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1999
Thore stand mit anderen Studenten schon vor ihrem Stammlokal, wo sie verabredet waren. Als Carly sich zu der Gruppe gesellte, winkte er sie ein Stück beiseite und legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schultern, wie so oft in den letzten sieben Jahren.
»Carly, es tut mir so leid. Wir bekommen keine Sondergenehmigung mehr. Dein Vertrag läuft Ende des Monats endgültig aus. Du musst dir einen anderen Job suchen. Es wird ja auch Zeit, dass du eine richtige Anstellung bekommst.«
Carly nickte stumm.
Einer der Studenten gestikulierte wild.
»Herr Professor, ich habe eine Frage!«
»Gleich, gleich! Lasst uns erst reingehen, ich habe Durst!« Thore scheuchte seine Herde durch das schmiedeeiserne Tor in den Biergarten.
Carly flüchtete in dem Chaos unbemerkt auf die Toilette.
Eine Überraschung war Thores Nachricht nicht, eher die erwartete Katastrophe, deren sicheres Eintreffen sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. Ihr war schwindelig, als hätten seine Worte den Boden unter ihr verschluckt. Für einen Moment fühlte sie sich wieder sechs Jahre alt und verlassen.
Als Carly ein Kind war, hatte sie gedacht, der Tod wohne unter Tante Alissas Teppich. Sie stellte ihn sich klein, schwarz und struppig, mit gemeinen Augen und einem kahlen Schwanz vor, wie das Plüschtier, das ihr ein wohlmeinender Kollege Tante Alissas einmal mitgebracht hatte. Sie war schreiend davongelaufen und nicht wieder aus ihrem Zimmer gekommen, bis Tante Alissa vor ihrem Fenster das schreckliche Wesen in der Mülltonne entsorgt und einen Stein daraufgelegt hatte.
Mit dem Tod war das nicht so einfach.
Es gehörte zu Carlys Aufgaben im Haushalt, freitags die Teppichfransen mit dem Teppichkamm ordentlich zu glätten. Sie machte das immer zuerst und achtete darauf, dass nirgends eine Lücke blieb, durch die der Tod hinausschlüpfen konnte. Danach trat sie sie fest, indem sie drauf entlanglief, sich möglichst schwer machte und dabei sorgfältig einen Fuß vor den anderen setzte.
Später lernte sie, dass der Tod sich davon nicht einsperren ließ, und noch später, dass er nicht nur dort wohnte. Er steckte in Abständen immer wieder den Kopf in ihr Leben.
Dann kam ihr Studium und mit ihm Thore Sjöberg. Thores Stimme, sein Augenzwinkern und seine himmelstürmenden Gesten verscheuchten für Carly den Tod so nachdrücklich, dass sie ihn und alle Vorsicht vergaß und wirklich zu leben begann.
Und jetzt? Nun, da sich Thores und ihre Wege trennen würden, was würde geschehen? Sie hatte nie darüber nachdenken wollen, aber jetzt, wo es soweit war, hatte sie das Gefühl, dass nichts mehr im Leben sicher war.
Carly seufzte, wischte mit einem feuchten Papier über ihr Gesicht und wagte sich aus dem kühlen Lokal wieder hinaus in den Sommer.
Die Blätter an den Kastanienbäumen winkten die klebrige Julihitze über den Biergarten hinweg. Nur gelegentlich öffnete ein kräftigerer Windstoß eine Lücke. Dann huschte Sonnenlicht über den Kies, ließ die verschiedenen Getränke in den Gläsern aufleuchten und warf für einen Moment einen silbernen Schimmer auf die kurzen dunklen Haare von Thore.
Carly war seit Jahren seine studentische Hilfskraft gewesen. Obwohl ihr Studium bereits abgeschlossen war, hatten sie den Vertrag zweimal verlängern können, weil sie gut eingearbeitet war und sich mit der Planung der Astronomischen Tagung auskannte. Die war nun vorüber und ihre Zeit mit Thore auch. Sie musste sich einen Job suchen, was für frischgebackene Astronomen fast schwieriger war, als einen neuen Kometen zu entdecken. Aber das erschien ihr weniger bedenklich als die Aussicht, nie wieder täglich mit Thore zusammenzuarbeiten. Dieser Schrecken, den sie gerade noch so entschlossen hinuntergeschluckt hatte, breitete sich bei seinem vertrauten Anblick sofort wieder in ihr aus und ließ das Brausen der Hauptstadt und das Stimmengewirr um sie herum zusammenfallen in eine wattedicke Stille, in der sie allein war.
»He, Carly!« Jemand stieß sie in die Seite, so dass sie ihre Apfelschorle auf das rotkarierte Wachstuch verschüttete. Dankbar ließ sich eine Fliege darauf nieder. Wenigstens eine, die sich freute.
»Was?«
»Hast du schon das Poster mit den Messergebnissen fertig? Für die Ausstellung im Planetarium?«, fragte Julius, ein übereifriger Student aus dem zweiten Semester, der es nicht erwarten konnte, dass sein Name an einer Wand hing, egal, wie kleingedruckt er auch war. Carly konnte ihn verstehen; es war noch nicht so lange her, dass es ihr genauso gegangen war. Jetzt waren ganz andere Dinge wichtig.
