Schweitzer Fachinformationen
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Wahrscheinlich begann die ganze Geschichte mit dem Camp der Unbegabten an dem Abend, als Bjarne Leander Fuchs und sein bester Freund Luca Voß von der alten Holzbrücke mit den schwarzen Bohlen sprangen.
Es war Anfang April, unangenehm kühl und dunkel wie in einem Elefantenrüssel. Dichte Wolken hingen tief am Himmel und verdeckten den schmalen Mond und die Sterne. Als Bjarne und Luca sich über das zerkratzte Geländer beugten, konnten sie die Wertach in der Finsternis unter sich nicht sehen, sie hörten nur das Plätschern des Wassers.
»Bis unten müssen es weit über zehn Meter sein«, sagte Luca. »Ich schau da bei jedem Konditionstraining runter, wenn Vater mich mit dem Moped über die Brücke hetzt.«
»Siebzehn Meter zweiundvierzig«, erwiderte Bjarne. Er hatte am Nachmittag mit einem Senkblei genau nachgemessen, um sicherzugehen, dass es höher war als der Zehn-Meter-Turm im Schwimmbad. Ein Zehner war Spaß, aber zum Spaß waren sie ja nicht hier. »Plusminus zwei, drei Zentimeter, je nach Wellengang.«
»Siebzehn Meter«, wiederholte Luca ehrfürchtig.
»Zweiundvierzig«, ergänzte Bjarne.
»Hätte ich nicht gedacht.«
»Ich auch nicht. Hab extra zweimal gemessen.« Dreimal, wenn man die fehlerhafte Messung von dreizehn Metern zwölf mitzählte, und sogar viermal, wenn man den letzten Versuch einrechnete, bei dem er das Senkblei seines Vaters hatte fallen lassen und es in der Wertach verschwunden war.
Sie schwiegen, und der Wind frischte auf. Die Blätter der hohen Bäume an beiden Ufern raschelten, und der Wind flaute unentschlossen wieder ab.
»Wirklich verdammt hoch.« Mit der Handylampe leuchtete Luca in die Tiefe. Das Licht glitzerte auf den winzigen Wellen.
»Es muss so hoch sein, wenn wir fliegen wollen«, behauptete Bjarne, obwohl er es nicht sicher wusste. Es auch nicht wissen konnte, denn was die besonderen Begabungen anbelangte, die bei Jugendlichen plötzlich auftreten konnten, war alles nur Theorie. Es gab keine allgemein gültigen Regeln, wie man die Fähigkeit zu fliegen erlangte, unsichtbar zu werden oder mit einem Fingerschnippen eine kleine Flamme auf dem Daumen zu erzeugen. Doch Bjarne wollte unbedingt fliegen, und dafür würde er alles tun und alles riskieren. Dafür verließ er sich sogar auf unbewiesene Vermutungen.
»Bist du sicher, dass das klappt?«, fragte Luca.
»Nichts ist sicher.« Bjarne zuckte mit den Schultern.
Luca seufzte und schaltete das Handy aus, um es wegzulegen. »Egal, tun wir's.«
Bjarne nickte, machte jedoch keine Anstalten, über das Geländer zu steigen. Er starrte in die Schwärze und kickte einen kleinen Stein hinab. Den Aufprall hörte er nicht. Ist wirklich verdammt hoch.
Aber er würde springen, er wollte nicht mehr nur ein ganz normaler Junge sein, der selten groß auffiel. Er hatte durchschnittliche Noten, zockte durchschnittlich gut auf der Konsole, spielte durchschnittlich Fußball und ziemlich mies Gitarre - zum Glück für seine Nachbarn aber auch ziemlich selten. Er war durchschnittlich groß, hatte unauffällig dunkelblonde Haare und graublaue Augen - durch und durch normal eben.
»Deine Ausdauer ist nicht normal«, hatte Luca mal gesagt, »und du bist härter im Nehmen als die meisten, hast Mut und Instinkt.« Aber Luca war sein bester Freund und das alles nicht richtig messbar, und so war Bjarne da nicht sicher. Sicher war dagegen, dass er nicht fliegen konnte.
Noch!
Bjarne kannte zahlreiche Theorien, wie sich diese Begabungen entwickelten, und die Somnale-Begabung-Theorie besagte, dass in jedem Einzelnen eine Begabung schlief, man musste sie nur freisetzen. Das geschah dann, wenn man die Begabung ganz dringend benötigte. Unverwundbarkeit aktivierte sich beispielsweise nicht bei einer einfachen Verstauchung, sondern wenn man von einem Zug erfasst wurde. Und die Fähigkeit zu fliegen erwachte eben bei einem Sturz aus dem Flugzeug, in eine Schlucht oder von einer hohen Brücke.
»Aber wir stürzen nicht, wir springen freiwillig«, hatte Luca am Nachmittag gesagt.
»Das weiß nur unser Kopf, und das macht nichts«, hatte Bjarne geantwortet und den Begabten-Forscher Dr. Alois Herbst zitiert. »Unseren Körper und unser Unterbewusstsein müssen wir austricksen, das reicht, denn von dort kommt die Begabung. Wenn sie in unserem Bewusstsein wäre, wären wir uns ihrer ja bewusst, oder?«
»Hä? Was?«
»Das bedeutet einfach, dass wir uns von so hoch oben fallen lassen müssen, dass es uns keinen Spaß macht, sondern Angst.«
»Tolle Theorie«, hatte Luca gemurmelt, aber er hatte nicht gekniffen, er war eben ein echter Freund.
Und darum standen sie jetzt hier auf der viel zu hohen Brücke in der Kälte und Dunkelheit. Niemand mit klarem Verstand würde hier freiwillig springen, und Bjarne hoffte, dass sein Unterbewusstsein das auch so sah. Sein Bewusstsein zumindest wollte nicht springen.
