Schweitzer Fachinformationen
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Die Praxis lag etwas außerhalb. In einer der Gemeinden an der Seeküste, die nach der Farbe des Lichts benannt war, das abends die ausladenden Villen überzog. Als Rosa stadtauswärts radelte, standen beim Fußgängerstreifen am Bahnhof Tiefenbrunnen bereits erste Mütter und Väter auf dem Weg ins nahe Strandbad. Die Schiebegriffe der Kinderwagen waren so schwer beladen, dass die Gefährte wohl augenblicklich nach hinten gekippt wären ohne die als Gegengewicht festgeschnallten Kinder. Kühltüten. Klapp-, Liegestühle. Zusammensteckbare Strandmuscheln. Rosa fragte sich, ob das alles wirklich nötig war. Und sie wusste es nicht. Wie denn auch? Auf der Verkehrsinsel wiegten sich die Pappeln in der Brise. Ebenso wie die Masten der Segelschiffe, die im Hafen neben dem Betonwerk ankerten und Rosa an Essstäbchen denken ließen. Kurz darauf leuchteten die Plastiktische vor dem Klubhaus ihres Fischereivereins durch das Laubwerk. Doch ein Blick auf die Uhr ließ sie kräftiger in die Pedale treten. Jenseits der Stadtgrenze begann sich die Gegend zu verändern. Die blickdichten Zäune und Hecken wurden höher, nur durch schwere Eisentore unterbrochen. Auf geharkten Kiesplätzen standen Limousinen und Geländewagen mit niedrigen Zahlen auf den Nummernschildern, die regelmäßig versteigert wurden, was jedes Mal einige Millionen in die Stadtkasse spülte. Vor einem Anwesen mit Säulen aus Marmor schloss Rosa ihr Rennrad ab und löste den Stoff des Kleides, das sie für die Fahrt über den Knien zusammengeknotet hatte. Neben dem Empfangstresen thronte ein lebensgroßer Buddha.
»Haben Sie einen Termin?« Die schrille Stimme passte so gar nicht zum Plätschern des Zierbrunnens auf dem Tresen. Die Praxisassistentin schob ihre sorgfältig manikürte Hand über die Muschel des Telefonhörers.
Rosa riss sich vom Anblick des Buddhas los, dessen Hände, locker im Schoß ruhend, zu einer Schale gefaltet waren. »Ich bin etwas knapp dran. Entschuldigung.« Sie räusperte sich. Dann blickte sie wie beiläufig in Richtung Wartezimmer, um sich zu vergewissern, dass auch niemand mithörte.
»Ihr Name?«, schrillte es erneut. Die Tür war geschlossen. Rosa antwortete nun mit fester Stimme: »Ich heiße Zambrano.«
Fingernägel flogen wie Pfeilspitzen über die vollgeschriebenen Seiten des Kalenders. »Da haben wir es: Zambrano. Sie kommen zur Kryokonservierung?«
Rosa zuckte zusammen.
Die Assistentin strich den Eintrag durch. »Doktor Jansen braucht noch einen Moment. Aber das Untersuchungszimmer ist bereits frei.« Sie zeigte auf eine angelehnte Tür am Ende des Flurs, bevor sie den Telefonhörer wieder aufnahm.
Als Rosa sich an den geräumigen Tisch setzte, fasste sie sich an die Ohren. Die glühten und waren bestimmt tiefrot. Sie schüttelte ihre Locken darüber. Noch immer glaubte sie, sich rechtfertigen zu müssen. Ihre mittlere Schwester Valentina war schon Mutter. Und Alba, die Jüngste, würde es in wenigen Tagen ebenfalls werden. Es war nicht so, dass sie ihre kleine Nichte und ihren Neffen nicht mochte. Im Gegenteil: Sie bekochte ihre Familie regelmäßig. Oder zumindest sooft es der Dienstplan zuließ. Trotzdem erinnerten sie die Marmeladen- und Saucenflecken, von speckigen Händlein hinterlassen, jedes Mal an die Leerstelle in ihrem Leben. Alba war zwar altersmäßig weiter von ihr entfernt als Valentina, doch je länger sie erwachsen waren, desto unwichtiger wurde dieser Abstand. Und sie war es schließlich auch, die Rosa bestärkt hatte.
