschland. Die Tiroler, die krabbeln da wahrscheinlich schon als Kleinkinder rauf. Ein Weg ohne Klettersteig und ohne Steilhang, das geht schon.
Die Johanna jedenfalls, die hat sich nie beschwert über den Weg. Die hat nie geweint vor Erschöpfung und ist nie getragen worden. Und sie ist ja fast genau gleich alt wie ich und auch aus Wien, nur ist sie halt kein Mensch, sondern irgendein wildes Tier im Körper von einem Menschen.
Als es ein bisschen weniger scharf um mich herum pfeift, fällt mir ein, was als Nächstes kommt. Nämlich ein Wald, durch den ich durchmuss. Schockschwerenot! Das letzte Waldstück ist schon lange her, da war es noch gar nicht richtig dunkel. Und in der Nacht sind im Wald ja bekanntlich nicht nur die Räuber.
Aber noch bin ich nicht dort, und wie hat mir meine Yogalehrerin eingetrichtert: »Immer im Moment bleiben. Nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft.« Und jetzt versteh ich auch, warum. Weil es einen nämlich auf dem Weg von der Gegenwart zur Zukunft gleich noch ein paarmal aufhaut, und damit hat man nicht gerechnet. Dass man ein Loch in der Leggings hat, wenn man da ankommt, wo man sich hingedacht hat.
Spüren tu ich gar nichts, und ob ich blute oder nicht, ist mir auch wurscht. Ganz sicher blut ich jedenfalls am Kopf unter dem Stirnband.
Ich werd ganz schnell durch den Wald rennen, ganz schnell den Weg entlang, nicht rechts schauen und nicht links, weil gegen alles, was da kommt, kann ich mich eh nicht wehren. Oder wie soll ich mich gegen ein Wildschwein wehren? Mit dem Pfefferspray?
Da ist er jetzt, der Wald. Vor mir. Schwarz wie ein Loch in der Landschaft. Und wie ein Traum kommt mir das vor, dass ich da wirklich reingeh.
Mein Handy hat nur mehr ganz wenig Akku, obwohl es, seit ich von zu Hause weg bin, auf Flugmodus geschaltet ist. Zum Glück hab ich es am Bahnhof nicht weggeworfen, wie ich es vorhatte, weil an eine Taschenlampe hab ich natürlich nicht gedacht. Wer braucht denn eine Taschenlampe im schönen Italien?
Die Finsternis ist dick und pelzig, und nur ganz langsam zeichnet sich Verschiedenes darin ab. Gestrüpp. Baumstämme. Aus dichterer Schwärze als die Luft um sie herum. Der Weg selbst ist heller, weil Geröll draufliegt. Das Licht vom Handy schneidet alles aus dem Schwarz.
Nicht rechts schauen, nicht links. Den Kopf einziehen, den Weg anleuchten und durch. Ich kann nur hoffen, dass die Johanna ihn ab und zu benützt und er nicht völlig zugewuchert ist.
Mein Herz klopft, und mein Atem ist so laut, dass ich sonst gar kein Geräusch mitkrieg. Es geht immer noch bergab. Zum Glück hab ich das Handylicht. Ohne würd es mich über jede Wurzel pracken. Sie sind manchmal wie Treppen und manchmal wie Fallen.
Den Bach hör ich, bevor ich ihn seh, weil er lauter rauscht, als ich atme. Früher sind wir darübergesprungen oder -geklettert. Die Oma hat ihre Stiefel ausgezogen und ist barfuß hindurchgewatet, damit ich von Stein zu Stein hüpfen und sie dabei meine Hand halten kann. Johanna hat sich nicht halten lassen. Vielleicht wollte sie nicht, dass der Großvater sie so verächtlich anschaut, wie er mich angeschaut hat. Mir war das damals egal, wie verächtlich er schaut. Solange die Oma dabei war, war es egal.
Ich hab sie nie gefragt, wie kalt das Wasser in dem Bach war. Jetzt, als ich stolpere, vom ersten Stein rutsche und mit einem Schuh im Wasser steh, ist es so klirrend kalt, dass meine Füße taub werden. Der Bach reißt mich fast um. So schnell ich kann, wat ich hindurch. Vielleicht ist er wegen der Schneeschmelze so voll? Früher waren wir immer erst im Hochsommer hier, nachdem das nicht ewige Eis schon längst ins Tal hinunter ist.
Nach ein paar Schritten bin ich drüben, und es geht wieder bergauf. Ich halte mich an Ästen und Baumstämmen fest, als ich nach oben klettre, vom Bach weg, den Pfad entlang.
Das Wasser quatscht bei jedem Schritt in meinen Schuhen. Auch egal. Es ist nicht mehr weit. Nur immer bergauf. Bald ist es geschafft. Aber in meinem Leben war es immer schon so, dass ich jeden Fehler mindestens zweimal gemacht hab. Und den Spruch von der Yogalehrerin, den hab ich halt nicht verinnerlicht. Deswegen denke ich jetzt: So schlimm war es ja gar nicht. Kein Wildschwein, kein Wolf, kein Räuber und nichts. Eigentlich war der Wald viel netter als der verdammte Grat und die Geröllhalde. Da fällt plötzlich mein Handy aus. Einfach so, ohne Vorwarnung steh ich im Finstern.
Im ersten Moment kann ich mich gar nicht bewegen vor Schreck. Stockdunkel. Kein Mond und nichts. Sterne sowieso nicht. Über mir nur das dichte Blattwerk von dem Frühsommerwald. Kein Licht. Und natürlich...
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