Schweitzer Fachinformationen
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Als Heui-Jin von der Arbeit nach Hause kam, war von Seon-Yeong nichts zu sehen oder zu hören.
Ein Wunder war das nicht. Seon-Yeong hatte heute frei, und da sie dann immer bis zum Morgengrauen aufblieb, schlief sie sicher noch. Heui-Jin fischte ihr Smartphone aus der Westentasche, aber abgesehen von den Meldungen, dass es in der Stadt mehrere bestätigte Corona-Fälle gab, und dem Hinweis, dass die Maßnahmen zur Infektionskontrolle verlängert worden waren, hatte sie keine Nachrichten bekommen.
Sie nahm die Maske ab und wollte sie schon in den Mülleimer werfen, da fiel ihr ein, dass sie sie noch brauchen würde. Seon-Yeong und sie würden später noch zum Essen ausgehen. Es war ein besonderer Tag.
Sie legte die Maske auf den Tisch und ging ins Badezimmer. Wie immer ließ sie die Tür offenstehen. Sie litt an Klaustrophobie und bekam in kleinen geschlossenen Räumen Angstzustände. In der Öffentlichkeit ging sie kaum je auf die Toilette, denn natürlich konnte sie nicht einfach die Kabine auflassen. Zum Glück hatte Seon-Yeong Verständnis. Heui-Jin hatte dennoch oft ein schlechtes Gewissen: Seon-Yeong war so perfektionistisch, es wäre ihr bestimmt lieber gewesen, wenn bei ihnen zu Hause alles seine Ordnung gehabt hätte.
Heui-Jin wusch sich die Hände und begrüßte dann die beiden Kaninchen, die sie frei im Haus hielten. Als sie Milch aus dem Kühlschrank holen wollte, um sich Cornflakes zu machen, hüpften Ggong-Yi und Cham-Yi ihr aufgeregt um die Füße. Sie rechneten wohl mit einem Snack.
»Wartet, wartet doch mal, ihr zwei! Ich gebe euch gleich ein bisschen getrocknetes Obst.«
Auf der Arbeit war sie nicht zum Essen gekommen. Sie hatte sich eine Portion Instantnudeln aufgebrüht, aber gerade da hatten ganze Horden den Supermarkt gestürmt. Die Nudeln waren im Pausenraum labbrig geworden, und sie hatte den Plastikbecher später weggeschmissen. Sie ging morgens immer mit leerem Magen aus dem Haus, weil sie so früh noch nichts vertrug. Deshalb war es ärgerlich, wenn sie nicht zeitig zu Mittag essen konnte. Doch beschweren würde sie sich sicher nicht. So wie die Dinge lagen, war selbst ein Aushilfsjob unschätzbar wertvoll.
Früher hatte sie tagein, tagaus am Schreibtisch gesessen, aber Corona hatte den Verlag in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, bei dem sie angestellt gewesen war, und schließlich war Heui-Jin gekündigt worden. Wegen ihrer schlechten Leberwerte hatte sie hohe Arztkosten. Auch Ggong-Yi und Cham-Yi waren chronisch krank und brauchten Medikamente. Zum Glück hatten sie wenigstens noch das Geld gehabt, das Seon-Yeong in einem Vertriebszentrum verdiente - sonst wäre die kleine Familie, bestehend aus zwei Frauen und zwei Kaninchen, sang- und klanglos untergegangen. Heui-Jin schien es, als kostete es sogar Geld, bloß zu atmen.
Ein paar Monate lang hatte sie Arbeitslosenhilfe bekommen, aber das hatte ihnen kaum geholfen. Schließlich war es Heui-Jin gelungen, den Job als Teilzeitkraft in einem Supermarkt zu ergattern. Sie hätte nicht gedacht, dass sie mit über dreißig noch einmal in einem Supermarkt Regale einräumen würde, und fühlte sich verloren. Da sie zu wenig Sport getrieben hatte und das lange Stehen nicht gewohnt war, bekam sie einen Fersensporn: einen dornenförmigen, knöchernen Fortsatz, der sich als Folge von Überlastung am Fersenknochen bilden konnte. Es fühlte sich an, als würde ihr ein Nagel in der Fußsohle stecken. Seon-Yeong, die schon lange an einem Fersensporn litt, sah Heui-Jin mitleidig an, wenn sie von der Arbeit nach Hause gehinkt kam, und massierte ihr die schmerzenden Füße.
»Du solltest sie wirklich ein bisschen entlasten«, murmelte Seon-Yeong dann. Und Heui-Jin streichelte stumm ihren Rücken, denn sie wussten natürlich beide, dass das nicht möglich war. Keine von ihnen konnte ihren Füßen Ruhe gönnen.
Heui-Jin aß die Cornflakes, die schnell pappig wurden, und schaute dabei über ihr Smartphone Videos. Ständig hörte sie, man solle sich über Aktien informieren, aber ihr wäre nicht einmal im Traum eingefallen, ihr weniges Geld an der Börse zu verzocken. Und in ihrer Freizeit wollte sie sich wirklich nicht ununterbrochen mit Geld beschäftigen. Sie mochte Channels, die Tiervideos posteten: Wenn man an Straßenecken Wasser und Futter bereitstellte, landeten dort Vögel und stärkten sich. Das zu sehen, entspannte Heui-Jin.
