Schweitzer Fachinformationen
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Das Krankenhaus von Valparaiso lag in entgegengesetzter Richtung zum Strand. Faber widerstand der Verlockung, ans Meer auszuweichen oder doch zumindest mit einem der zahlreichen Ascensores, den Standseilbahnen, in die höher gelegenen Stadtteile hinaufzufahren und von den Aussichtsplattformen die unendliche Weite auf sich wirken zu lassen.
Ein langer, dunkler Korridor öffnete sich ihm, als er mit trockener Kehle im dritten Stockwerk des Hospitals aus dem Aufzug trat. Das Linoleum des Fußbodens war an unzähligen Stellen bis auf den Estrich abgeschabt. Putz rieselte von den feuchten Wänden wie schmutziger Schnee. Im fiebrigen Halbdunkel der Notausgang-Schilder die langen Reihen der Betten beiderseits des Ganges. Ein Wartesaal des Todes.
Faber zog seine Kamera und machte ein paar Aufnahmen. An Krankenhäuser war er ebenso gewöhnt wie an das Antlitz des Todes, und doch hatte jedes Haus seine eigene Poesie. Er hatte wohl mehr Menschen sterben sehen als jede dieser Schwestern hier. Sogar mehr, als ein Mensch überhaupt sehen sollte. Aber diese Tode hatten nichts mit dem zu tun, weshalb er hier war. Kriege waren bis zu einem gewissen Punkt abstrakt. Niemand, der es nicht am eigenen Leib erlebt hatte, konnte sich vorstellen, wie es war, mitten in einem überhitzten Inferno aus Waffengebell, Rotorenlärm und brennenden Hütten zu stecken. Gebrüllte Befehle in unvertrauten Sprachen, das trockene Husten der Maschinengewehre, Schreie, explodierende Jeeps, Granaten. Und dazwischen die Sanitäter und Fotografen mit ihren blauen UN-Leibchen.
Eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile war eins von Fabers Lieblingszitaten, an das er sich vor allem dann erinnert hatte, wenn er in Kriegszeiten abends noch mit seinen Kollegen an der Bar saß. Es stammte aus Baudelaires Die Blumen des Bösen. Er hatte es von einem alten Hasen übernommen, kannte aber im Gegensatz zu diesem auch den Zusammenhang, aus dem es stammte:
Bitteres Wissen, das man von der Reise mitbringt! Die Welt eintönig, eng und klein, heut, gestern, morgen, immer zeigt sie uns unser Bild: Eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile!
Niemand kann sich ein solches Chaos für sein Leben vorstellen, und wenn es dann hereinbricht, ist es genau der Albtraum, den man nie erleben wollte, und er wird doch schnell zur alles überlagernden Normalität.
Soll man fortgehen? Bleiben? Bleib, wenn du bleiben kannst; geh, wenn du gehen musst. Der eine rennt, der andere hockt sich in den Winkel, um den wachsamen, verhängnisvollen Feind zu täuschen: die Zeit!
Faber kannte sich mit derlei schwer verdaulichen Kriegssituationen aus. Morgens noch saß er auf dem friedlichen Münchner Flughafen, abends die Salven der Kalaschnikows, die die Luft erfüllten, die Kampfpanzer, verbranntes Land, umherirrende Menschen. Tote ohne Kopf, Sterbende ohne Beine, Landminen, überforderte Blauhelme, das Grauen.
Ständig weiter fotografierend, betrat Faber durch eine Schleuse den Bereich, den kaum ein Patient lebend wieder verließ. In diesem Krieg trugen die Blauhelme Schwesterntracht. Einer dieser neutralen Geister des Krankenhauses verpasste ihm einen Kittel und einen Mundschutz, gerade so, als könnten irgendwelche Erreger oder Viren Inka jetzt noch schaden.
An der Wand des Schwesternzimmers hing ein hoher Spiegel. So kurz vor der Begegnung mit dem Tod erschien Faber die Person, die ihn daraus anschaute, seltsam fremd. Wer war dieser Mann mit den zwei schweren Kameragehäusen um den Hals? Nur mittelgroß, aber immer noch ein bis zwei Köpfe größer als alle Schwestern auf der Station. Schlank und einigermaßen stolz darauf, mit neunundvierzig noch eine derart durchtrainierte Figur zu besitzen. Aber das schwarze Haar ergraute bereits und die Geheimratsecken wurden von Jahr zu Jahr ausgeprägter. Er trug ein Kapuzenshirt mit der Aufschrift Ich werde nicht in diesem Flugzeug sein, das viele für eine Anspielung auf 9/11 hielten. In Wirklichkeit war es ein Filmzitat aus Casablanca.
Faber betrachtete sich genauer. Schwarze Augen, dunkler Teint, eher ein südländischer Typ. Augenbrauen, um deren Wuchs er sich nicht kümmerte, schmale Lippen, die Mundwinkel weder nach oben zeigend noch nach unten hängend und so etwas wie einen Dreitagebart, obwohl er sich erst vor Tagesanbruch glatt rasiert hatte. Eine Sonnenbrille baumelte, von einem elastischen Band gehalten, auf seiner Brust. Aus einer der Brusttaschen seiner beigen Funktionsjacke ragte der Schirm einer Kappe heraus. Er trug einen Rucksack.
Die Schwester sah zu Faber auf. Anstatt etwas zu sagen, machte er schnell einige Aufnahmen von ihr. Wie alt mochte sie sein? Faber betrachtete sie in dem großen Display der Nikon - eigentlich hatte sie ein hübsches Gesicht. Etwas grob vielleicht und die Augen standen zu nah beieinander, dafür hatte sie ein warmes Lächeln, das nie von ihrem Gesicht zu verschwinden schien, selbst wenn sie, wie in diesem Augenblick, auf das Fotografiertwerden ärgerlich reagierte.