»Stell dir vor, in uns schläft eine ganz andere Fähigkeit, die aus Versehen erwacht«, sagte Luca plötzlich und lachte. »Auf dem Wasser laufen zum Beispiel, und wenn wir aufs Wasser klatschen, ist es für uns fest wie Asphalt.«
Auch Bjarne lachte. »Oder Wasser zum Kochen bringen in drei Sekunden.«
»Wasser in Gold verwandeln. Boom!«
»Auch schön. Das wäre dann die Murphy's-Law-Theorie: Die Begabung erwacht in dem Augenblick, in dem man sie überhaupt nicht brauchen kann.«
Lucas Lachen erstarb. »Gibt's die?«
»Klar, es gibt jede Theorie. Aber die ist wirklich nur eine Theorie, und da glauben nur Spinner dran. So was ist noch nie passiert.«
»Gut.« Luca nickte, aber er klang unsicher. »Vielleicht kannst du ja Fische magisch anlocken, wie es Die Menschliche Angel kann, und plötzlich steckst du mitten in einem Schwarm, der dich mitschleift.«
»Oder Flusskrebse, die alle nach dir schnappen .«
»Oder du verwandelst Wasser in Wein, und alle Fische sind plötzlich hackedicht.«
Sie lachten wieder laut und immer lauter, sie lachten, um ihre Angst im Zaum zu halten. Ganz vertreiben konnten sie sie nicht, und das war gut so, denn sie brauchten sie ja.
Bjarne zog die Jacke aus, hängte sie an den Fahrradlenker und hoffte, dass die Murphy's-Law-Theorie wirklich nur Blödsinn war. Ihn fröstelte - für morgen früh waren Temperaturen um den Gefrierpunkt vorhergesagt -, trotzdem hängte er den Schal zur Jacke.
In dem Moment fing es an zu nieseln.
»Mistwetter«, kommentierte Luca und schlüpfte ebenfalls aus der Jacke.
»Ist doch gut«, widersprach Bjarne. »Je mistiger das Wetter, umso leichter tricksen wir unsere Unterbewusstseins aus.«
»Wenn du meinst.« Zweifelnd sah Luca auf sein Smartphone. Das konnte er beim Sprung ins Wasser schlecht mitnehmen. »Was ist, wenn jemand kommt, und die Handys klaut?«
»Hier kommt nachts niemand her«, sagte Bjarne, »schon gar nicht bei Regen.«
Aber dann schoben sie ihre Räder sicherheitshalber doch ins Ufergesträuch, wo sie vom Weg aus nicht gesehen wurden. Die Handys steckten sie in die Taschen der aufgehängten Jacken.
»Mann, das wird schweinekalt, wenn wir ins Wasser klatschen.« Luca kreiste die Arme, während sie zurück auf die Brücke gingen.
»Dann klatsch nicht ins Wasser, sondern flieg!«, erwiderte Bjarne. Er zitterte, und seine Angst wuchs, das war großartig.
»Pst«, zischte Luca. »Nicht, dass dich unsere Unterbewusstseins hören.«
»Tun sie nicht.« Bjarne winkte ab. »Ich habe gelesen, damit kommunizieren wir nur im Schlaf und unter Hypnose.«
Luca nickte, aber das war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. »Und wenn eine andere Begabung in mir schlummert?«
»Kommt auf die Begabung an. Wenn du fast ersäufst und es ist die Fähigkeit, unter Wasser zu atmen, dann wird sie freigesetzt.«
»Und wenn nicht?«
»Dann solltest du schnell auftauchen.« Bjarne lachte, aber der Gedanke machte ihm trotzdem Angst. »Wenn du feuerresistent bist, dann .«
»Bin ich nicht«, unterbrach Luca ihn. »Hab's ausprobiert.«
»Stimmt, autsch.« Bjarne erinnerte sich an die roten Narben auf Lucas Unterarm.
»Ja.« Luca legte die Hände auf die Brüstung. »Unter Wasser atmen wäre was. Dann könnten wir im Meer nach Schätzen tauchen oder mit Delfinen schwimmen.«
»Ja. Aber ich würde trotzdem lieber fliegen.«
»Ich würde jede Begabung nehmen«, flüsterte Luca, und Bjarne wusste weshalb.
Vor zwei Jahren war Luca beim FC Augsburg ganz knapp aus der U13 aussortiert worden und beim Probetraining von 1860 München ebenso knapp durchgefallen, weil er mit Fieber und viel zu nervös angetreten war. Damit bekam er keinen Platz im Sportinternat, und damals hatte er Bjarne gestanden, dass er nicht mehr daran glaube, es als Profifußballer zu schaffen. Allen anderen gegenüber gab er sich kämpferisch und ließ sich von seinem Vater aufzählen, wer es alles ohne Ausbildung im Leistungszentrum in die Bundesliga geschafft hatte. Jahrelang hatten ihm seine Eltern eingetrichtert, er sei etwas Besonderes, er könne ein Star werden, und von dem Gedanken konnten sie sich nicht mehr lösen.
Neulich war angeblich ein Späher vom FC Bayern beim Spiel gewesen, und Luca hatte so gut gespielt wie lange nicht, aber niemand war danach auf ihn zugekommen, niemand hatte angerufen.
»Bestimmt passiert das noch«, sagten alle und klopften ihm auf die Schulter, und Luca lächelte dazu, aber Bjarne wusste, dass er nicht daran glaubte.
Würde er nun eine Begabung entwickeln, müsste er im Sport nichts mehr erreichen, dann wäre er etwas Besonderes und zugleich frei vom Druck.
Fast...
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