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Während des Landeanflugs über den Nadelwäldern fielen mir unvermittelt ein paar finnische Wörter ein. Wörter, die irgendwo an einer unbeleuchteten Stelle meines Gedächtnisses fast vierzig Jahre lang verborgen gelegen hatten.
Es war Oktober 2012. Zum ersten Mal seit 1973 setzte ich wieder einen Fuß auf finnischen Boden. Aleksi Siltala, mein finnischer Verleger, holte mich vom Flughafen ab.
»Heute Abend hast du frei«, sagte er, als wir nach Helsinki hineinfuhren. »Morgen früh bin ich um neun Uhr beim Hotel, dann fahren wir zur Buchmesse nach Turku.«
Frei . Es klang nach Schule - morgen haben alle neunten Klassen die ersten beiden Stunden frei -, und es fiel mir schwer, einen Seufzer der Erleichterung zu unterdrücken. Ich hatte mit etwas anderem gerechnet: einem Essen mit Verlagsmitarbeitern, einem lokalen Autor und einem Journalisten, der keine Fragen stellt, sondern sich erst beim Kaffee mit Cognac wie wild Notizen zu machen beginnt.
Im Auto meines finnischen Verlegers demonstrierte ich noch mein umgängliches Ich, oder um es anders zu sagen: Ich spielte die Rolle des Causeurs, der ich nicht immer bin, mit Begeisterung. Es fiel mir weniger schwer, jetzt, da ich wusste, heute Abend würde ich allein sein - erst in meinem Hotelzimmer und danach in einem Restaurant.
Ich bin immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass dem Menschen pro Tag nur eine beschränkte Anzahl Wörter zur Verfügung steht. Etwa wie das Datenvolumen eines Handys. Irgendwann signalisiert das Flackern eines roten Lämpchens, dass der Wortvorrat fast verbraucht ist. Wenn man dann noch mit den Verlagsmitarbeitern, dem an sich schon nicht gesprächigen lokalen Autor und dem geduldig auf einen Moment der Schwäche lauernden Journalisten in einem Restaurant sitzt, hat man ein Problem.
Mehr als einmal ist es mir passiert, dass ich schon bei der Vorspeise Sendepause habe, der Motor stottert, ich zum Stehen komme. Ich unternehme noch einen verzweifelten Versuch und klammere mich an Aktualitäten: den letzten Terroranschlag, eine Frage nach der Anzahl der Immigranten in dem Land, in dem ich an dem Abend zu Gast bin, aber ich bin schon nicht mehr bei der Sache. Ich rede zwar noch, aber es sind nicht mehr meine eigenen Wörter. Fragmente von Zeitungsartikeln und Videotexten haben sich an meiner Zunge und an meinem Gaumen festgeklammert. Ich kaue darauf herum wie auf einem zu großen und zähen Stück Fleisch, am liebsten würde ich es runterschlucken, habe aber Angst, dass es mir in der Luftröhre stecken bleibt. Der Journalist beugt sich über den Tisch zu mir und sieht mich an.
»Habe ich Sie gerade sagen hören, dass die Immigranten auch in Ihrem Land ein Problem darstellen?«, fragt er, er holt Kugelschreiber und Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts und legt beides neben seinen Teller.
Ich entschuldige mich und gehe zur Toilette. Ich bleibe so lange, wie das redlicherweise möglich ist, bis jemand von der Gesellschaft vom Tisch aufsteht, um nach mir zu schauen. »Ihm wird doch nicht schlecht geworden sein?«
Ich spritze mir Wasser ins Gesicht. Im Grunde habe ich nur einen einzigen Wunsch: dass sie mich vergessen haben. Dass sie auch ohne mich einen netten Abend haben. Sie werden mich sowieso schnell vergessen, warum nicht schon heute?
Ich schaue in den Spiegel über dem Waschbecken und sehe ein müdes Gesicht. Erloschen. Ein Weihnachtsbaum, dessen Kerzen jemand ausgeblasen hat. Nur noch langweilige grüne Zweige. Dieses Gesicht glaubt nicht mehr daran, vor allem nicht an sich selbst.
Ich habe einen kritischen Punkt erreicht. Wenn ich mich gleich wieder der Gesellschaft anschließe, muss ich eine wichtige Entscheidung treffen. Reden ist nicht mehr drin. Zumindest nicht ohne Hilfsmittel. Mein Alkohollimit habe ich schon erreicht (vier Gläser Bier), der Alkohol befindet sich schon nicht mehr in meinem Gehirn, er hat sich irgendwo tief in meinem Körper eingenistet. Momentan macht er mich schwer und zieht mich nach unten. Wenn ich mich ab jetzt auf Wasser beschränke, werde ich noch einsilbiger. Im günstigsten Fall werden sie mich noch während des Essens vergessen und keine Notiz mehr von mir nehmen. Sie sind längst vom Höflichkeitsenglisch auf ihre eigene Sprache übergegangen. Sie lachen auch schallender, jetzt, da sie sich nicht mehr um mich zu kümmern brauchen. Ganz selten wendet sich mir noch jemand zu, fragt, ob es mir schmeckt, ob ich den Rehbraten in Rotweinsoße - eine Spezialität des Hauses - nicht zu zäh finde.
Ich bin übrigens der Einzige, der diese Spezialität des Hauses bestellt hat, die anderen mampfen Hamburger mit Pommes und Salat. Was gäbe ich jetzt nicht für einen Hamburger; der Rehbraten befindet sich in einem eigenen Tongefäß, ich habe bestimmt schon die Hälfte aufgegessen, aber der Boden ist noch lange nicht in Sicht. Es kommt mir so vor, als würde ich mich mit jedem Bissen vom Ende entfernen, ich gerate in Panik, eine ähnliche Panik wie die, die ich manchmal beim Schwimmen im Meer erlebt habe: Ich habe die Brandung hinter mir, und auf einmal bin ich müde, ich kehre um, aber der Strand will einfach nicht näher kommen, die Strömung ist zu stark, sie packt mich und zieht mich aufs offene Meer hinaus.
