Schweitzer Fachinformationen
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Tjark stand auf dem Friedhof der Sankt-Clemens-Kirche in Kirkeby auf der dänischen Insel Rømø und steckte sich eine Zigarette an. Die Kirche stammte aus dem dreizehnten Jahrhundert. Sie war weiß getüncht und hatte hellgraue Dächer. Wie viele nordische Gotteshäuser wirkte sie wie eine Burg, ihr Turm glich einem Bergfried mit Schießscharten, und ihr wuchtiges Schiff erinnerte an eine Scheune. Eine Kirche, wie für den Krieg gebaut. Eine Festung, um der Herde Gottes Schutz und Zuflucht zu gewähren.
Tjark betrachtete die verwitterten Grabsteine. Viele waren jahrhundertealt und Walfang-Kommandeuren der Insel gewidmet. In Gräbern jüngeren Datums lagen laut den Inschriften Männer aus Neuseeland. Fünf Piloten, die im Zweiten Weltkrieg über der Deutschen Bucht abgeschossen worden waren. Sie waren von einer Insel am Ende der Welt gekommen, um auf einer anderen Insel begraben zu werden. Einer, die durch den Rømødæmningen-Damm mit dem Festland wie ein Embryo mit der Plazenta verbunden war.
Er sah dem Rauch seiner Zigarette hinterher und blickte in den wolkenlosen Himmel. Das Blau war intensiv - tiefer als anderswo. Überall an der Nordsee sorgte der Wind dafür, dass die Konturen klarer und die Farben leuchtender waren. Tjark stellte sich vor, wie die Bomberformationen ihre Schatten auf das Land geworfen hatten. Er dachte an die Kampfjäger, die sich auf sie stürzten, die donnernden Flaks.
Bei den toten Piloten handelte es sich um gerade mal zwanzigjährige Burschen, und er fragte sich, ob jemals ihre Geliebten, Frauen oder Mütter hergekommen waren, um Blumen auf die Gräber zu legen. Von Neuseeland nach Rømø, zu einer Zeit, in der es noch keine Linienflüge gab - nein, das war ziemlich unwahrscheinlich. Vielleicht in späteren Jahren. Vielleicht auch niemals. Vielleicht waren die Gräber deswegen eher Mahnmale. Fünf Jungs von der anderen Seite des Globus, begraben auf einer Insel, deren Namen sie wohl nicht einmal aussprechen konnten. Fremde in fremder Erde, die ein fremdes Meer beschützen wollten.
Tjark lehnte sich an die kalkweiße Mauer, blinzelte und setzte sich eine Sonnenbrille auf. Durch die getönten Gläser verfolgte er das ballettartige Schauspiel, das sich vor den Gräbern der Piloten vollzog. Er sah Menschen, die sich wie in Zeitlupe bewegten. Wie in einem der Träume, in denen man vor etwas fliehen muss, sich aber in einer geleeartigen Masse zu befinden schien. Die Männer schritten über den kurz geschnittenen Rasen, als wollten sie Golf spielen und Maß für den nächsten Schlag nehmen, drehten sich um die eigene Körperachse oder hockten sich hin, um bunte Kärtchen mit Nummern abzustellen. Der Rasen war so grün, dass es in den Augen schmerzte. Die Farbe der faserfreien Overalls, die die merkwürdige Performancegruppe trug, unterschied sich keinen Deut vom Weiß der Kirche und der Mauer.
Die Farbe unterschied sich auch kaum von der blassen Frauenleiche, die zwischen den Grabsteinen lag - wenn man einmal von dem violett-schwarzen Muster absah, das ihr in die Haut geschnitten worden war. Sie war nackt, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Die Gelenke waren mit Draht umwickelt. Die Muster sahen aus der Nähe aus wie Runen und überlagerten sich mit den Linien einiger Tätowierungen. Tatsächlich war der ganze Körper mit den in die Haut geschnittenen Runen übersät. Und am Kopf der Leiche waren Äste und Zweige zu einer Form geflochten, die an eine Krone oder ein Geweih erinnerte.
Es war ein schockierender Anblick. So als habe sich eine Höllenpforte geöffnet und etwas ausgespuckt, das auf dieser Welt nichts zu suchen hatte.
Anne Madsen trat neben Tjark und durchbrach das Schweigen: »Das ist Freja Holm. Es ist ihr bürgerlicher Name. Sechsundzwanzig Jahre alt, aus Kopenhagen. Vor vier Tagen ist sie von ihrem Management als vermisst gemeldet worden. Unter ihrem Künstlernamen Hela kennt sie eigentlich jeder, der sich in Dänemark oder Schweden für Musik interessiert. Sie ist in den Charts und gilt als ein Gothic-Rock-Star. Du stehst doch auf Musik, da hast du sicher schon von ihr gehört?«
Madsen trug eine ausgewaschene Jeans und ein kariertes Holzfällerhemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Sie war Anfang fünfzig und eine Frau, der das Älterwerden hervorragend stand. Ihren Ausweis, der sie als Mitglied der Kriminalpolizei von Århus kennzeichnete, hatte sie wie eine Kette um den Hals hängen. Die Haare waren raspelkurz geschnitten und im Sommer noch sehr viel blonder als im Winter. Madsen hatte eine gesunde Hautfarbe und einige tiefe Falten an den Augenwinkeln beim Blinzeln gegen die grelle Sonne, obwohl sie eine modische Sonnenbrille trug.
