Schweitzer Fachinformationen
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Wie froh bin ich, dass ich weg bin. Getrieben von Hoffnungen und Sehnsüchten, gelandet in Sarajevo. One-Way-Flug im Billigflieger. Normalerweise beflügeln mich die ersten Schritte in einem neuen Land, raus aus dem Flugzeug, hinaus aufs Rollfeld, der Geruch von Kerosin in der Nase, die piepsenden Sicherheitsschleusen, das grelle Licht im Flughafengebäude. Alles am Fliegen ist künstlich, und das zelebriere ich mit elektronischer Musik auf den Ohren. Deep House, Techno. Mit Pilotensonnenbrille fühle ich mich wie ein jetsettender DJ und gehe im Takt mit schnellen Schritten, lebenshungrig, neugierig, rein in die fremde Stadt. Normalerweise. Nicht hier, nicht heute.
Kein Deep House, keine Dynamik. Nur Stillstand und Verwirrung. Orientierungslos stehe ich auf dem Parkplatz vor dem Flughafen. Ausgebrannt, depressiv, lebensmüde. Ich bin nur hier, weil ich einem Leitsatz folge, der mein Leben lang gut funktioniert hat: If in doubt, go travel. Wenn du nicht weißt, wohin mit dir, hau einfach ab. Handgepäck reicht. Travel light, travel far. Irgendwohin. Jetzt bin ich zwar in der Ferne gelandet, aber noch genauso lost wie zu Hause.
Abwarten und Kippe rauchen. Und noch eine. Und noch eine. Nach der dritten breche ich ab und muss einen zweiten Leitsatz fürs Reisen über Bord werfen. Skip the Germans. Meine Landsleute versuche ich beim Backpacken eigentlich zu meiden, will mich fernhalten vom Konservatismus, der Spießigkeit und der deutschen Skepsis dem Leben gegenüber. Normalerweise. Denn ich bin gerade nicht in der Lage, mich um mich selbst zu kümmern, und muss irgendwie vom Flughafen in die Stadt. Bei der Frage, wer mir weiterhelfen kann, entdecke ich diesen Typen in meinem Alter, dem ich das Deutschsein auf hundert Meter ansehe. Er trägt Kurzarmhemd, hat eine DIN-A4-Mappe in der Hand und sieht im Gegensatz zu mir ziemlich organisiert aus. Also laber ich ihn an, er heißt Tobias, und ich folge ihm in die Taxischlange. Sein Ziel ist ein Hostel in der Altstadt, die Reservierung hat er ausgedruckt und die Adresse mit gelbem Textmarker unterstrichen. Ein Putzerfisch saugt sich an den Wal. Ich sauge mich an Tobias.
Im Taxi sabbelt er vorne mit dem Fahrer, während ich stumm hinten sitze. Danach dackele ich ihm durch die trubelige Altstadt hinterher. Hostel verrät das zerkratzte Schild an einer Hausfassade, und wir schlüpfen durch eine schmale Holztür in ein altes Haus, wo wir eine quietschende Treppe in die Lobby erklimmen. Dort warten wir ewig auf alten Ledercouches und glotzen dabei auf riesige Ölgemälde. Als endlich die Chefin kommt, nennt Tobias im vorauseilenden Gehorsam seine Reservierungsnummer, aber das ist unnötig, weil eh nur eine Person im Voraus gebucht hat. Die Frau Mitte fünfzig weiß längst Bescheid. Ohne jede Vorbereitung ergattere ich spontan ein Einzelzimmer. Kleines Bett mit pinker Bettwäsche, kleines eigenes Bad, kleiner Schreibtisch. Alles, was ich brauche. In erster Linie Privatsphäre. Hvala. Danke. Tür zu und erst mal eine Stunde schlafen.
Denkste. Natürlich werden es drei. Immer diese Mittagsschläfchen, die vollkommen ausarten. Noch müder als zuvor mache ich mich alleine auf, die Altstadt zu erkunden. Kleine Bistros servieren Shisha mit Schwarztee oder Bier und Chips. Woanders isst man Cevapcici im Brot oder Burek. Burek ist im Grunde das Gleiche wie türkischer Börek, auch wenn ich den Eindruck habe, dass man das hier nicht laut sagen darf. Eine SIM-Karte habe ich mir schon geholt. Geld habe ich auch getauscht, also nichts mehr zu erledigen.
Was mache ich hier eigentlich? In drei Wochen werde ich dreißig und irre allein durch Sarajevo. Meine Gedanken sind schwarze Wolken, und ich habe keinen Bock mehr, obwohl meine Reise gerade erst begonnen hat. Alles, was ich hier gerade sehe, fuckt mich ab: Selfiesticks, Handyhüllen, Kühlschrankmagneten. Ich kaufe euren Touri-Scheiß nicht!, will ich den Ladenbesitzern entgegenschreien, aber schlucke es runter wie die bitteren Pillen der letzten Zeit. Hubi, sei mal nicht so gehässig, habe ich zuletzt öfter gehört, aber ja, verfickte Scheiße, ja, ich bin gehässig. Gerade hasse ich die Welt und ihre Menschen, aber der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Grund ist, dass ich mich gerade selbst hasse. So wie der Nazi ganz tief drin ein Problem mit sich selbst hat und nicht mit der Hautfarbe der IT-Studentin. Ich weiß, dass ich nicht so bin. Also klar, ich bin kein Nazi, aber vor allem bin ich niemand, der sich selbst hasst oder die Welt, nein, so weit würde ich wirklich nicht gehen. Eigentlich liebe ich das Leben und die Freuden, die es bereithält - zumindest habe ich das mal. Aber zuletzt hat mir exzessives Arbeiten viele Freuden genommen und einen Teil meiner Persönlichkeit getötet. Das ist mein Problem.