Eine KakaoTalk-Messengernachricht von Seon-Yeong erschien über dem Video:
-Bist du schon zu Hause?
-Ja. Wo bist du?
-Ich war nur kurz unterwegs.
-Komm schnell heim! Ich vermisse dich.
Es dauerte einen Augenblick, bevor Seon-Yeong antwortete.
-Iss einen Happen und geh unter die Dusche! Wir wollen doch ausgehen.
-Ja, klar! Ich lass die Badtür auf, weißt du ja.
Wieder eine kurze Pause.
-Nein, mach sie heute mal zu! Ich bringe die Eigentümerin mit. Sie muss sich wegen der Reparatur die Tür ansehen.
Heui-Jin verzog gequält das Gesicht. Warum musste das ausgerechnet heute sein?
Seon-Yeong hatte aber natürlich recht: Mit der Badezimmertür musste etwas geschehen. Sie war wohl falsch eingebaut worden, jedenfalls ließ sie sich nur von außen abschließen. Und wenn man sie richtig zumachte, klemmte sie. Seon-Yeong hatte schon oft gesagt: »Eines Tages geht das verdammte Ding nicht wieder auf, wenn eine von uns allein zu Hause ist. Kannst du dir vorstellen, stundenlang im Bad eingeschlossen zu sein?«
Heui-Jin räumte ihre leere Müslischale weg, holte sich frische Kleider und legte sie auf den Stuhl vor dem Badezimmer. Dann schaltete sie das Licht ein. Die nackte Glühbirne an der Decke flackerte bedenklich - sie würden sie sicher bald wechseln müssen.
Ihr war beklommen zumute. Seon-Yeongs Bitte zum Trotz ließ sie die Tür einen Spaltbreit offenstehen. Sie konnte sie immer noch zudrücken, wenn sie im Flur Stimmen hörte.
Die Dusche brauchte immer eine Weile, um warm zu werden. Heui-Jin konzentrierte sich auf das laue Wasser, das ihr über Kopf und Schultern strömte, und redete sich selbst gut zu. Es war nicht schlimm, wenn die Tür aus irgendeinem Grund ins Schloss fiel. Sie hatten einen Zimmermannshammer ins Regal gelegt, falls eine von ihnen tatsächlich einmal nicht aus dem Bad kommen sollte. Falls nötig, konnte sie damit die Tür einschlagen.
Endlich wurde das Wasser warm, Heui-Jins verkrampfte Muskeln lockerten sich und die Anspannung fiel von ihr ab. Gründlich seifte sie sich ab und wusch sich die Haare. Dann hörte sie die Haustür gehen.
Da sind sie ja, dachte sie, streckte die Hand aus der Dusche und schob die Badtür zu. Sie erwartete, Seon-Yeong mit der Eigentümerin sprechen zu hören, die Heui-Jin erst wenige Mal getroffen hatte. Doch stattdessen hörte sie rasche Schritte durch den Flur näherkommen. Sie blieben vor der Tür stehen. Dann klickte etwas.
Verwirrt runzelte Heui-Jin die Stirn. Was hatte das zu bedeuten?
Sie griff nach dem Knauf und drehte ihn.
Die Tür ging nicht auf.
Heui-Jin stellte die Dusche ab und wickelte sich in ein großes Handtuch. Dann kniff sie die Augen zu und fragte sie mit zitternder Stimme: »Wer ist da?«
War jemand eingebrochen? Am helllichten Tag?
Aber eine vertraute Stimme antwortete ihr. »Ich bin's nur.«
Seon-Yeong! Heui-Jin blinzelte. Kalte Wassertropfen rannen ihr an den Beinen hinunter. Sie atmete tief durch - sie hatte richtig Angst gehabt.
Und ihr schauderte noch immer. Daran war ganz sicher nicht nur die Kälte schuld. »Seon-Yeong, ist die Eigentümerin bei dir? Warum hast du abgeschlossen?« Nur für den Fall, dass Seon-Yeong nicht alleine war, flüsterte Heui-Jin. In Gedanken fügte sie hinzu: Lass mich raus, lass mich raus! Du weißt doch, dass ich Klaustrophobie habe!
Seon-Yeongs Stimme klang gedämpft, aber so nah, als lehnte sie an der Tür. »Lass uns nur noch einen kleinen Moment so bleiben, ja?«
»Warum? Was soll denn das?« Heui-Jin hatte ihr Entsetzen mit Müh und Not im Zaum gehalten, aber nun überwältigte es sie. Das Handtuch fiel zu Boden, und sie hämmerte mit den Fäusten gegen die fest verschlossene Badezimmertür. »Wieso tust du das? Seon-Yeong Jang! Mach die Tür auf! Mach auf, hab ich gesagt!«
Warum tat Seon-Yeong ihr das an?
Aber der Grund war eigentlich egal. Nur das Jetzt spielte eine Rolle. Das Eingesperrt-Sein. Und vielleicht die Zukunft . Denn nichts würde je wieder so sein wie zuvor.
Heui-Jin kauerte in der...
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