Schweitzer Fachinformationen
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Vandana Shiva, indische Ökologin
Schwarze Samen, goldene Ähren
Unser Landrover stoppt abrupt. Wir sind angekommen. Über uns erhebt sich ein rotgebrannter Gebirgsrücken. Unter uns liegen terrassierte Hänge. Uralte Steinmäuerchen ziehen sich wie ein Geflecht über den Talboden und weit in die Hänge hinauf. Das Grün der kleinen Äcker leuchtet zart in der Morgensonne. Ich bin in Indien. Ich bin zu Besuch bei der indischen Ökologin Vandana Shiva, um an einer gemeinsamen Publikation zu arbeiten. Zusammen mit einer Freundin habe ich zwei Wochen in ihrem Elternhaus in Dera Dung im Norden Indiens verbracht. Während einiger Stunden sind wir heute im Landrover durch die Berge gefahren, Vandana Shiva, zwei Bekannte von ihr, meine Freundin und ich. Nun haben wir unser Ziel erreicht, das alljährliche Saatgutfestival der Chipkobäuerinnen.
Vor uns, auf einer kleinen Ebene, sind bunte Decken ausgebreitet, und Frauen stehen schwatzend in Gruppen zusammen. Es sind auch Kinder da und einige wenige Männer. Am Rande des Feldes stehen Zelte. Aus allen Richtungen kommen Bäuerinnen herbei, um uns zu begrüssen.
Vandana Shiva, die alle kennt, ist klein und rundlich, sie trägt ihr schwarzes Haar zu einem Chignon geflochten, der mit einer verzierten Lederschnalle zusammengehalten wird. Auf der Stirn hat sie einen roten Punkt, das dritte Auge. Sie ist eine der bekanntesten Kämpferinnen gegen die Macht multinationaler Konzerne.
Vor zwanzig Jahren haben sich die Chipkofrauen zusammen mit Vandana Shiva erfolgreich gegen die Abholzung der letzten Wälder in ihrem Gebiet zur Wehr gesetzt. Als die Baumaschinen auffuhren, umfassten die Frauen die Bäume, hielten sich daran fest und liessen nicht locker, bis die Baumfäller wieder abzogen.
Leise erst, dann immer lauter ist Gesang zu hören. Nach und nach treffen neue Gruppen von Frauen ein, ihre farbigen Saris lose um den Kopf geschlungen. Die Frauen begrüssen und umarmen sich - manche haben sich ein Jahr nicht mehr gesehen, viele haben einen Tagesmarsch hinter sich. Zuletzt sind etwa achtzig Bäuerinnen versammelt, alle haben im Gepäck etwas von ihrem selbstgezüchteten Saatgut mitgebracht: Reis-, Hirse- und andere Samen.
Später stehen wir mit den Frauen um einen langen, niedrigen Tisch, der mit weissem Papier abgedeckt ist. Darauf liegen Proben des neuen Saatguts sowie Proben aus der Sammlung, die die Chipkofrauen vor einigen Jahren anzulegen begonnen haben. Zuoberst, am Tischende, sind verschiedene Hirsesorten ausgebreitet: kleine, dunkelrot-violette Kolben, aber auch langgezogene von einem schimmernden Goldgelb. Es folgen die rispenförmigen Ähren von Sorghum, einer hirseähnlichen Pflanze, die auf Böden gedeiht, auf denen anderes Getreide nicht mehr wächst. Die Ähren variieren in Grösse und Farbe, von hellem Ocker bis zu tiefem Rotbraun. Am unteren Tischende sind Reisähren aufgereiht, die kleiner sind als jene von Sorghum.
