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Donnerstag, 19. Dezember 2019 Berlin
Gegen dreizehn Uhr erreichte Olav Thorn die Dienststelle in Berlin und ließ sich zu seiner Kollegin Leonie Grün bringen.
Sie lief telefonierend auf dem Gang zwischen den Bürotüren auf und ab, sodass Olav Gelegenheit hatte, sie zu beobachten, bevor er mit ihr sprach.
Leonie Grün war etwa Mitte vierzig, eins siebzig groß, schlank und hatte schulterlanges, brünettes Haar. Sie trug enge Jeans, Winterstiefel mit Fellbesatz und ein grünes Longsleeve. An ihrem Gürtel hing die Dienstwaffe, an den Ohrläppchen große, goldfarbene Kreolen. Während des Gehens rammte sie die Absätze der Stiefel in den Boden und gestikulierte mit der freien Hand.
»Nein, ich komme nicht früher nach Hause!«, rief sie ins Telefon. »Nein, ich bringe auch nichts zu essen mit . Der Kühlschrank ist voll, der Eisschrank auch, sieh zu, dass du selbst zurechtkommst. Alt genug bist du ja, sagst du selbst ständig. Und sieh zu, dass die Katze nicht verhungert!«
Leonie Grün beendete das Telefonat und blieb mit dem Rücken zu Olav einen Moment mitten auf dem Gang stehen. Ihr schmaler Oberkörper hob und senkte sich unter einem tiefen Atemzug. Dann drehte sie sich um.
»Was wollen Sie denn?«, fuhr sie Olav an.
Er stellte sich vor.
»Ach so, Sie sind der Kollege aus Bremen. Das ging ja schnell.«
Sie deutete auf ihr Handy und steckte es in die Gesäßtasche.
»Tut mir leid . Meine sechzehnjährige Tochter. Ist gerade sehr anstrengend.«
»Das macht doch nichts«, sagte Olav beschwichtigend.
»Hatten Sie eine gute Fahrt?«
Olav hörte heraus, wie wenig sie sich für seine Fahrt interessierte, antwortete aber trotzdem. »O ja, danke! Die war wirklich erstaunlich gut, wenn man bedenkt, dass wir kurz vor den Feiertagen stehen. Die Straßen waren perfekt geräumt und die anderen Verkehrsteilnehmer entspannt und umsichtig.«
Leonie Grün runzelte die Stirn. »Ich hab noch nie jemanden getroffen, der nicht über den Verkehr jammert.«
»Ach, es wird viel zu viel gejammert in diesem Land.«
Sie warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte.
»Wollen wir gleich in die Rechtsmedizin und uns die Gliedmaßen anschauen?«, fragte sie.
»Sehr gerne, wenn es in Ihren Ablauf passt.«
»Meinen Ablauf .« Darüber schien sie nachdenken zu müssen.
»Ja, es passt in meinen Ablauf. Und Sie sind doch extra dafür hergekommen, oder?«
»Unter anderem auch deswegen, ja.«
»Nehmen wir meinen Wagen? Der steht in der Tiefgarage. Wir müssen in die Charité. Ist ein Stück zu fahren.«
»Gern.«
Mit forschem Schritt führte die Kollegin Olav in die Tiefgarage des Präsidiums und dort zu einem unauffälligen dunkelblauen Golf. Im Inneren herrschte Chaos. Mütze, Handschuhe, Schals, Wasserflaschen, eine Thermoskanne, verschiedene Tupperdosen, Papier von Schokoriegeln, eine ungeöffnete Vorratspackung Klopapier auf der Rückbank. Leonie Grün musste den Beifahrersitz freiräumen, damit Olav Platz nehmen konnte.
Noch während er sich anschnallte, kurvte sie sportlich die Rampe zur Ausfahrt hinauf.
»Was für eine kranke Scheiße«, sagte sie dabei.
»Ein sehr ungewöhnlicher Fall«, stimmte Olav zu und erzählte ihr von dem Verlobungsring am Finger der männlichen Hand und seinem Verdacht, der Täter könnte ein gehörnter Mann sein.
»Und die weiblichen Gliedmaßen, die hier aufgetaucht sind, sind dann von der Frau, um die es geht?«, sagte Leonie Grün.
»Würde ein rundes Bild ergeben.«
»Aber warum die Leichenteile mit einem Bus verteilen?«
»Das gilt es herauszufinden.«
Leonie Grün dachte einen Moment nach.
»Was bedeutet: unter anderem?«, fragte sie schließlich.
»Ich verstehe nicht?«
»Sie sagten eben, Sie sind unter anderem deshalb hier, um sich die Gliedmaßen anzuschauen.«
»Ach so, ja. Ich hielt es für sinnvoll und wichtig, Sie persönlich aufzusuchen, damit wir unsere Ermittlungen absprechen und koordinieren können.«
»Das hätten wir auch am Telefon tun können.«
»Richtig. Aber ich bin ein Freund von Vier-Augen-Gesprächen, gerade wenn man sich noch nicht kennt und die Ermittlungen länderübergreifend stattfinden. Ich weiß gern, mit wem ich arbeite, und das erfahre ich nicht am Telefon.«
»Sie wollen wissen, ob Sie sich auf mich verlassen können?«
»Ach, da mache ich mir keine Sorgen. Sie sind doch eine erfahrene Kollegin. Nein, mir geht es in erster Linie darum, Sie kennenzulernen, um eine vertrauenswürdige Zusammenarbeit angehen zu können.«
»Aha. Und die zweite Linie?«
Olav räusperte sich. »Unsere Vorgesetzten sind sich darüber einig, dass nichts davon an die Presse gelangen darf.«
»Natürlich!«, stieß Leonie Grün genervt aus. »Die Herren in der Teppichetage machen sich Sorgen um ihren Ruf. Das hätte ich mir ja denken können.«
»Na ja, ich finde, es ist schon berechtigt. Um die Feiertage herum wird viel gereist, und eine Panik nützt niemandem.«
»Sind wir schon bei einer Panik? Das ging aber fix.«
»Finden Sie die Befürchtung übertrieben? Immerhin haben wir innerhalb von zwei Tagen an zwei verschiedenen Busbahnhöfen menschliche Gliedmaßen gefunden. Und wer weiß, was er mit den anderen Körperteilen macht.«
»Dazu gibt es noch keine Hinweise?«
Olav schüttelte den Kopf und unterrichtete seine Kollegin von den Bemühungen in Dortmund, die bisher nichts gebracht hatten, weil es streng genommen gar keine Bemühungen waren.
