Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Am späten Nachmittag spürte er ein Ziehen in den Oberschenkeln. Na klar, diese Muskeln hatte er seit Jahren nicht beansprucht. Der Fahrradsattel fing an, unangenehm zu werden. Aber er musste ja keine Rekorde aufstellen. Er hielt an einer Wegkreuzung unter einer windschiefen Kiefer, betrachtete die Karte. Wenn er Erhards Kritzeleien richtig deutete, gab es ein Stück nach Heiligendamm einen der empfohlenen kleinen Campingplätze. Er sah zu den Wegweisern auf. Die Richtung stimmte. Es konnten höchstens zwei Kilometer sein.
Noch einige hundert Meter an der grünen Kante, links Wiesen, rechts dunstiges Blau. Er hätte diesem schmalen Pfad den Rest seines Lebens folgen können, wäre nicht der Muskelkater gewesen. So war er dankbar, als er das Schild zum Campingplatz entdeckte.
Am Eingang stieg er ab, stand hilflos da, bis der Platzwart aus seinem Häuschen spähte und ihn freundlich heranwinkte.
»Ich kenne mich nicht aus mit Campingplätzen«, sagte Kalle.
»Kein Problem, ist nicht kompliziert, das ist ja das Schöne daran. Sie haben Glück, normalerweise wäre hier um die Zeit kaum ein Plätzchen frei. Aber der Sommer war schlecht, sehr schlecht. Die, die hier waren, sind abgereist. Andere sind gar nicht erst gekommen. Alte Camper halten eine Menge aus, aber das - das war sogar denen zu viel. Und Sie - macht Ihnen das nichts aus?«
»Ich habe nicht darüber nachgedacht«, erklärte Kalle. »Aber - es ist doch wunderschön?« Er schwenkte einen Arm gegen das allgegenwärtige Blau und kam sich gleich albern vor. Als ob man das mit einer Geste erfassen konnte!
Der Platzwart sah mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont. »Ja, jetzt gerade. Das ändert sich bald. Sie sind nicht von hier, oder?«
»Nein. Aus Berlin.« Kalle fragte sich, ob er sich ein Schild auf die Stirn kleben sollte. Es sah aus, als würde er oft gefragt werden. Warum war es so wichtig, wo einer herkam?
»Ach so!«, sagte der Platzwart, als wäre damit alles klar.
Kalle dachte an früher, als Berliner sich mit der Hupe grüßten, wenn sie im Westen aneinander vorbeifuhren und sich am Nummernschild erkannten. Es verband, in einer ummauerten Stadt zu leben. Als seltsam hatte man den anderen gegolten.
Er bekam einen Campingausweis, und weil der Platzwart Zeit hatte, führte er Kalle herum, zeigte ihm die Toiletten, die Dusche und den kleinen Laden und schließlich die Wiese, auf der er sein Zelt aufstellen konnte.
»Aber Sie wissen, wie das geht, ja?«
»Bestimmt.« Kalle war zuversichtlich.
»Na ja. Dann guten Aufenthalt.«
Kalle streckte seine schmerzenden Muskeln, sah sich um. Ein paar Quadratmeter Wiese, umgeben von geduckten Heckenrosenbüschen, auf denen späte rosa Blüten flatterten wie die Möwen im Aufwind.
In diesem himmelwärts strebenden Wind segelte in der Ferne noch etwas Buntes, seltsam Eckiges. Kalle versuchte, gegen die tiefstehende Sonne etwas zu erkennen. Ein Drachen! Irgendwo da unten am Strand ließ ein Kind einen Drachen fliegen. Wann hatte er so etwas das letzte Mal gesehen? Als Junge war er mit seinen Freunden dazu im Herbst auf den Teufelsberg gegangen. Und später - ja, da war er einmal mit Susanna dort gewesen, an eben so einem Junimorgen, dessen Grundgefühl er jetzt zurückerobern wollte.
»Komm, wir nehmen den Drachen mit«, hatte er damals gesagt.
»Drachen lässt man im Herbst steigen«, protestierte Susanna.
»Sag mir einen Grund, warum man das nicht im Juni tun kann? Der Wind ist genau richtig.«
Susanna wusste keinen Grund, und der Wind war tatsächlich genau richtig - für vieles. Die Amseln sangen in den wilden Himbeeren, der Tag und der Sommer begannen erst, und alles war möglich.
Sie hatten ein Picknick mit, er erinnerte sich an den Geruch von Erdbeeren, an den Geschmack von Marmorkuchen und Fassbrause, und dann waren sie über die Wiese gerannt, bis Susannas Zopf sich löste, hatten den Drachen dazu gebracht, oben zu bleiben. Danach lagen sie auf dem Rücken im nassen Gras, lauschten gegenseitig ihrem Atem und sahen auf das gestreifte Viereck nahe unter den Wolken. Blau, grün und gelb waren die Streifen. Wie das Land, durch das er jetzt reiste und das ebenso voller Wind war.
»Was meinst du, wie hoch muss er fliegen, um glücklich zu sein?«, fragte Susanna. »Los, gib ihm mehr Schnur! Das reicht nicht!«
Doch so viel Freiheit schien den Drachen zu erschrecken, denn er stürzte in die Himbeerranken.
Das Gummi, das aus Susannas Zopf gefallen war, hatte Kalle jahrelang in seiner Brieftasche aufgehoben. Es war ein normales Schnipsgummi, kein Haargummi. Mit der Zeit verhärtete es sich zu einem Ring, den er sich einmal nur so an den Finger steckte. Da wusste er schon längst nicht mehr, in welche Stadt Susanna gezogen war. Sie hatte es ihm nie gesagt, nur dass sie mit einem Freund weggehen würde und ihm Glück wünschte. Bald darauf zerfiel der Ring zu Staub, und er schüttelte die Krümel in eine Wiese, auf der Kinder Drachen steigen ließen.
