Schweitzer Fachinformationen
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»Because maybe You're gonna be the one that saves me« Oasis
2000
Ich schaute aus dem Fenster. Draußen verabschiedete sich ein herrlicher Sommertag mit einem beeindruckenden Farbenspiel. Rot, gelb, violett. Streulicht färbte die Dämmerung. Tage schienen zu Wochen anzuwachsen, seit mein Leben einem neuen Rhythmus unterlag, Minuten dehnten sich zu Stunden. Ich stellte die Tasse in die Spüle und fügte den Kreidestrichen auf der Schiefertafel einen weiteren hinzu. Das folkloristische Accessoire, von dem mir die ersten elf Tage meines neuen Lebens entgegensprangen, diente normalerweise dazu, Einkaufslisten oder Botschaften an die Hausgemeinschaft zu erstellen.
»Urlaub«, antwortete ich betont schmallippig, wenn ich zu den Strichen befragt wurde. »Eine Auszeit. Den Akku aufladen. Kraft tanken.«
Ein Geräusch in meinem Rücken riss mich aus meiner Melancholie. Maximilian. Fünfzehn, in fünf Monaten sechzehn Jahre alt. Einen Meter fünfundachtzig groß, wuscheliges braunes Haar, spitze Nase, schön geformte Augenpartie und eine für meinen Geschmack viel zu große Brille. Der Junge öffnete den Kühlschrank, setzte sich die Milchflasche an die Lippen und trank in langen Zügen.
»Nimm bitte ein Glas, Maximilian. Vielleicht wollen andere auch noch von der Milch trinken.« Ich hasste Milch. Schon von Kindheit an. Würde sie allenfalls kurz vor dem Verdursten anrühren. »Hast du Hunger? Ich kann uns was kochen.« Ich sah durch das Loft hinüber zur Bahnhofsuhr über dem Aufzug. »Es ist schon neun. Dana wird sich verspäten.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Keinen Hunger.«
»Na schön, dann mache ich uns nur einen Salat. Ist das okay? Setz dich zu mir, es dauert nicht lange. Wie war es heute in der Küche?«
»Nichts Besonderes.« Er sah nicht mich an, sondern vor sich auf den Boden.
»Was heißt das?«
»Alles wie immer. Gemüse putzen, den Köchen ihren Müll hinterherräumen. So'n beknacktes Zeug eben.« Immer noch sah er mich beim Reden nicht an. Stand einfach nur da. Kopf gesenkt, die Arme kraftlos neben dem Körper baumelnd wie Gummischläuche.
»Tja, mein Sohn, hättest du die Schule nicht abgebrochen . Lassen wir das. Sei froh, dass du nur bis nachmittags arbeitest und nicht auch noch abends ranmusst.«
»Ich bin fünfzehn.«
»Drohst du mir mit der Gewerkschaft?«
Eine erste Reaktion, er lächelte, immerhin. Nicht übel.
»Gute Idee«, sagte er und zog die Brille ab, um die Gläser mit dem Saum seines T-Shirts zu putzen. »Die Arbeit ist ultrakrass. Kannst du ruhig mal zugeben.«
»Du weißt gar nicht, wie gut du es hast, hier im Cookys arbeiten zu können. Frag mal deine Kollegen in der Berufsschule, wie es in einer Großküche zugeht. Trotz Gemüseputzens und anderer von dir als nieder eingestufter Arbeiten stehst du auf der Sonnenseite des Berufs, mein Freund. Und vor allem: du hast eine Perspektive.«
Wie immer, wenn er keine Lust mehr auf ein Gespräch hatte - und das konnte, wie ich inzwischen gelernt hatte, aus dem Nichts kommen -, verzog sich mein Sohn ohne ein weiteres Wort. So langsam gewöhnte ich mich an sein Verhalten.
In seinen ungeschnürten Chucks und den tief sitzenden Hosen schlurfte er hinüber zum Wohnbereich. Die Milchflasche nahm er mit. Er hockte sich auf die Kante des Ledersofas, stülpte sich die riesigen Muscheln meines alten Kopfhörers über die Ohren und versenkte sich in seine Lektüre. Auf dem Cover des letzten Buches war die Zeichnung eines Jungen mit Nickelbrille vor einem kollabierenden Schachbrett gewesen. Dieses zeigte denselben Jungen und einen bunten Drachen im Hintergrund. Maximilian las beim Warten an der Bushaltestelle, beim Musikhören, ja sogar während er am Telefon mit seiner Mutter sprach. Ich vermutete, dass er es aus purer Langeweile tat, auf diese Weise der Welt zu entkommen suchte. Thematisieren wollte ich es nicht. Während unserer gemeinsamen Zeit sollte der Junge in den Genuss kommen, abseits seiner Pflichten tun zu können, wonach ihm der Sinn stand. Lesen, Computer spielen, Musik hören, abhängen. Ich wollte ihm unbedingt mehr Freiheiten lassen als seine Mutter, die einfach alles zu kontrollieren versuchte. Da beide mit einem unglaublichen Dickkopf gesegnet waren, lag darin meiner Meinung nach die Ursache dafür, dass sie augenblicklich nicht miteinander klarkamen. Neben dem Umstand, dass er die Schule geschmissen hatte und nun bei mir, besser gesagt bei Enrique, in die Lehre ging. Und deshalb auch seit sieben Wochen bei mir wohnte.
