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Rilke als Dichter der Angst vorzustellen ist keine sensationelle Neuerung. In den 40er und 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stand dieser Aspekt seiner Persönlichkeit und seines Werks schon einmal im Zentrum des Interesses, fast wie ein Markenzeichen. Es war die Blütezeit der deutschen Existenzphilosophie und des französischen Existentialismus, und Martin Heideggers Erhebung der Angst zur Grundbefindlichkeit, in der uns das «Ganze des Daseins» erschlossen sei, war in hohem Schwange. Europa lag nach dem Krieg in Trümmern; vor diesem Hintergrund erschienen Lehren, die den Menschen das Gefühl attestierten, ins «Nichts» hineingehalten, radikal auf sich selbst zurückgeworfen und ganz allein verantwortlich für den Sinn des eigenen Lebens zu sein, nur zu plausibel. Begriffe wie «Weltangst», «existentielle Angst», «Daseinsangst», «Freiheitsangst» wanderten aus den philosophischen Seminaren aus und wurden in Zeitungsfeuilletons, Radiosendungen, Politikerreden und Predigten leidenschaftlich diskutiert. Rilke, dessen Sprachbilder - «dieses so ins Bodenlose gehängte Leben»[1] - ihrerseits eine wichtige Anregung für Heidegger gewesen waren, hatte Konjunktur. Ein exemplarisches Buch trug den Titel Sieg über die Angst. Die Weltangst des modernen Menschen und ihre Überwindung durch Rainer Maria Rilke.[2]
Kennzeichnend an diesem Titel ist die Betonung von «Sieg» und «Überwindung» - und das bei einem Autor, zu dessen berühmtesten Versen gehört: «Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.»[3] Aber Angst-Überwindung, Zuspruch im Leid war seit jeher das, was große Teile der Leserschaft in seinem Werk suchten. Im Zweiten Weltkrieg war Rilke zusammen mit Hölderlin der Trostdichter der gebildeten Deutschen, in Todesanzeigen - zumal für gefallene Soldaten - liefen Hölderlin- und Rilke-Verse den Bibelstellen fast den Rang ab.
Der Schriftsteller Fritz Klatt, Verfasser des Weltangst-Buchs, stellte unmissverständlich heraus, dass Rilkes Angst-Überwindung nicht traditionell christlich verstanden werden dürfe. «In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden», spricht Jesus im Johannes-Evangelium (Joh 16, 33). Der Satz, bis heute ein gern vergebener Taufspruch, soll die Jünger über seinen nahe bevorstehenden Tod hinwegtrösten, indem sie begreifen, dass Er, der leiblich mit ihnen in der Welt war, ihnen auch nach Seinem Ableben verbunden bleibt als der Mittler zum Reich Gottes. Dagegen zitiert Klatt einen Brief Rilkes, in dem der Dichter seine «beinah rabiate Antichristlichkeit» einbekennt und die Vorstellung von Christus als Vermittler zum Göttlichen von sich weist. Die Menschen müssten auskommen «ohne das Telephon , in das fortwährend hineingerufen wird: Holla, wer dort?, und niemand antwortet». Die christliche Religion habe ausgedient, ihr Sinnstiftungspotential sei erschöpft: «Die Frucht ist ausgesogen, da heißts einfach, grob gesprochen, die Schalen ausspucken.»[4]
Nicht um einen Triumph über die Angst durch Bergung im religiösen Glauben geht es demnach bei Rilke. Christus als Mittler war ihm auch deshalb suspekt, weil mit dem Gottessohn zu leicht die jenseitige Tröstung bereitstand. In Rilkes provokanter Bildlichkeit: Man musste nur eben schnell zum Telephon greifen. Stattdessen lehre Rilke, so Klatt weiter, die Überwindung der Weltangst in der Welt. Mit der Existenzphilosophie konstatiert er: «Weil wir in der Welt sind, haben wir Angst.»[5] Und das bedeute für Rilke: Es gilt, «der Angst ohne Trost und ohne Helfer und Heiland bis zur letzten Gewißheit auf den Grund zu gehen».[6] Dann ereignet sich der Durchbruch: «Je tiefer die Angst erfahren wird, desto größer wird grade die Kraft, sie zu überwinden. Das, was Rilke den nennt, wird immer bewußter, immer glückhafter empfunden, als plötzliche Verwandlung der Angst in die reine, überströmende und unverstellte Freude.»[7]
An dieser Darlegung von Rilkes Angstkonzept gibt es nichts auszusetzen. Dem Umschlag von Verzweiflung in Glück, von Not in Seligkeit, von Untergang in Auferstehung - oder wie immer Rilke die Pole genannt hat - werden wir in dieser Biographie auf Schritt und Tritt begegnen. Ferngerückt ist uns heute allerdings die Konsequenz, die man damals aus der Beobachtung dieser Verwandlung gezogen hat. In Klatts Worten: Wir müssten uns der «lebenführenden Kraft Rilkes» anvertrauen,[8] um die im 20. Jahrhundert dramatisch angewachsene Weltangst in den Griff zu bekommen.
