Schweitzer Fachinformationen
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Die geflickte Bettwäsche lag in einem säuberlichen Stapel zur Abholung bereit. Im Foyer kamen und gingen noch Gäste, doch in die Boutique kam niemand mehr, denn die Ladenschlusszeit war vorüber. Tiryn zögerte. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen und herauszufinden, in welcher Verfassung ihre Mutter heute war. Sie drehte einen Kissenbezug hin und her, den sie nicht mehr hatte flicken können. Wenn man die ausgefransten Kanten abschnitt, bliebe genug weicher, pastellfarben gemusterter Stoff, um ein hübsches Oberteil daraus zu schneidern. Nelson sah es nicht gern, wenn sie selbstgenähte Kleidung verkaufte, weil es die Abrechnungen der Boutique durcheinanderbrachte. Dabei machte Tiryn die Abrechnung selbst, und ihr war noch nie ein Fehler unterlaufen. Sie konnte gut mit Zahlen umgehen. Zahlen waren so angenehm berechenbar! Sie bekamen keine Wutanfälle und sie brachen keine Versprechen. Tiryn half darum auch gelegentlich in der Buchhaltung der Zimmerverwaltung aus.
»Wenn du so weitermachst, vererbe ich dir eines Tages das Hotel«, hatte Nelson einmal nicht ganz scherzhaft gesagt, als sie das Kuddelmuddel einer Vertretung wieder in Ordnung gebracht hatte.
Vorerst hatte er ihr eine Vitrine im Foyer zur Verfügung gestellt, um den Schmuck zu verkaufen, den sie herstellte.
Tiryn genoss die Ruhe im Laden, schnitt zu und nähte und dachte dabei an einen Anhänger, den sie gestern in ihrer Kammer zurechtgeschliffen hatte. Der Schmuck, den sie verkaufte, war für ihr Ostseekonto die größte Einnahme.
Oma Nanaiya, die Mutter ihres indianischen Vaters Sam, hatte ihr die Schmuckherstellung beigebracht, wenn sie in den Wintermonaten zu Besuch war. Nanaiya war Choctaw durch und durch. Ihr Name bedeutete Friedensstifterin, aber auch sie konnte die Ehe von Tiryns Eltern nicht in Ordnung bringen. So lenkte sie Tiryn von ihrem Kummer ab, indem sie ihr indianisches Handwerk beibrachte. Zuerst unterrichtete sie sie im Korbflechten, dann zeigte sie ihr, wie man mit Schmuckdraht und Lederbändern umging, wie man Silber schneiden, biegen und hämmern konnte und wie man Perlen so anordnete, dass sie ein Ganzes ergaben.
»Die Farben müssen sich unterhalten, nicht streiten«, erklärte sie.
Zurzeit waren es mehr die Formen als die Farben, die Tiryn faszinierten. Sie hatte zwischen den Dünen einen Flusslauf entdeckt, in dem sich versteinerte Muscheln und Schneckenhäuser befanden. Man musste sehr genau hinsehen, denn sie waren mit Kalk, Salz und Schlamm verkrustet. Doch wenn man sie vorsichtig bürstete, kamen sie zum Vorschein und begannen zu glänzen. Gerade dadurch, dass sie zum Teil zerbrochen waren und man ihr uraltes Innerstes sah, hatten sie eine interessante schwarzweiße Struktur. In Silber gefasst sahen sie an einem geflochtenen Lederband oder einer Kette großartig, edel und geheimnisvoll aus. In die Vitrine im Foyer hatte Tiryn Sand gehäuft und ihren Schmuck darauf ausgestellt. Das wirkte natürlich und zog die Blicke der Gäste auf sich. Außerdem verlieh es dem Foyer eine gehobene Note.
Das Problem mit dem Flusslauf war, dass sich dort gern Klapperschlangen auf den heißen Steinen sonnten. Oft häuteten sie sich. Ihre durchsichtigen Hüllen mitsamt den Augenhäuten hinterließen sie am Ufer, und diese schuppigen Überbleibsel sahen so lebendig aus, dass Tiryn immer wieder darauf hereinfiel. Mit der Zeit aber wusste sie die lebendigen Schlangen von den leeren Hüllen zu unterscheiden und nahm sich nur noch in Acht, wenn es nötig war. Andererseits hatten die Schlangen den Vorteil, dass sich kaum jemand dorthin wagte und ihr Geheimnis gut aufgehoben war. Niemand machte Tiryn die Beute streitig.
Als das Oberteil fertig war, hatte sie eine Lösung gefunden, welche Fassung für den Anhänger die beste sein würde. Schöne Dinge machten Tiryn glücklich. Das hatte sie sofort bemerkt, damals, als Oma Nanaiya sie das Handwerk gelehrt hatte. Schöne Dinge machten leichter, dass manches um sie herum so hässlich war. Sie hatte es selbst in der Hand und fühlte sich nicht mehr so hilflos.
Jetzt zog sie noch ein Lederbändchen durch den Saum der Bluse und befestigte zwei Muscheln daran. Die Farbe würde Peri gut stehen. Tiryn faltete das Werk, verstaute es in ihrer Tasche und schloss den Laden ab.
»Tschüs, Tiryn!«, rief Debbie vom Tresen her.