Leicht war das nicht. Eine Ausnahmesituation für uns beide. Schließlich hatten wir uns, bevor der Junge bei mir einzog, nie länger als einen Tag am Stück gesehen. Im Gegensatz zu anderen getrennt lebenden Paaren gab es bei Natalie und mir keine fest eingeplanten Vater-Sohn-Wochenenden oder gemeinsame Ferien. Während seiner ersten Lebensjahre hatte ich den Jungen so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Später waren meine diesbezüglichen Bemühungen ebenfalls kaum von Erfolg gekrönt gewesen. Und irgendwann hatte ich sie eingestellt. Kein Wunder also, dass ich absolut keinen Plan davon hatte, was man mit Teenagern in seinem Alter anfangen sollte. In den Momenten, in denen ich mich an meine eigene Pubertät erinnerte, hätte ich ihn ohnehin am liebsten gleich wieder weggeschickt.
Natürlich war ich auch ein bisschen stolz, dass der Junge sich entschlossen hatte, bei mir zu wohnen. Etwas zu sehr vielleicht, denn ich hatte vergessen, nach dem Warum zu fragen. Auch warum er ausgerechnet Koch werden wollte, war mir bislang verborgen geblieben. Laut Enrique tat er in der Küche genau, was man ihm sagte, ließ darüber hinaus aber jedes Engagement vermissen, außer, dass er alle Köche mit seinem ständigen Hinterfragen nervte. Etwas von einem erfahrenen Koch einfach anzunehmen, schien ihm gar nicht in den Sinn zu kommen. Immerhin erledigte er die ihm auferlegten Arbeiten korrekt und, wie allgemein bestätigt wurde, sogar mit einigem Geschick.
Was ich sonst noch an meinem Sohn festgestellt hatte: Er mochte keine Rockmusik. Erst recht keinen Pop (positiv) oder Jazz (eher nicht positiv), sondern hörte etwas, das man Gangster-Rap nannte und das ich grausam fand. Was aber viel schwerer wog: Maximilian hasste Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen. Bestünden die Regeln noch, die meine alte Crew und ich zu Anfang unserer Zusammenarbeit aufgestellt hatten, hätte er gar nicht im Cookys kochen dürfen.
Es hätte mir gefallen, wenn mein Sohn etwas mehr nach seinem Vater gekommen wäre.
Seit sieben Wochen lebten wir nun schon nebeneinanderher. Gemeinsamkeiten? Bislang Fehlanzeige. Bis auf einen gemeinsamen Kinobesuch hatten wir nichts zusammen unternommen. Maximilian hatte den Film ausgesucht. Irgendwas über ein Mathegenie. Zwanzig Minuten nach Beginn der Vorstellung schlief ich tief und fest.
Dass sich Maximilian jetzt allerdings über eine Tüte Chips hermachte, wo er doch angeblich kein Hunger hatte, ärgerte mich. In meiner Welt war kein Platz für Junkfood. Eigentlich waren Salzgebäck, minderwertige Schokoladen oder Tiefkühlkost alles, wogegen ich kämpfte.
Trotzdem hielt ich an meinem Vorhaben fest und begann Salat zu putzen. Etwas Rucola, einige Blätter Eichblattsalat, Endivien, etwas Batavia-Salat. Im Kühlschrank waren noch marinierte Kartoffelscheiben. Zwei pralle, sonnengereifte Tomaten aus dem Cookys-eigenen Garten, wachsweich gekochte Eier, ein paar blanchierte Bohnen, gehäutete Paprika.
Das tiefrote Thunfischfilet briet ich auf dem Teppan Yaki scharf an, bevor ich es in dünne Scheiben aufschnitt und diese auf dem Salat anrichtete. Ich trug die beiden Teller zum Tisch, legte Besteck an, Stoffservietten, etwas aufgebackenes Brot, Fassbutter, zwei Wassergläser, die auch für die Milch zu gebrauchen wären, von der Maximilian am Tag bis zu drei Litern trank.
Ich ging hinüber zur Couch. Außer Schlaf- und Badezimmern gab es in meinem Loft keine abgetrennten Räume, alles ging ineinander über. Ein letzter Streifen Tageslicht fiel auf die alten Dielen. Maximilian reagierte nicht, las einfach weiter, wohl, weil er wusste, was ihm bevorstand. Ich zog ihm die Kopfhörer mit einem Ruck von den Ohren. »Das Essen ist fertig. Komm an den Tisch. Esst ihr zu Hause denn nie zusammen?«
Maximilian zuckte mit den Schultern. »Manchmal.«
»Geht's etwas genauer?«
»Meistens nicht. Mama isst im Restaurant. Manchmal bringt sie was mit, das können wir uns dann am nächsten Tag aufwärmen. Herreira ist es egal.« Er nannte den Geliebten seiner Mutter beim Nachnamen. »Und ich mach mir eben was, wenn ich Hunger habe.«
»Maximilian, du bringst mich zur Verzweiflung.«
»Wieso? Ich nehme das Essen mit in mein Zimmer. Auf einem Tablett.«
»Du isst auf deinem Zimmer? Alleine? Das musste ich früher, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Auf dem Zimmer essen war eine Strafe, wie Taschengeld-Entzug.« Maximilian zuckte mit den Schultern. »Du aber machst das freiwillig . Okay. Lassen wir das. Ist mir auch egal, wie es bei euch abläuft. Hier gibt es Regeln, klar? Im Restaurant sowieso, aber hier oben auch. Außerdem sollten wir häufiger miteinander reden, was aber nicht geht, wenn du dich unter deinen Kopfhörern verschanzt.« Er sah mich irgendwie fragend an. »Wir müssen miteinander reden, wenn wir uns nicht irgendwann die Köpfe einschlagen wollen. Menschen tun so was. Schließlich möchte ich wissen, wer du bist.«
»Ich bin dein Sohn«, antwortete Maximilian, die Augen...
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