Leonie Grün warf ihm einen schnellen Seitenblick zu.
»Sie glauben, er ist mit demselben Bus nach Berlin gekommen, in dem auch die Leichenteile waren?«
Olav Thorn zuckte mit den Schultern. »Zumindest müssen wir davon ausgehen, dass er von Dortmund nach Bremen mitgefahren ist, sonst hätte er den zweiten Koffer nicht im Bus nach Berlin platzieren können. Ob er dann selbst auch weiter nach Berlin gefahren ist, werden wir definitiv erst wissen, wenn an irgendeinem anderen Busbahnhof der nächste Koffer auftaucht - in einem Bus aus Berlin.«
»Der nächste Koffer?! Sie gehen davon aus, dass der Scheiß weitergeht?«
»Im Moment schließe ich es nicht aus. Wie gesagt: Was macht er mit dem Rest der Leichen?«
Leonie Grün seufzte laut. »Und das kurz vor den Feiertagen . Meine Tochter flippt aus, wenn ich deswegen Weihnachten Dienst schieben muss.«
»Die Tränen von heute sind das Lachen von morgen«, sagte Olav und fing sich einen schwer zu deutenden Blick ein.
»Sie haben keine Kinder im Teenageralter, oder?«
»Nein. Weder in dem Alter noch in einem anderen.«
»Dachte ich mir.«
»Warum?«
»Wegen Ihrer Naivität. Glauben Sie mir, mit einem pubertierenden Teenager zu Hause verliert man die ganz schnell.«
»Ich würde mich nicht naiv nennen. Eher positiv, und daran kann ich nichts Verwerfliches finden.«
»Tja, herzlichen Glückwunsch dazu. Meine Positivität hält sich in Grenzen, wenn ich nachts zu einem Reisebus gerufen werde, in dem ich dann Leichenteile finde.«
»Würden Sie mir die Auffindesituation beschreiben?«
Olav war froh, wieder zu einem dienstlichen Thema zurückkehren zu können. Von Teenagern und deren Befindlichkeiten hatte er tatsächlich keine Ahnung, außerdem spürte er, wie angespannt seine Kollegin deshalb war. Wenn es ging, vermied er Fettnäpfchen, und hier schienen eine Menge davon aufgestellt zu sein.
Leonie Grün fuhr sicher und zügig durch den dichten Berliner Stadtverkehr und beschrieb ihm, wie sie den Koffer mit den Leichenteilen vorgefunden hatte. Dem Busfahrer war der zurückgebliebene Koffer aufgefallen, er hatte ihn geöffnet und den makabren Inhalt entdeckt. Als Leonie ihn genauer in Augenschein nahm, fand sie ein Blatt Papier mit einer handschriftlichen Notiz. Den Wortlaut konnte sie wiedergeben, er deckte sich mit dem aus Olavs Koffer.
»Ich packe meinen Koffer, und auf die Reise geht .?«
»Alles wie bei uns in Bremen«, resümierte Olav. »Außer dass sich im Bremer Koffer eine Hand und ein Fuß befanden, hier in Berlin aber zwei Hände und zwei Füße - und dann auch noch unterschiedlichen Geschlechts.«
»In Dortmund wurde kein Koffer mit Leichenteilen gefunden?«
»Nein. Wir können also davon ausgehen, dass der Fall aus irgendeinem Grund dort seinen Ursprung hat.«
»Die Leichenteile aus dem hier gefundenen Koffer könnten ebenfalls aus Dortmund stammen«, gab Leonie Grün zu bedenken. »Bei diesen Temperaturen kann man Fleisch draußen prima gefroren halten, da stinkt es nicht.«
»Da sagen Sie was. Was wiederum für die Theorie spricht, dass ein betrogener Mann in Dortmund sowohl Frau als auch Nebenbuhler ermordet hat und sie jetzt in Einzelteilen auf die Reise schickt.«
»Klingt plausibel«, sagte Leonie Grün mit frostiger Stimme. »Wir sind da!«
Olav Thorn war zwar schon einige Male in Berlin gewesen, aber noch nie in der Charité. Das wuchtige Bettenhochhaus war beeindruckend, wenn er es auch nur kurz zu sehen bekam, bevor seine Kollegin in eine Tiefgarage fuhr. Von dort aus führte sie ihn durch verwirrende Gänge bis in die Rechtsmedizin der Klinik.
Eine junge Assistenzärztin brachte sie in einen Obduktionsraum. Es war kalt dort drinnen. Sie öffnete die Klappe eines Kühlfachs und holte nacheinander vier eckige, transparente Kunststoffgefäße heraus. Mit neutralem Gesichtsausdruck und kontrollierten Bewegungen entnahm sie zwei Hände und zwei Füße und stellte sie auf dem Tisch ab. Paarweise, wie sie zusammengehörten, nahm Olav an.
Dann räumte sie die Plastikgefäße beiseite und ließ sie mit dem Hinweis allein, dass der Herr Professor...
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