Als ich versuche, zu identifizieren, ob mir mehr nach Ausrasten oder Heulen zumute ist, klingelt mein Handy. Tobias aus Berlin ist dran, der Organisierte, mit dem ich mir das Taxi geteilt habe.
»Ja, da bei der Moschee, auf dem Platz mit den vielen Tauben. Okay, bis gleich.«
Tobias will sich mit mir treffen, mir egal, meinetwegen. Ob mit oder ohne Gesellschaft macht für mich wenig Unterschied. Wie eine Kragenechse hinter den Glasscheiben ihres Terrariums bin ich in meinen eigenen Gedanken gefangen. Ich finde die Welt räudig und will nichts von ihr, suche nichts in ihr und sehe nichts in ihr. Alles, was ich will, ist meine Ruhe und mit niemandem etwas zu tun haben. Am liebsten würde ich aufhören zu existieren, aber das geht nicht, höchstens mit Selbstmord, und wir wollen die Kirche ja mal im Dorf lassen. In Bosnien kennt mich keiner, und zu Hause ist denkbar weit weg. Das ist schon mal ein guter Anfang.
Auf den Treppen vor der Moschee mit den vielen Tauben rauche ich eine Kippe und lasse den Blick wandern. Bald sticht er aus der Menge heraus, oder besser: wippt aus der Menge hervor. Mit federndem Gang schiebt er sich durch die Menschentraube und sucht angestrengt mit zusammengekniffenen Augen. Einen Lidschlag später sitzt er neben mir, der organisierte Tobias. »Puh, das war ganz schön anstrengend.« Er atmet tief durch.
Er hat gerade bei 44 Grad im Schatten seine sechsstündige City-Walking-Tour beendet. So was muss man wollen, und ich will so was nicht, nicht bei 44 Grad im Schatten. So wichtig das alles zu wissen ist, mit dem Bosnienkrieg und der Belagerung Sarajevos, so schlecht ich mich fühle, ein ignoranter Bastard zu sein, mir die jüngere Geschichte des Landes nicht von einem Zeitzeugen am Ort des Geschehens erklären zu lassen. Aber nein, Alter, es ist viel zu heiß, und ich habe Kraft für gar nichts, weder körperlich noch mental. TikTok-Psychologen würden sagen: Mir fehlen die emotionalen Kapazitäten. Statt Kriegs-Sightseeing saß ich die letzten vier Stunden im Café, habe drei Eiskaffee getrunken, eine halbe Schachtel Kippen geraucht und in mein Handy geglotzt: »Top 10 Mesut Özil Assists«, »Most Amazing Comebacks in Football History«, »Top 10 MMA Knock-outs of All Times«.
So verging mein erster Tag in Sarajevo. Was für ein Bosnienkrieg, Alter? Der geht mir heute voll am Arsch vorbei. Außerdem bekomme ich die City Walking Tour ja gerade nacherzählt: »Das war schon bedrückend in diesem Tunnel. Das muss man sich mal vorstellen, die einzige Möglichkeit, aus der Stadt rauszukommen«, erzählt Tobias. Eindrücklich seien die sechs Stunden gewesen, niederschmetternd. Die Belagerung, die serbischen Scharfschützen und die harten Winter. Ich versuche wirklich, mit aller Kraft zuzuhören, aber in meinem Kopf spielt 2018er Mumble Rap: okay cool, okay cool, okay cool.1
Tobias ist ziemlich alman-mäßig unterwegs und hat seinen Urlaub penibel durchgetaktet. Unterkünfte, Leihwagen, Touren - alle Buchungen abrufbereit am Smartphone und zur Sicherheit noch mal ausgedruckt in Klarsichtfolie. Er überlässt nichts dem Zufall. Sein kleiner Rucksack, genannt Daypack, ist ergonomisch geformt und bietet raffinierte Lösungen für cleveren Stauraum. Aus kleinen Taschen zieht er ständig nützliche Dinge hervor. Taschentücher, Ladekabel, Sonnencreme und so weiter. Alles, was auch ich im Hochsommer brauche, aber gerade nicht am Mann habe, weil gar nicht erst mitgenommen. Unsere Rollen sind also klar verteilt: Ich lebe als kleiner Putzerfisch von dem, was der große Organismus abwirft. Im Gegenzug freut er sich, wenn ich ihn auf seiner Reise durch den Ozean mit lustigen Sprüchen begleite. Als ich Tobias mit seiner Planungsneurose aufziehe, verteidigt er sich: »Ich habe ja nur zehn Tage Urlaub. Ich muss planen, damit sich jeder Tag lohnt.«
Das ist der Unterschied: Bei mir muss sich hier gar nichts lohnen. Ich mache keinen Urlaub. Ich laufe weg. So weit weg wie möglich von allem, was zu Hause ist. Ich habe gerade gekündigt. Zwei Mal. Erst meine ewige On-off-Beziehung beendet und dann einen gut dotierten Arbeitsvertrag das Klo runtergespült. Danach One-Way-Ticket nach Sarajevo, hier wollte ich schon immer mal hin. Das Problem ist nur: Mir geht's so beschissen, dass ich unfähig bin, irgendwas von meiner Umwelt wahrzunehmen.
In den letzten Jahren habe ich jedes Gefühl aus mir rausgearbeitet, und falls doch noch was übrig war, habe ich es weggesoffen, weggekifft, weggefickt. Ich bin ein funktionierender...
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