Etwa sechzig verschiedene Reissorten liegen ausgebreitet vor uns. Vandana Shiva nimmt eine Ähre, zeigt uns den kräftigen Halm, an dem in mehreren Rispen die Reiskörner sitzen, und sagt: »Diese Reissorte heisst Chawaat, die Trockene, weil sie auch auf trockenen Böden wächst. Sie stammt aus einem Dorf unweit von hier. Viele der anderen Reissorten hier auf dem Tisch sind ebenfalls dürreresistent. Sie werden im Gegensatz zu den üblichen Reiskulturen nicht unter Wasser gesetzt und wachsen auch bei wenig Regen.« Es gibt also dürreresistente Reissorten? Das ist mir neu. Ich frage, ob diese Sorten nicht für die Weiterzucht verwendet werden könnten, um der fortschreitenden Dürre in manchen Weltregionen zu begegnen. »Natürlich, das ist alles schon da«, sagt Vandana Shiva, legt die Ähre zurück und zeigt uns noch einige weitere Reissorten, zuletzt eine Ähre mit schwarzen Körnern. »Dieser Reis heisst Korianderreis, weil die Körner so winzig klein wie Koriander sind. Es ist eine einheimische Spezialität. Ist sie nicht wunderbar?« fragt sie in die Runde und strahlt.
Auf der Hinfahrt im Landrover hat uns Vandana Shiva erzählt, wie die Vielfalt an Samen, die wir zu sehen bekommen würden, fast verlorengegangen wäre. »Die übliche Geschichte«, sagte sie, »in Indien wie fast überall in der dritten Welt reden die Saatgutfirmen den Leuten ein, sie bräuchten verbesserte Sorten; solche Sorten zu züchten, seien sie aber selbst nicht imstande, weil dies wissenschaftlich geschehen müsse und sie keine Wissenschaftler seien. Wenn die Leute das ständig zu hören bekommen, fangen sie an, ihr eigenes Saatgut als minderwertig anzusehen und zu vernachlässigen, und eines Tages probieren sie das Saatgut aus, das ihnen die Agrofirmen anbieten. Für kurze Zeit ergibt das Industriesaatgut zusammen mit dem Kunstdünger und den Pestiziden höhere Erträge. Dann folgt die grosse Krise - neue Schädlinge, immer mehr Pestizide -, die Erträge sinken, die grosse Armut bricht herein. In Indien gab es früher 30 000 Reissorten, heute stammen drei Viertel der Reisernte von etwa zehn Hochertragssorten. Aber die Chipkofrauen haben wieder angefangen, ihr eigenes Saatgut anzupflanzen und weiterzuentwickeln. Durch sorgfältige Selektion und Weiterzüchtung sind viele neue, lokal angepasste Sorten entstanden, und eine solche Vielfalt ist die einzige Chance, um in dieser rauhen Gegend zu überleben.«
Wir bewegen uns inmitten der Bäuerinnen um den Tisch herum, auf dem in allen Farben und Formen das Saatgut in der Sonne leuchtet. Vandana Shiva zeigt auf einige Ährenbüschel und sagt spöttisch: »Die Engländer haben einige dieser Sorten mit Tiernamen bedacht, zum Beispiel Kuherbse oder Schweinehirse oder Pferdebohne. Sie wussten nicht, wie sie sie kochen sollten, und verfütterten sie deshalb an die Tiere.«
Später erklärt sie uns, nach welchen Methoden im Tal und auf den höher gelegenen Terrassenfeldern angebaut wird. Im Tal, wo es mehr Wasser gibt, pflanzen die Chipkofrauen Reis an, in den höheren Lagen die genügsamere Hirse. Sie säen auf jedem Feld stets verschiedene Sorten - zum Beispiel eine, die die Kälte gut verträgt, eine andere, die gegen Schädlinge besonders resistent ist, eine dritte, die früher reift. Auf diese Weise ist die Chance, dass immer etwas überlebt, sehr gross. In den Hirsefeldern bauen die Bäuerinnen gleichzeitig Mais an sowie verschiedene Bohnensorten und anderes Gemüse. Aber auch Gewürze - Sesam, Koriander, Basilikum - werden auf den gleichen winzigen Terrassenfeldern in jährlichem Wechsel aufgezogen. »Das ergibt eine gute Balance«, sagt Vandana Shiva, »und fast das ganze Jahr über kann etwas geerntet werden. Diese Sicherheitsgarantie ist wichtiger als ein hoher Ertrag, denn die Frauen müssen ihre Familien ernähren.«
Links und rechts neben uns und rundum beugen sich Gruppen von Bäuerinnen über den Tisch, diskutieren lebhaft, lachen, zeigen auf die Ährenbüschel, berichten von ihren Erfahrungen und stellen Fragen. Wie gerne würde ich verstehen, was hier geredet und berichtet wird. Es ist der 25. Dezember 1993 - Weihnachten also.