Tiryn zog die Schuhe aus. Der abendkühle Sand war angenehm unter ihren Füßen. Sie lief unter den Häusern durch, die auf Stelzen gebaut waren, damit sie nicht geflutet wurden, wenn wieder einmal ein Sturm die hungrigen Zungen des Meeres über den Strand jagte. Früher hatte Tiryn hier gern in den großzügigen Schatten gespielt, während von den Balkons über ihr das Klimpern der Eiswürfel in den Cocktailgläsern der Gäste klang. Auch Schätze fanden sich unter den Häusern, von der Flut in die Strudellöcher um die Pfähle gespült: Treibholz und seltene Muscheln, Samen und Fischknochen ebenso wie verlorene Schlüssel, Sonnenbrillen und Kämme. Ein Tornado oder Hurrikan hob immer wieder das ausgebreitete Leben vom Strand wie ein schmutziges Tischtuch, warf es weg und breitete ein anderes darauf aus. Hinterher war alles neu sortiert, nur um schnell in alte Muster zu fallen, bis sich auf der Wetterkarte erneut die bedrohlichen Kreise näherten, mit deren Folgen man sich hier arrangiert hatte.
In der Ferne rutschte die Sonne unter einer grauen Wolkenbank hervor. Wie ein Echo warf der Sand ein unwirkliches rotes Licht zurück. Moskitos summten in Tiryns Ohren. Unwillig schlug sie nach ihnen und war so abgelenkt, dass sie an der nächsten Hausecke fast mit einer schlanken Gestalt zusammengeprallt wäre, die ihr singend und mit einer vollen Einkaufstüte im Arm entgegenkam.
»Tiryn! Gut, dass ich dich treffe!«
»Peri! Ja, das ist gut, ich hab was für dich!«
Doch Peri hörte nicht zu. Sie stellte die Tüte in den Sand, packte Tiryn an beiden Händen und drehte sich mit ihr im Kreis.
»Stell dir vor, was passiert ist! Du bist die Erste, die es erfährt!«
Hinter ihr fiel die Tüte um und streute Orangen zwischen vertrockneten Seetang. Der Geruch von Schokoladenmuffins stieg in Tiryns Nase. Ihr Magen knurrte vernehmlich.
»Kann ich einen Muffin haben?«, fragte sie.
»Muffin! Dies ist ein feierlicher Moment, und du denkst an Schokoladenmuffins! Stell dir vor, Joey und ich werden heiraten. Im September!«
»Herzlichen Glückwunsch.« Tiryn war nicht überrascht. Sie versuchte, sich für die Freundin zu freuen, aber bei dem Thema Heiraten stieg aus ihrem Magen grundsätzlich Unbehagen auf. Für Peri musste sie jetzt das Beste hoffen. Joey war ein fröhlicher, anständiger Kerl, den man einfach gern haben musste. Sicher würde alles gutgehen. »Ganz herzlichen Glückwunsch, Peri, alles, alles Gute!«, wiederholte Tiryn mit mehr Überzeugung und umarmte die Freundin fest.
»Ich weiß, was du vom Heiraten hältst. Aber für mich ist es richtig! Ich bin mir sicher.« Peri legte Tiryn die Hände auf die Schultern und sah sie ernst an. In ihren dunklen Augen lag ein tiefes, altes Wissen, das Tiryn dort nicht zum ersten Mal sah. Wie bei Oma Nanaiya. Das Wissen jener, die in ihrer Kultur und ihrem Land und in sich selbst ganz zu Hause sind.
Anders als sie selbst.
»Hier.« Tiryn kramte in ihrer Tasche. »Ein Verlobungsgeschenk! Wusste ich nur vorhin noch nicht.«
Während Peri sich strahlend das Oberteil anhielt und dabei wieder in Tanzschritte fiel, mopste Tiryn einen Muffin. Sie schmeckte der bittersüßen Schokolade nach und wünschte sich etwas von Peris Leichtigkeit. Peri war nach einer Blume benannt, nach den immergrünen Periwinkles mit den blauen Blüten, aber sie war eher ein Schmetterling, der sich in allen Lebenslagen von einem heiteren Aufwind tragen ließ.
»Du wirst doch meine Trauzeugin sein?« Peri blieb vor Tiryn stehen und griff sich auch einen Muffin. Tiryns Zögern entging ihr nicht. »Ja, ja, du hast eine Heiratsallergie«, sagte sie undeutlich um den Kuchen herum. »Aber für mich machst du es doch trotzdem, oder? Es wird alles gut. Ich verspreche es dir.«
Nun, versprechen konnte man so etwas nicht; und nicht alles würde gut werden, aber für Peri und Joey wahrscheinlich schon. Tiryn fühlte sich leichter. Ein unbeschwertes Fest würde allen guttun.
»Klar. Versprochen!«
Peri betrachtete das neue Oberteil. »Das ist sooo schön! Kannst du mir nicht einen passenden Rock nähen, dann habe ich gleich ein Hochzeitskleid?«
»Aus einem alten Bettbezug? Bist du verrückt?« Tiryn hockte sich hin und zeichnete in den Sand. »Ein Hochzeitskleid für dich müsste so aussehen . und so . Es müsste von Wind und Sonne und Sternen erzählen, vom Tanzen und vom Lachen - von dir eben.«
Den ganzen Weg nach Hause huschten Ideen zu dem Kleid durch ihren Kopf wie glänzende Kolibris. Ein sanftes, aber schimmerndes Gelb, eher irgendwo zwischen Gelb und Champagnerfarben - das würde zu Peris Persönlichkeit passen. Oder doch Apricot? Wadenlang und schwingend, aber schlicht. An den Ärmeln dezent gestickte traditionelle Muster, Symbole des Glücks, grün . und echte Blüten im Haar natürlich, Bougainvillea oder Frangipani? Nein, Orangenblüten, das passte besser!
Es war fast dunkel, als sie an den Häusern der Angestellten ankam. Sie lagen hinten, am weitesten weg vom Meer. In der Wohnung brannte kein Licht. Das war kein gutes Zeichen, aber auch nicht das schlechteste.
Sie öffnete leise die Tür.
»Lara?« Ihre Mutter hatte ihr nie erlaubt, sie anders als bei ihrem Namen zu nennen. Es störte Tiryn längst...
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