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Ein typisches Thema der Soziologie ist die Beschreibung des Aufbaus und der Veränderung von Gesellschaften bzw. ihrer Summe als Weltgesellschaft.
Gesellschaftliche Differenzierung meint die Beschreibung unterschiedlicher Positionen, Funktionen und Lebenschancen der Individuen in einer Gesellschaft. Es werden - sehr vereinfacht - drei Grundtypen unterschieden, nämlich segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierung.64 Es gibt darüber hinaus viele Übergangs- und Mischformen; ebenso ist umstritten, ob bzw. inwieweit diese drei Grundtypen als Abfolge von Entwicklungsstufen im Sinne einer Höherentwicklung bzw. Modernisierung interpretiert und positiv bewertet werden können.
Tatsächlich lassen sich meistens mehrere Formen gleichzeitig finden, wenn z. B. im absolutistischen Staat eine große Hauptstadt mit zentralem, hierarchisch gegliedertem Hof in einem überwiegend bäuerlich geprägten Umland liegt. Oder wenn sich in der heutigen, eher funktional differenzierten Gesellschaft dennoch eine Hierarchie von Sozialschichten auffinden lässt ( Abb. 8).
Abb. 8: Gesellschaftliche Differenzierung
Dieses Grundschema ist instruktiv und ebenso verwendbar für die Analyse von Organisationen, im Falle der Medizin z. B. für die Beschreibung von Teilstrukturen des Gesundheitswesens: Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen oder das Netz ambulanter Praxen von Ärztinnen und Ärzten und anderen Gesundheitsfachberufen in einer bestimmten Region. Hier kommt auch Luhmanns Modell der Differenzierung nach Zentrum und Peripherie wieder ins Spiel. Ein aktueller Bezugspunkt ist die Diskussion, ob es zu viele oder zu wenige Krankenhäuser gibt, ob einige wenige große Krankenhäuser besser sind als viele kleinere Häuser - allgemein die Abwägung zwischen einer breit ausgebauten wohnortnahen Versorgung und wenigen hochspezialisierten Großkliniken.
Die wissenschaftliche Beobachtung von Menschen bzw. der Gesellschaft bringt das besondere Problem mit sich, dass der Forschungsgegenstand in komplexer Weise auf die Forschung reagiert, dass also Rückkopplungen auftreten. Spätestens mit dem Aufkommen der modernen Physik im 20. Jahrhundert wissen wir, dass keine Messung ohne Beeinflussung des untersuchten Objekts möglich ist. Aber ein Atom, Molekül, Asteroid oder Eichhörnchen weiß nichts von Forschung und hat keine Erwartungen an Forschungsergebnisse, daher sind etwaige Wechselwirkungen überschaubar und können entsprechend berücksichtigt (kontrolliert) werden.65 Menschen reagieren aber, und das führt zu erheblichen Schwierigkeiten. In der Wissenschaftstheorie zur empirischen Sozialforschung wird diese Problematik als Reaktivität bezeichnet, sie wird im Kapitel über die Methoden der empirischen Sozialforschung nochmals aufgegriffen ( Kap. 5).
Menschen und ihre Aggregate (Soziale Gruppen, Soziale Systeme) konstruieren66 Vorstellungen der Welt und richten ihr Verhalten und Handeln daran aus. Das machen im Prinzip auch Tiere; aber mit komplexeren kognitiven Fähigkeiten können sich diese Vorstellungen sozusagen selbstständig machen.
Der Soziologe Robert Merton prägte den Begriff des Thomas-Theorems, nach dem Soziologen William I. Thomas und seiner Frau Dorothy S. Thomas, die das Grundprinzip in den 1920er Jahren erstmals beschrieben hatten: »Wenn Menschen Situationen als real definieren, so haben sie reale Konsequenzen«67.
Dieses Theorem hat eine enorme Tragweite, weil es die Kopplung der sozialen Realität an die physikalische Realität lockert. Der Glaube an übernatürliche Mächte, die Wirksamkeit einer Behandlung oder die Kompetenz der Therapeutin beeinflussen konkret die Wahrnehmung und das Handeln der betreffenden Menschen, unabhängig davon, ob andere Beobachter diesen Glauben teilen oder nicht. Und damit wird es notwendig, die Sinnzuschreibungen von Individuen nachzuvollziehen, um ihre Handlungen verstehen und interpretieren zu können (vgl. dazu Max Webers Definition des Sozialen Handelns, Kap. 2.5.1). Eine Variante des Thomas-Theorems ist die sich selbst erfüllende Prophezeiung (Self-Fulfilling Prophecy), wobei Merton im Rahmen des positivistischen Wissenschaftsverständnisses zwischen objektiver Wahrheit und Irrtum unterscheidet.