Kalle packte sein Zelt aus, entleerte den Nylonsack, ordnete die Teile. Er breitete ordentlich die schlaffe Plane aus, die eine Kuppel werden sollte, begann, die langen, biegsamen Stangen zusammenzustecken, die ihr Halt geben würden. Anfangs ging das gut, dann schien eine zu wenig da zu sein - oder eine zu viel? Auf einmal sah es aus wie ein Mikadospiel. Im Laden war es doch so einfach gewesen. Jetzt fuhr eine Windböe vom Meer herauf unter die Plane, hob sie mühelos an und trug sie über die Rosenbüsche. Kalle jagte hinterher, hörte ein Lachen. Zwei fröhliche Gesichter tauchten hinter der Hecke auf.
»Brauchen Sie Hilfe?« Ein silberhaariges Ehepaar hielt das Zelt hoch. Kalle zog es dankbar herüber.
»Ich stelle mich ungeschickt an. Es ist das erste Mal.«
»Na, kommen Sie. Zu zweit geht das besser.« Der rundliche Mann stieg über die Büsche. »Ich bin Benedikt.«
»Und ich die Lili«, fügte seine Frau hinzu.
»Kalle.« Er klemmte die Plane unter den Arm und schüttelte Hände. »Haben Sie eine Ahnung, ob hier eine Stange fehlt?«
Benedikt betrachtete das Chaos, das Kalle angerichtet hatte, und bückte sich nach einer Stange, die dicker war als die anderen. »Hier drin«, erklärte er und zog die fehlende aus dem Inneren hervor.
»Sehr praktisch. Man muss es nur wissen«, staunte Kalle.
»Nun fassen Sie mal da drüben die Ecke an und schieben diese Stange durch - so«, dirigierte Benedikt. »Jetzt alles hinlegen und die andere Stange von dort.«
Kalle erschien es wie Zauberei, und doch war es einfach. Die Stangen bekamen Spannung und schon stand die Kuppel.
»Sofort die Heringe einklopfen, sonst fliegt es wieder weg.« Benedikt hob einen Stein auf, schlug die metallenen Stifte durch die Ösen am Zeltboden in die Wiese. »Der Boden hier ist ideal. Auf purem Sand wird es kniffelig. Aber mit etwas Übung bekommt man es hin. So, nun können Sie sich einrichten. Wenn Sie Fragen haben, wir sind nebenan.«
Lili und er zogen sich zurück. Angenehm unaufdringlich, diese Nachbarn auf Zeit.
Kalle schob seinen Rucksack vorsichtig in das Zelt, rollte die neue Isomatte aus und den Schlafsack, mit dem Fußende zum Eingang hin. Er setzte sich darauf, sah sich um in seinem neuen Reich. Beglückte Aufregung erfüllte ihn, eine zitternde Erwartung, ein aufschäumender Triumph. Sein Blick folgte der Krümmung der Kuppel, sah die Öffnung, in der die Welt draußen ein weichgezeichnetes Bild war. Alles schien seinem Traum vom Schneckenhaus erschreckend ähnlich. Hier gab es nichts Unnötiges. Nur ihn, seine Gedanken, die Wörter in seinem Heft und die, die dort noch fehlten. Wundersame Stille, nur Wind- und Wellenrauschen drängte ungeniert durch die offene Zeltklappe und fing sich in der Kuppel.
Wie das Rauschen, das man in einer Muschel hören soll, dachte Kalle. Ob das stimmt?
Er kroch hinaus, zog mit Besitzerstolz den Reißverschluss hinter sich zu und seine Schuhe an. Graue Wolkenschleier hatten sich über das Meer gelegt, aber noch war es nicht dunkel. Kalle wagte sich bis an die Kante der Wiese, stellte fest, dass die Steilküste nicht so hoch war, wie es aus der Ferne gewirkt hatte. Ein paar Meter unter ihm befand sich ein felsiger Streifen Strand, links gab es eine verwitterte Holzstiege. Er kletterte vorsichtig hinunter und zog die Schuhe prompt wieder aus. Den Sand wollte er spüren, das kühle Wasser, welches das sinkende Licht des Himmels widerspiegelte und weiße Zungen nach ihm ausstreckte. Und eine Muschel wollte er finden und horchen, ob darin die Wellen zu hören waren, wie man erzählte.
Niemand außer ihm war hier unten. Er war allein mit der Ahnung von Herbst, die sich mit dem Abendnebel näherte. Kalle konnte sich nicht erinnern, in Berlin jemals irgendwo allein gewesen zu sein. Was für ein grandioses, beängstigendes, erhebendes Gefühl! Ein Stück Strand für sich allein, und sei es nur eine Dämmerung lang, das war etwas, das zweifellos in die eine, große Geschichte gehörte.
Dann sah er, dass andere, wortlose Wesen die Gegenwart mit ihm teilten. Quallen trieben im Wasser, zarte rosa Kreise schimmerten in ihnen. Möwen saßen still auf einer Buhne, den Kopf unter dem Flügel, nur eine davon zog ihn noch einmal hervor und traf Kalles Blick aus gelben Augen.
Das Meer kam ihm entgegen, ohne dass er einen Schritt gemacht hatte, eiskalt das Wasser unter seinen Sohlen. Was für eine klare, sprudelnde Kälte! Sekt von unten. Kalle lief, lauschte dem Platschen seiner Füße, spürte den Sand unter sich nachgeben, rannte in kindlichem Rausch am Flutsaum entlang, bis er auf etwas Hartes trat. Es schimmerte weiß in der Dämmerung. Eine Muschel! Schlicht, so wie Muscheln in seiner Vorstellung...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.