Beim Essen sitzen wir uns in zwei langen Reihen gegenüber. Auf Tellern aus Bananenblättern werden einheimische Gerichte serviert, verschiedene Reis-, Linsen- und Hirsegerichte mit Gemüsen, die ich noch nie gegessen habe. Der strenge Duft von Ingwer und Koriander liegt in der Luft.
Nach dem Tee steht eine alte Chipkofrau auf und hält eine Ansprache. Sie redet frei, in schnellem Tempo, und alle hören ihr zu. Die Frau erzähle gerade, raunt mir Vandana Shiva zu, dass sie vom Sojaanbau abgekommen sei, weil Soja kein nützliches Stroh ergebe. Das Stroh von Reis oder Hirse hingegen könne als Viehfutter verwendet werden oder bei der Herstellung von Matten und beim Bau der Häuser.
Weitere Bäuerinnen stehen auf, berichten von ihren Erfahrungen und Strategien, und dann, vor Sonnenuntergang, steigen wir in den Landrover und machen uns auf den Rückweg. Wo denn die Männer geblieben seien, will ich von Vandana Shiva wissen. »In der Stadt«, sagt sie. Während den Frauen früher der lokale Anbau von Getreide und Gemüse oblag, seien die Männer für das Vieh verantwortlich gewesen. Sie zogen mit den Herden weiträumig umher bis hinauf in tibetisches Gebiet. Vandana Shiva zeigt auf einer kleinen Landkarte den Distrikt Tehri Garhwal im Nordosten Indiens, wo wir uns befinden. Er liegt nahe der tibetischen Grenze und reicht im Osten bis nach Nepal. Als chinesische Truppen in Tibet einmarschierten, gingen die Weiden im Norden verloren. Dies war der eine Grund für den Niedergang der Viehzucht, der andere war die Abholzung der Wälder. Durch die Rodungen sei zwar Grasland entstanden, aber diese Weiden seien nur während des Monsuns grün. »Im Sommer aber«, erklärt Vandana Shiva, »verdorrt das Gras. Futter gibt es nur noch im Wald am Boden, an den Büschen und Bäumen. Mit den Wäldern verschwand diese Futterquelle. Der Verlust der Weiden im Norden und die Rodungen führten zum Kollaps der Viehzucht. Nun liegt die ganze Last auf den Frauen. Die Männer finden sich in dieser neuen Situation bis heute nicht zurecht, viele emigrieren und suchen Arbeit in den Städten.«
Nach einigen Stunden erreichen wir unser Nachtlager, ein einsames Hotel mit dem Namen »Trishal Breeze«. Zum Glück gibt es genügend Decken, denn es ist bitterkalt. Am nächsten Morgen bietet sich uns ein atemberaubend schöner Blick: Unzählige Hügelketten staffeln sich in die Tiefe, und ihr Dunkelviolett wird langsam heller. Ganz hinten dann, am Horizont, leuchten die verschneiten Gipfel des Himalaya. Es sieht aus, als würden sie im Himmel schweben, schwerelos, rosarot erst und dann immer weisser. Vandana Shiva zeigt auf die imposanten Gipfel und nennt ihre Namen; jener in der Mitte, sagt sie, heisse...
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