Rilke bot sich immer an als Sinnstifter in der Düsternis der entgötterten Moderne, darauf beruhte seine immense Wirkung auf eine weltweite Leserschaft. Man hat ihn, ungeachtet seiner Christus-Verunglimpfungen, im 20. Jahrhundert wieder katholisch zu vereinnahmen versucht; man hat ihn im 21. Jahrhundert zum Vordenker des New Age erhoben. Er war jahrzehntelang - mit dem schönen Wort von Peter Demetz - «der geheime König der deutschen Seele».[9] Zwar bröckelte dieser Status im deutschen Sprachraum im Gefolge der 68er-Bewegung. Das wurde aber kompensiert durch seine Verehrung in anderen Ländern. Vor allem in den angelsächsischen Kulturen, zu denen er selbst - aufgrund seiner mangelnden Englischkenntnisse, seines Desinteresses an Großbritannien und seiner Dämonisierung der USA - nie eine engere Beziehung unterhielt, blieb Rilke ein literarischer Leuchtstern. Im Klappentext einer der zahlreichen englischen Übersetzungen der Duineser Elegien erscheint er als «perhaps the greatest lyric poet of the twentieth century».[10]
Mittlerweile ist auch in Deutschland die Rilke-Skepsis längst wieder einer Rilke-Euphorie gewichen. Im Internet und in Live-Veranstaltungen kann man seit 2001 das Rilke-Projekt verfolgen, bei dem Schauspieler und Musiker aus ganz verschiedenen Generationen, die ganz verschiedenen Theatertraditionen und Musikstilen verpflichtet sind, Rilke-Gedichte vortragen und vertonen. Man kann aber auch ein Video aufrufen, in dem Oliver Kahn, der ehemalige Torwart von Bayern München, Rilkes Panther vorliest (übrigens gut) und anschließend von einem Interviewer gefragt wird, wie es sich denn für ihn so anfühlte, zwischen seinen Pfosten hin und her zu tigern. Man kann sich Rilke-Verse zu einer Vielzahl von Anlässen - Familienfeste, Reisen, Jubiläen - und zu beinahe allen Gemütslagen - Verliebtheit, Abschiedskummer, Sehnsucht nach reiner Natur - in Auswahlbänden oder auf Internetseiten besorgen.
In dieser anhaltenden Verehrung hat der Umgang mit Rilke viel von seiner Schwere verloren, ist freier, spielerischer geworden. Wenn Lady Gaga sich einen Rilke-Satz auf den Oberarm tätowieren lässt, ist dies zum einen durchaus ein ernstgemeintes Bekenntnis, zum andern aber auch ein ironisches Abstandnehmen von jenen Rilke-Lobreden, in denen salbungsvoll betont wurde, wie seine Verse «berühren», «ergreifen», «unter die Haut gehen».
Die Rilke-Forschung hat schon lange das Pathos der existentialistischen Deutungen hinter sich gelassen und sich eher der Frage zugewandt, welche sprachlichen Mittel dafür verantwortlich sind, dass so viele Menschen in seinen Texten eine «lebenführende Kraft» entdecken. Dabei geriet aber die Angst, an der so viel von diesem Pathos haftete, zu Unrecht in den Hintergrund. Die vorliegende Biographie will das behutsam korrigieren. Sie geht nicht von letzten Sinnfragen, von Rilke als dem schlechthinnigen Repräsentanten oder Überwinder der modernen Weltangst aus, sondern befasst sich erst einmal mit vorletzten Dingen: Rilkes persönlichen Ängsten und ihrer Gestaltung in seinen Briefen, Erzählungen und Gedichten. Nur da sind sie ja greifbar für uns, was bedeutet, dass wir es immer schon mit literarisch geformten Ängsten zu tun haben.
Der Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, unübersehbar ein Angst-Buch, steht deshalb im Zentrum dieser Biographie, wie überhaupt Rilkes Pariser Jahre (1902 bis 1910), in denen er entstand, am ausführlichsten behandelt werden. Es ist die Periode, in der Rilke nach äußerst bescheidenen Anfängen mit diesem Roman und den Neuen Gedichten zu einem Autor von weltliterarischem Rang wurde. Vieles, was in seinem Spätwerk nach gängiger Einschätzung «befremdlich»,...
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