»Die self-fulfilling prophecy ist eine zu Beginn falsche Definition der Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, das die ursprünglich falsche Sichtweise richtig werden lässt. Die trügerische Richtigkeit der self-fulfilling prophecy perpetuiert eine Herrschaft des Irrtums. Der Prophet nämlich wird den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse als Beweis dafür zitieren, daß er von Anfang an recht hatte. (.) So pervers ist die Logik des Sozialen.«68
Selbsterfüllende Prophezeiungen erzeugen ein soziales Phänomen, das zum Zeitpunkt der Prophezeiung (oder besser: Prognose) noch nicht - oder nicht in dem behaupteten Umfang - existiert. Die beteiligten Akteure nehmen das angenommene (behauptete, prophezeite) Phänomen aber ernst und richten ihr Handeln daran aus.
Mertons klassisches Beispiel ist eine Bank, die wirtschaftlich zunächst gut dasteht. Dann verbreitet sich das Gerücht, die Bank sei in finanziellen Schwierigkeiten. Infolge dessen heben massenhaft Kunden ihre Einlagen ab, worauf die Bank tatsächlich bankrottgeht.69 Wenn die Mehrheitsgesellschaft davon ausgeht, dass Mädchen mathematisch unbegabt seien, richten sich die Bemühungen in der Schule auf Schadensbegrenzung, aber nicht auf die Entdeckung von Talenten und deren Förderung. Die meisten Mädchen übernehmen die gesellschaftliche Erwartung und kultivieren einen entsprechenden Habitus. In der Folge werden vorhandene Potentiale erst gar nicht entdeckt, und falls doch, nur unzureichend ausgeschöpft; schließlich zeigen Mädchen schlechtere Leistungen und die Befunde werden dann als Beleg für fundamentale Geschlechtsunterschiede angeführt (a posteriori - im Nachhinein, vom Ergebnis her gedacht). Am Ende lässt sich dann noch mit bildgebenden Verfahren nachweisen, dass entsprechende Hirnareale bei Frauen im Schnitt schwächer ausgebildet sind als bei Männern ( Kap. 6.1).
Die Self-Fulfilling Prophecy lässt sich für die Erklärung vieler Befunde der Medizin und der Gesundheitswissenschaften heranziehen. Ein Beispiel wäre die These, dass Schwangerschaftsabbrüche psychische Probleme nachziehen würden - Schuldgefühle und Depressionen, zusammengefasst als PAS (Post Abortion Syndrome). Eine breite und öffentlich kommunizierte Missbilligung der Abtreibung könnte durch die Behauptung und Erwartung entsprechender Folgen dazu führen, dass viele Frauen nach einer Abtreibung tatsächlich Schuldgefühle entwickeln und berichten. Allerdings gibt es auch die umgekehrte Erklärung, wonach das PAS durch eine mehrheitliche Tabuisierung und Beschwichtigung unterdrückt würde und viele der zunächst leidenden Frauen ihre Schuldgefühle verleugnen und verdrängen. Im DSM und ICD wird das PAS bisher nicht gelistet. Die Diskussion um die Realität des PAS ist ein Beispiel dafür, dass es keine neutrale Wissenschaft losgelöst vom Rest der Gesellschaft gibt.
Merton formuliert als Gegenstück noch die Suicidal Prophecy,70 übertragen: die sich selbst zerstörende Prognose. Eine Vorhersage oder Prognose führt zu Verhaltensänderungen, was letztlich das Eintreffen des Ereignisses verhindert. In den Gesundheitswissenschaften ist dies die Grunderwartung von Maßnahmen zur Krankheitsprävention. So soll die Prophezeiung von Krankheit und Tod Raucherinnen und Raucher dazu bringen, mit dem Rauchen aufzuhören (u. a. mit bedrohlichen Abbildungen auf Tabakverpackungen). Gegner und Gegnerinnen bestimmter Präventionsmaßnahmen sehen das Nichteintreten der schlimmen Entwicklung gerne als Beleg...
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