»Jetzt hör mal! Du kannst dich doch auch als Singlefrau befruchten lassen. Wenn du niemanden findest, dann gehst du in zwei Jahren einfach in eine Klinik ins Ausland. Dort kannst du alles machen lassen. Alles!« Ihre jüngste Schwester musste es ja wissen. Um schwanger zu werden, hatte sich ihre Partnerin vor einigen Monaten ebenfalls in Behandlung begeben. Erfolgreich, wie der kugelrunde Neunmonatsbauch zeigte, den Katrin vor sich herschob wie eine lebende Trophäe. Rosa wurde regelmäßig ungefragt mit Bildbeweisen überhäuft. Oder Rezepten, um die Plazenta nach der Geburt zu trocknen. Bloß nicht zu viel denken jetzt! Sie schloss die Augen. Versuchte es mit einer Atemübung. Nach zwei Durchgängen gab sie auf. Rosa bezweifelte, dass sie je lernen würde, sich beim absoluten Nichtstun zu entspannen. Lieber konzentrierte sie sich auf die großflächigen Drucke an der Wand. Die Tür öffnete sich, als sie gerade die Struktur einer Sanddüne studierte und darüber nachdachte, ob es für oder gegen die Erfolgsquote einer Kinderwunschpraxis sprach, wenn eine unfruchtbare Landschaft das Behandlungszimmer zierte.
Doktor Jansens Haare waren einen Tick zu lang, um zum Rest seiner Erscheinung im weißen Arztkittel zu passen. Wobei auch die modischen Segeltuchschuhe irritierten, die man barfuß trug. Sie erinnerten Rosa an den Skipper, bei dem sie Stunden für den Hochseeschein nahm. Auch Jansen hatte die Schwelle zum mittleren Alter bereits überschritten, was ihn aber eher noch attraktiver machte. Der Amorbogen seiner Oberlippe war geschwungen, dunkle Bartschatten drückten trotz gründlicher Rasur durch. Er schien zu jener Art Mensch zu gehören, für die es keine Probleme gab, sondern nur Lösungen. Zumindest war das Rosa bei ihrem ersten Termin vor einigen Wochen so vorgekommen, als er sie beruhigte: Dann verschaffen wir Ihnen mal die Zeit, die Sie brauchen. Und ihr zeigte, wie sie die Hautfalte am Bauch am besten dehnte, um sich die Hormone selbst zu spritzen.
»Bleiben Sie nur«, sagte er jetzt. Routiniert rieb er seine Hände mit Desinfektionsmittel ein, dessen Duft sich über sein Aftershave legte. Er grüßte im Vorbeigehen, ohne ihr die Hand zu schütteln. Setzte sich und klapperte mit der Tastatur seines Rechners. Da sie es selbst gar nicht mochte, wenn ihr jemand beim Schreiben auf die Finger schaute, wandte sich Rosa ab. Sie bemerkte, dass der Fotorahmen mit dezentem Goldrand verschwunden war. Er hatte sie bei den Vorbereitungsterminen irritiert, weil er nicht auf den Sitzplatz des Arztes ausgerichtet war, sondern leicht schräg stand. Als sollte jeder sehen können, wie er seine langen Arme um die Taille einer Frau schlang, während sich ihr rotes Kleid im Wind bauschte. Sie hatte so ein Lächeln . So eines, das bestimmt auf allen Bildern immer gleich aussah. Flankiert wurde das Paar von zwei nicht weniger perfekten Zwillingsjungs, die stolz Zahnlücke zeigten. Eine Bilderbuchfamilie, hatte Rosa gedacht. Während sich ihre rationale Seite kurz darüber wunderte, warum sie das so sehr abstieß wie anzog, auch nach all den Jahren noch.