»Nein, nie gehört. Ich mag eher Motown. Soul.«
Tjark drückte die Zigarette an der Schuhsohle aus und ließ sie in der Tasche seines olivgrünen Army-Blousons verschwinden, den er über die linke Schulter geworfen hatte. Er sah wieder zur Leiche. Der Anblick war so schockierend wie eben. An manche Dinge gewöhnt man sich nie, dachte er. Zum Beispiel, dem Wahnsinn so offen ins Gesicht zu sehen wie an dieser alten Kirche.
Madsen folgte seinem Blick. »Im letzten Winter ist eine prominente Beachvolleyballerin auf dieselbe Art und Weise hergerichtet tot aufgefunden worden - Mette Slettemark. Und jetzt finden wir eine weitere Prominente, und der Modus scheint identisch zu sein. Die Körperhaltung ist ähnlich. Sie ist außerdem unbekleidet, die Zeichen in der Haut und diese Äste am Kopf .«
Tjark musterte die Zeichen, die purpurn in der Haut klafften. Merkwürdig war, dass die Schnitte nicht blutig aussahen. Überhaupt schien es nirgends Blut zu geben.
Er fragte: »Macht er das mit den Runen, wenn sie noch leben?«
»Soweit wir wissen, ja.«
»Wäscht er die Körper ab?«
Madsen nickte. »Mette Slettemark hat er die Zeichen in die Haut geschnitten, sie danach erwürgt und ihr nach dem Tod die Hauptschlagadern geöffnet, um sie ausbluten zu lassen, allerdings nicht am Fundort. Er hat den Körper mit Bleiche gereinigt, bevor er ihn auf einem Feld platzierte. Ich nehme an, dass das bei Hela ebenfalls so war. Mette kniete in der gleichen Haltung auf dem Boden und war daran festgefroren. Es war Winter.«
Tjark nickte.
Madsen fuhr fort: »Wir gehen davon aus, dass der Täter Mette einige Zeit irgendwo festgehalten hat. Wie Hela wurde sie mehrere Tage lang vermisst, und bei der Obduktion stellte man fest, dass der Magen leer war. Das stützt die Annahme einer mehrtägigen Gefangenschaft. Wir glauben, dass der Täter in seinem Versteck alles vor- und nachbereitet. Dort tötet er das Opfer, schneidet die Runen in die Haut und drapiert es anschließend an einem anderen Ort.«
»Und bevor er die Leiche inszeniert, öffnet er ihr die Adern und lässt sie ausbluten, sagst du?«
»Ja.«
»Sie leben noch, während er schneidet?«
»Wir sind nicht hundertprozentig sicher.«
»Was bedeuten die Runen?«
»Bei Mette Slettemark handelte es sich um Zitate aus der Edda. Wir haben Spezialisten darauf angesetzt, und es dauerte seine Zeit, bis sie verstanden, was in den Körper geritzt worden war. Runen sind sehr alte Schriftzeichen - die ältesten stammen aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus. Sie waren niemals eine Schreibschrift, sondern eher eine offizielle Symbolschrift - was womöglich die Bedeutung dessen noch hervorheben soll, was der Täter in die Haut schneidet. Runen wurden zumeist für Inschriften verwendet.«
»Was hat er in ihre Haut geschrieben?«
Madsen sagte: »Das Zitat bei Mette stammt aus der Älteren Edda, der Lieder-Edda. Darin geht es um Götter- und Heldenlieder. Soweit man weiß, stammt die Edda aus Island und war ein mittelalterliches Sammelsurium verschiedener Sagen aus unterschiedlichen nordischen Epochen und der germanischen Mythologie, die bis zurück zur Zeit der Völkerwanderung reichen und auch das Nibelungenlied aufgreifen. Allerdings ist die Edda nicht in Runen geschrieben, sondern wurde im christianisierten Island in Altisländisch verfasst. Wie auch immer: Das in Mettes Haut geschnittene Zitat lautet >Wechseln sollst du Worte niemals mit unklugen Laffen.< Was er in Helas Haut geschrieben hat, wissen wir natürlich noch nicht.«
Tjark fragte nach den Tätowierungen, die er auf der Haut von Freja beziehungsweise Hela erkannt hatte - auf den Schultern, den Armen und Beinen. Keltische Motive. Er selbst trug ebenfalls eine Tätowierung auf dem Unterarm. Die Welle war dem Holzschnitt »Die große Welle vor Kanagawa« von Hokusai nachempfunden. Das Motiv stand für Tjarks besondere Beziehung zur See. Er hasste sie und mied sie wie der Teufel das Weihwasser. Trotzdem kam er ständig mit dem Meer in Konflikt. Als ob irgendein Fluch auf ihm lastete und ihn das verdammte Wasser nicht loslassen wollte.
»Es sind nach unserer Meinung normale Schmuck-Tätowierungen«, erklärte Madsen, »zudem älteren Datums, und sie haben daher nichts mit der Täterhandschrift und nichts mit den Runen zu tun. Unser Mann schneidet. Er sticht nicht.«
Madsen betrachtete Tjark einige Momente. Sie lächelte knapp. »Danke, dass du mitgekommen bist.«
»Mir war sowieso langweilig.«
Madsen lachte.
Tjark war kürzlich in das Ferienhaus in der Gegend von Hvide Sande am Ringkøbing-Fjord zurückgekehrt, das er auf unbestimmte Zeit gemietet hatte. Er war Polizist, Kriminalhauptkommissar, und arbeitete für das LKA Niedersachsen in einer Sonderkommission für Gewaltverbrechen und Organisierte Kriminalität, die sich SKO abkürzte und außer ihm aus Femke Folkmer, Fred Berger und Ceylan Özer bestand, die die Taskforce leitete. Zusammen waren sie die Fantastic Four -...
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