Sie lächelte ihm beruhigend zu. »Na klar. Ich hänge es morgen auf.«
Sie war noch jünger als Julius gewesen, als sie Thore kennenlernte. Neunzehn. Es war ihr allererster Tag an der Uni. Sie hatte seine Veranstaltung nur gewählt, weil im Verzeichnis stand: »Vorlesung. Von Roten Riesen und Weißen Zwergen. Professor Thore Sjöberg.« Alle anderen Veranstaltungen waren Seminare. Da muss man bestimmt etwas sagen, dachte Carly, aber in einer Vorlesung brauchte man nur zuhören. Für den Anfang erschien ihr das verlockend. Außerdem fand sie den Titel schön. Zwar wusste sie, dass Rote Riesen und Weiße Zwerge bestimmte Stadien im Leben eines Sterns bezeichneten. Aber es klang tröstlich märchenhaft. Noch fühlte sie sich verloren in der weitläufigen Uni. Fremd. Sie suchte ewig nach dem Raum mit der Nummer 114. Doch am Ende fand sie ihn, und bald war es, als führten hier alle Wege zu Thore Sjöberg.
Da Carly zwar gerade noch pünktlich, aber fast als Letzte hereinkam, musste sie sich auf einen der leer gebliebenen Plätze ganz vorne setzen. Offenbar fühlten sich die anderen Erstsemester ebenso unsicher und hatten sich nach hinten verkrümelt. Der Professor fegte direkt nach ihr herein, nahm die Kurve eng und blieb vor der Tafel stehen. Aus dem Stapel Papier, den er unter den Arm geklemmt hatte, segelten einige Seiten neben Carlys linken Fuß und blieben auf dem Boden liegen. Sie hob sie auf und reichte sie ihm.
So begegnete sie schon in der ersten Minute seinem schnellen Lächeln, das fortan zu ihrem Leben gehörte. Mal im Vordergrund, mal hintergründig, aber unverrückbar gegenwärtig wie eine alte Zeichnung an der Wand, die immer wieder durch den neuen Anstrich hindurchschien.
Einen langen Augenblick blieb er stehen und sah Carly nachdenklich an. Ein Moment der Stille entstand zwischen ihnen, schwebte beinahe greifbar im Raum, bis er weiterging. Danach würdigte er sie während seines Vortrags keines Blickes mehr. Warum auch, sie war eine von vielen. Er war eifrig bemüht, diesen vielen die Weißen Zwerge näherzubringen, ihre Oberflächentemperatur und was sie bedeutete. Er langweilte sie nicht mit zu vielen Zahlen, sondern flocht Mythen und Sagen zu den betreffenden Sternen ein.
Es waren aber nicht nur seine Worte, mit welchen er die Studenten dermaßen in Bann zog, dass jeder einzelne kerzengerade auf seinem unbequemen Stuhl saß und lauschte, ohne auch nur einen Blick auf das grüne Frühlingsleuchten vor dem Fenster zu werfen. Es war sein Schritt, seine Art, sich wie ein Tänzer zu der Musik seiner Begeisterung durch den Raum zu bewegen und dabei mit den Armen zu dirigieren, als sei seine Vorlesung ein Schöpfungsakt. Gelegentlich lösten sich seine Schnürsenkel und folgten ihm eine Weile wie zierliche Schlangen ihrem Beschwörer. Dann bückte er sich und band sie zu, ohne in seinem Redefluss auch nur einmal zu stocken.
Als er am Ende der Vorlesung ebenso schwungvoll verschwand, wie er gekommen war, segelten erneut drei Seiten unter Carlys Tisch. Sie lief ihm nach.
»Herr Professor!«
Er blieb kurz stehen, nahm ihr die Zettel ab, ließ ihr noch ein Lächeln da und war schon um die Ecke.
»Wow!«, sagte eine blonde Studentin neben Carly. »Der sieht gut aus, findest du nicht?«
Carly fand, dass er ganz normal aussah. Seine dunklen Haare, die trotz ihrer Kürze an einigen Stellen unordentlich hochstanden, passten nicht zu den skandinavischen Vorfahren, die sein Name vermuten ließ, aber sonst war an seinem Aussehen nichts Außergewöhnliches. Er war nicht ganz einen Kopf größer als Carly, und sein sandfarbener Pullover war ausgeleiert. Seine Augen allerdings, ja, da machte etwas neugierig; sie waren irgendwo zwischen grau und blau, dazu waren je nach Lichteinfall auch grüne Spuren darin und gelegentlich ein Blitzen oder ein Sturm. So musste das Meer aussehen, das sie nur von Bildern her kannte. Das Meer . aber halt, hier durfte sie nicht weiterdenken! Das Tabu, das ihr Tante Alissa von klein auf eingeprägt hatte, galt auf seltsame Art immer noch. Wenn sie es nicht beachtete, wachte möglicherweise der Tod unter dem Teppich auf. Das hatte sie damals geglaubt. Jetzt war es Gewohnheit, Tante Alissa zuliebe.
Thore Sjöbergs Augen jedenfalls konnte man lange ansehen. Irgendetwas an ihm ließ ein stummes Echo in ihr zurück.
In der nächsten Vorlesung drängten sich die Studenten noch dichter. Es gab nicht viele Dozenten, die mit ihrer Begeisterung fürs Thema dermaßen anstecken konnten. Carly wählte diesmal einen Platz weiter hinten, doch als der Professor an ihr vorbeilief, verhielt er kurz, sah ihr in die Augen und fragte: »Kennen wir uns nicht?«
Ehe sie antworten konnte, stand er schon an der Tafel. Später suchte er in seiner Aktentasche herum, fischte schließlich einen Schlüssel aus seinem Jackett und steuerte auf Carly zu.
»Könnten Sie mir wohl ein paar Kopien aus...
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