»Ich habe noch zwei, drei Fragen. Dann kann es losgehen«, wandte sich Jansen ihr abrupt zu. »Wir können die Kinderfrage etwas hinauszögern .« Sein Adamsapfel hüpf?te auf und ab. »Aber eine hundertprozentige Garantie gibt es natürlich nicht.«
Jetzt wollte er sich also doch noch absichern. Insgeheim war Rosa froh. Das relativierte den leicht überheblichen Eindruck, den er auf sie gemacht hatte. Auch wenn das nichts an den Tatsachen änderte: Ihre Fruchtbarkeit nahm mit jedem Tag, jeder Stunde, jeder Sekunde ab, mit der sie auf ihren 38. Geburtstag zuraste. Und nicht nur ihre Fruchtbarkeit: Bereits mit Ende zwanzig hatte der Großteil ihrer Körperfunktionen den Höhepunkt überschritten. Seit ihrem dreißigsten Lebensjahr verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit, demnächst zu sterben, alle acht Jahre. Bald schon würden ihre Zellen die Fähigkeit verlieren, Mutationen rückgängig zu machen. Kurz gesagt: Sie hätte eigentlich den nächstbesten Mann anspringen müssen! Stattdessen saß sie hier und ließ ihre eigenen Eizellen für viel Geld einfrieren. Rosa schielte auf die Uhr. Doch der Arzt schien keine Eile zu haben.
»Sie sind seit mindestens sechs Stunden nüchtern?«
Rosa nickte. Der homöopathische Schluck Kräutertee schien ihr ewig her.
»Hatten Sie schon einmal eine Vollnarkose?«
Wieder nickte sie. Und strich über die Stelle oberhalb des Knies. Vor einigen Jahren war dort abgestorbenes Gewebe durch ein dünnes Hauttransplantat vom Rücken ersetzt worden. Rosa spürte die Narbe kaum noch. Nur manchmal, wenn das Wetter wechselte, juckte der blasse, wulstige Hautfleck. Plötzlich fühlte sie sich, als wäre alle Kraft aus ihr herausgesaugt worden.
»Prima. Dann wollen wir mal sehen, ob der trigger shot erfolgreich war.« Jansen rollte auf seinem Lederhocker zum Untersuchungsstuhl. »Schon im Mutterleib enthalten weibliche Eierstöcke über 400000 Eizellen. Faszinierend, nicht?« Er drückte einen Knopf, und der Raum verdunkelte sich summend. »Bis zur Pubertät sterben aber die meisten ab. Nur etwa 500 erreichen im Laufe eines Lebens den Eisprung.«
Wie die anderen Male zuvor verschwand Rosa hinter dem Paravent und zog ihren Slip aus. Anschließend setzte sie sich in den Stuhl, der ihre Beine weit auseinanderspreizte. Der Arzt führte den Schallkopf in ihr Inneres ein. Auf dem Bildschirm leuchtete eine Struktur auf. Sie sah aus wie eine quer halbierte Knoblauchknolle.
»Da sind sie ja schon.« Er drückte noch etwas fester und zeigte nicht ohne Stolz auf die zehenförmigen Kammern. »Sieben prächtige Exemplare auf einmal.«
Bald darauf lag Rosa im Operationszimmer auf einer sterilen Liege, während ihr die Assistentin eine Papierserviette unter das Kinn schob.
Als sie wieder zu sich kam, verkrustete Speichel ihren Mund. Der Hals fühlte sich wund an, als hätte sie seit Tagen nichts getrunken. Sie wusste nicht, wo sie war. Wollte es gar nicht wissen. Mit dem Wellenrauschen im Ohr, das durch das gekippte Fenster drang, sank sie zurück in einen...
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