Der Journalist hat seinen Hamburger verzehrt und beugt sich wieder zu mir herüber. Hatte ich ihm seine Frage nicht längst beantwortet, die Immigrantenfrage, die in den letzten Jahren in keinem Interview fehlen darf?
»Einst waren wir alle Ausländer«, sage ich, und ich weiß inzwischen aus Erfahrung, dass dies wahrscheinlich auch die Überschrift des Artikels sein wird. Der Journalist sieht mich mit fragendem, ja verständnislosem Blick an.
»Wir sind doch schon seit Jahrtausenden einer permanenten Völkerwanderung ausgesetzt«, führe ich weiter aus - ich habe die Gabel hingelegt, je länger ich rede, desto sicherer bin ich vor dem Rehbraten. »Es war köstlich, nur etwas zu viel«, werde ich nachher mit pseudo-schuldigem Gesicht zum Ober sagen können.
»Der Mensch ist immer in Bewegung gewesen«, sage ich. Ich setze dabei keine interessante Miene auf, ich tue nicht so, als verkündete ich etwas Neues. Doch dann lege ich los, es ist ein Rätsel, woher plötzlich all die Wörter kommen, vor Kurzem noch fiel mir überhaupt nichts mehr ein. Und gerade noch habe ich allen Ernstes erwogen, der Gesellschaft ganz Adieu zu sagen.
»Die Finnen und Ungarn kamen aus der Mongolei«, höre ich mich zu dem Journalisten sagen. »Die Finnen zogen nach Norden, die Ungarn bogen ab nach Süden. Deshalb sind ihre Sprachen auch heute noch miteinander verwandt. Allerdings kommt diese Verwandtschaft vor allem in der Verwendung unverständlicher Wörter für Dinge und Begriffe zum Ausdruck, die sonst auf der ganzen Welt ziemlich ähnlich klingen. Weißt du, was Polizei auf Ungarisch heißt? Rendõrség. Telefon auf Finnisch? Puhelin.«
Der inzwischen etwas gesprächigere Lokalschriftsteller hält die Weinflasche über mein Glas. Ich nicke. Da ist der kritische Punkt. Oder eigentlich war er schon erreicht, als ich von der Toilette zurückkam. Alkohol oder kein Alkohol. Weniger oder mehr als drei, vier Gläser. Morgen ist ein neuer Tag. Ein voller Tag, das Programm, das mir im Taxi vom Flughafen in die Stadt in die Hand gedrückt wurde, habe ich zum Glück vergessen. Mit einem Kater, auch wenn er nur leicht ist, werde ich morgen keine Bäume ausreißen. Es wird ein Tag werden wie im Büro, wenn zu wenig Arbeit ist und die Uhrzeiger an der Wand still zu stehen scheinen. Aber jetzt ist jetzt. Man hat noch zu reden, auch ich.
»Warum die Finnen im Norden landeten und die Ungarn im Südosten, werden wir nie mehr erfahren. Ein Streit zwischen zwei Stammesführern. Wegen einer Frau wahrscheinlich. Vielleicht waren es sogar Brüder. »Ich gehe nach Süden, es ist mir hier zu kalt!«, schreit der eine. »Tu doch, was du nicht lassen kannst, du sturer Bock!«, schreit der andere und wendet sein Pferd gen Norden. »Und nimm die Hure gleich mit!«
Ich weiß nicht, woran es liegt, vielleicht ist das Wort Hure schuld, jedenfalls kommt es mir so vor, als würden mir jetzt nicht nur der Journalist und der Lokalschriftsteller zuhören. Die Gespräche der anderen sind verstummt, wer weiß, wie lange schon. Der einsilbige, ausländische Schriftsteller ist auf einmal der Mittelpunkt der Gesellschaft geworden. Am Ende des Abends werden sie darum würfeln, wer ihn zu seinem Hotel begleitet.
Ich lasse mir nichts anmerken und wende mich wieder halb dem Journalisten, halb dem Lokalschriftsteller zu.
»Dann kamen die Hunnen«, setze ich meinen Vortrag fort. »Oder vielleicht kamen die schon früher, das sei mal dahingestellt. Auf alle Fälle kam in Europa alles aus dem Osten. Die Goten, die Germanen - jahrhundertelang gelang es den Römern, diese ungebildeten Barbaren an den Außengrenzen ihres Reiches auf Distanz zu halten. In manchen entlegenen Winkeln sogar mit einer Mauer wie der des Kaisers Hadrian an der Grenze des heutigen Englands zu Schottland. Aber schließlich überwanden sie auch die. Und schlugen alles kurz und klein. Statuen, Tempel, Thermen, alle Zeugnisse der Zivilisation. Es ist ein Wunder, dass man in Rom heute noch Ruinen bewundern kann, offenbar war ihre Zerstörungswut schon abgeflaut, bevor sie sie am Kolosseum oder dem Forum Romanum auslassen konnten.«
Was von all dem wird wohl morgen oder übermorgen in der Zeitung stehen?, frage ich mich während einer kurzen Atempause, in der ich die Gelegenheit nutze, mein Glas zu leeren, und dem Lokalschriftsteller ein so gut wie unsichtbares Zeichen gebe, es nachzufüllen.
»Das Unheil kommt also immer aus dem Osten, das...
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