»Don't«, sagte sie knapp. »No photo!«
Er blickte über den Rand der Kamera, der Schwester direkt in die Augen. Etwas unbeholfen aber freundlich nickte er ihr zu.
Zögerlich nahm er die letzten Meter in Angriff. Eine Ecke, ein kurzes Stück den Flur hinunter, nochmals eine Linkskehre, und da hockte sie, in stiller Trauer vereint, die Familie der Sterbenden. Drei Erwachsene und fünf Kinder. Die Älteren saßen gedankenverloren auf harten, einfachen Stühlen. Inkas Schwiegervater schien zu beten, während die Kinder Karten spielten und dabei ganz vergnügt wirkten. Liebend gern hätte Faber sich jetzt zu ihnen gesetzt und einen Kartentrick vorgeführt, den einzigen, den er beherrschte - ein russischer Soldat hatte ihn ihm während des Kriegs in Tschetschenien beigebracht. Er war sich sicher, dass die Kinder den Trick lieben würden, und er könnte in ihre erstaunten Gesichter blicken, mit ihnen lachen und dann zum Höhepunkt der Vorstellung sich selbst aus diesem Gebäude wegzaubern. Aus der Stadt, aus dem Land, weit weg, dorthin, wo niemand ihn finden würde und niemand etwas von ihm erwartete.
Riella, Inkas Schwiegermutter, erkannte ihn trotz des grünen Kittels und des albernen Mundschutzes sofort. Sie sprang schneller auf, als es ihre Figur erwarten ließ, und kam mit trippelnden Schritten auf ihn zu. Eine füllige Frau, mit stiftkurzem Haar und Lachfalten um die Augen. Faber schätzte sie auf Anfang sechzig. Fast rannte sie in ihn hinein, ignorierte die Kamera vor Fabers Auge und presste ihren Körper so fest an den seinen, als sei ausgerechnet er die verheißene Rettung. In diesem Augenblick war er froh, mindestens zwei Köpfe größer zu sein. Steif blieb er stehen und versuchte gar nicht erst, sich ihrer Herzlichkeit zu entziehen, sah sich aber auch nicht in der Lage, sie zu erwidern. Sein unbeholfenes Lächeln blieb wegen des Mundschutzes unentdeckt.
So wie Faber sich bislang der Familie gegenüber verhalten hatte, musste sie sicher sein, dass er kein Wort Spanisch verstand. Wohl deshalb hatten sie den Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, längst eingestellt. Riella war auf seiner Seite, ganz im Gegensatz zu den beiden Männern mit den grauen Gesichtern, die jetzt aufgestanden waren, um ihm wenigstens die Hand zu schütteln. Er wusste es aus den Gesprächen der Chilenen untereinander, die er bei seinem ersten Besuch belauscht hatte. Es waren wenige Sätze gewesen, die er damals aufgeschnappt hatte, aber sie hatten genügt, um ihm die Ablehnung der kleinwüchsigen Männer unmissverständlich deutlich zu machen. Faber wusste nicht, was sie gegen ihn hatten, aber sie ließen ihn in Ruhe, und mehr wollte er nicht. Sie begrüßten ihn kurz und setzten sich wieder hin.
Riella zog ihn an der Sitzgruppe vorbei und öffnete die Tür zu Inkas Zimmer. Auf dem Linoleum davor standen einige Vasen mit spärlichen Blumensträußen, einer davon stammte von Faber. Er hatte ihn am ersten Tag mitgebracht. Jetzt ließen die Blumen ihre Köpfe hängen.
Faber verschaffte sich noch einen letzten Aufschub, indem er den Kindern freundlich zuwinkte, zögerte noch einmal und trat dann ein, während die Tür hinter ihm leise ins Schloss fiel. Starr vor Angst drückte er sich mit dem Rücken an die Wand und schoss ein paar Bilder.
In Isla Negra, südlich von Valparaiso, waren Faber und Inka sich das erste Mal wieder begegnet. In einem der vier Häuser von Chiles berühmtestem Dichter Pablo Neruda, in dem heute ein Museum untergebracht war. Faber hätte den Auftrag der Zeitschrift normalerweise abgelehnt. Tausende äußerst seltener Bücher ins Bild zu setzen, die Pablo Neruda im Laufe eines Lebens als leidenschaftlicher Sammler zusammengetragen hatte. Wenn es nicht die zeitliche Überschneidung mit Inkas Anruf gegeben hätte.
Er hatte nicht einmal geahnt, wer am Apparat war. In einem Eisenbahnwaggon hatte er gehockt, daran erinnerte er sich immerhin noch. Aber ob in Thailand, Kerala, auf dem Weg nach Lhasa oder irgendwo sonst in Asien, das wusste er nicht mehr. Er war so bestürzt gewesen, dass er den Hörer weit von sich gehalten hatte, als könne er damit das Schicksal noch einmal abwenden. Stammelnd suchte er das Gespräch zu beenden, um die Kontaktaufnahme gleich im Keim zu ersticken, während sie ihm vom Ausbruch ihrer Krankheit erzählte. So war sie schon immer gewesen: direkt, klar, gradlinig, ohne Umwege auf ihr Ziel zusteuernd.
»Anfangs glaubte ich noch, mich hätte eine schwere Grippe erwischt. Ich fühlte...
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