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Drei Zeitschriften liefern den Rahmen, innerhalb dessen sich Gauchets intellektueller Werdegang abspielt. Treffend hat man ihn einen homme de revue, einen Mann der Zeitschriften, genannt.1 Gauchets Mitarbeit an Textures, Libres und Le Débat bildet im ersten Teil dieser Arbeit den roten Faden für eine kontextualisiernde Deutung der Genese, Entwicklung und Systematik seines Denkens. Neben der chronologischen Ausrichtung der Argumentation steht in jedem der folgenden drei Kapitel eine gesonderte Sachfrage im Mittelpunkt der Darstellung. Lassen sich doch die drei Zeitschriftenprojekte jeweils mit einem grundlegenden Aspekt von Gauchets Schaffen assoziieren: Textures oder die Philosophie, Libre oder die Politik, Le Débat oder die Geschichte. Über den geschichtlichen Kontext hinaus werden im Folgenden also auch die sozialphilosophischen Grundlagen seines Werks vorgestellt. Diese geistesgeschichtliche Rekonstruktion bereitet die umfassende Interpretation seiner großen Monografien im zweiten Teil dieser Arbeit vor.
Die folgenden Seiten sind jedoch mehr als nur eine Propädeutik für die Interpretation von Gauchets Hauptschriften. Sie zeichnen darüber hinaus Entwicklungen in der Geschichte der französischen Humanwissenschaften nach, die bislang außerhalb des französischen Sprachraums kaum zur Kenntnis genommen wurden. Im Schatten einer von den großen Namen wie Foucault oder Bourdieu hypnotisierten Rezeption französischen Denkens hat sich seit den 1970er Jahren in unserem Nachbarland eine innovative politische Sozialphilosophie herausgebildet. International haben deren Vertreterinnen und Vertreter bislang nicht die Beachtung gefunden, die sie aufgrund der Qualität ihrer Schriften verdient hätten. Der Gründungsvater dieser neuen politischen Philosophie ist Claude Lefort. Von ihm inspiriert macht sich im Gefolge der 68er-Bewegung gleich eine ganze Reihe junger Gesellschaftswissenschaftler an die Entwicklung eigener Sozialphilosophien, in deren Mittelpunkt das Politische steht. Das Politische - verstanden als grundlegendes Formprinzip der Gesellschaft - dient ihnen als Ausgangspunkt für die Erforschung der Geschichte und Gegenwart der sich in ihrer Lebenszeit zunehmend entfaltenden Demokratie.
Neben Lefort sind die bekanntesten Vertreter dieser Denkschule der neuen politischen Philosophie Marcel Gauchet, Pierre Rosanvallon und Pierre Manent.2 Gauchet kommt in dieser Gruppe aus verschiedenen Gründen eine Sonderstellung zu. Erstens ist er als einziges Mitglied der zweiten Generation nach Lefort direkt an der Grundlegung des Theorieparadigmas der neuen politischen Philosophie beteiligt. Seine 1971 veröffentlichte Ausarbeitung der Mitschrift einer Vorlesung Leforts ist die erste systematische Darstellung der Grundideen der neuen politischen Philosophie. Zweitens ist Gauchet innerhalb dieser Gruppe von Denkern derjenige, der die weitreichendsten Forschungsinteressen verfolgt. Er forscht nicht nur zur Ideengeschichte der modernen Demokratie (Rosanvallon) oder der antiken und modernen politischen Philosophie (Manent). Vielmehr entwickelt er eine innovative Sicht auf die Gegenwartsdemokratie, indem er etwa die Geschichte vorstaatlicher Gesellschaften oder der Psychiatrie in deren Analyse einbindet.
Das dritte und meiner Meinung nach gewichtigste Alleinstellungsmerkmal Gauchets besteht schließlich darin, dass er - anders als Lefort, Rosanvallon oder Manent - den Anspruch der strukturalistisch inspirierten Humanwissenschaften fortschreibt. Als einziger Protagonist dieser Denkschule sucht er - darin Cornelius Castoriadis ähnlich - nach den anthropologischen und gesellschaftlichen Grundlagen aller Formen menschlicher Vergesellschaftung. Dieser systematisch-philosophische Anspruch macht die Größe und Bedeutung seines Werks aus.
Das Fundament für dieses Werk legt Gauchet in den 1970er Jahren. Innerhalb von zehn Jahren gelingt es ihm, sich einen Ruf zu erarbeiten, der Pierre Nora dazu bringen wird, ihn für eines der wichtigsten Zeitschriftenprojekte der jüngeren französischen Geistesgeschichte als Mitstreiter anzuwerben. Durch seine Mitarbeit an kleineren Zeitschriften wie Textures und Libre legt Gauchet somit nicht nur die theoretische Grundlage für seine späteren Monografien. Vielmehr erlernt er hier auch das verlegerische Handwerk, mit dem er vierzig Jahre lang die Geschicke von Le Débat prägen wird. Nachdem er bereits in Caen an kleineren studentischen Publikationen beteiligt war, steigt Gauchet 1971 bei der »studentische[n] Zeitschrift«3 Textures ein, deren Anfänge in die Zeit der 68er-Proteste zurückreichen. Zwischen 1971 und 1975 erscheinen jährlich ein bis zwei Ausgaben im Selbstverlag, von denen jeweils 1000 Exemplare gedruckt, aber lediglich drei- bis vierhundert verkauft werden.4 Ungeachtet dieser geringen Verkaufszahlen ist Textures jedoch ein Erfolgsprojekt. Denn das in ihr erarbeitete Programm einer neuen politischen Philosophie wird sich langfristig als äußerst breitenwirksam erweisen. Gemeinsam, so Gauchet im Rückblick, habe man gezeigt, »wie eine kleine marginale Zeitschrift [.] für den untergründigen Einfluss einer kritischen Strömung sorgen konnte, die keinen sichtbaren Ort in der Öffentlichkeit hatte«.5
Mit der Gründung der von 1977 und 1980 halbjährlich erscheinenden Publikation Libre erhöht sich die Zahl der verkauften Exemplare pro Ausgabe schlagartig auf annähernd 6000 Exemplare.6 Diese »Zeitschrift einer intellektuellen Clique«7 profitiert neben der nun durch einen Verlag (Payot) organisierten Distribution vom zunehmenden Bekanntheitsgrad ihrer Redaktionsmitglieder. Gemeinsam prägen sie den französischen Antitotalitarismus, der in den späten 1970er Jahren das intellektuelle Leben des Landes bestimmt. Le Débat ist schließlich in einem der größten französischen Verlagshäuser beheimatet und verkauft durchschnittlich 3000 bis 4000 Exemplare ihrer zunächst monatlich und ab Sommer 1982 fünfmal pro Jahr veröffentlichten Ausgaben.8 Diese einflussreiche »klassische Allgemeinzeitschrift«9 erscheint von 1980 bis 2020 bei Gallimard und hat mit Pierre Nora denjenigen Verleger zum Direktor, der zum Zeitpunkt ihrer Gründung uneingeschränkt über die dortigen Tätigkeiten im Bereich der Humanwissenschaften herrscht. In den 1970er Jahren stellt sich Gauchets Biografie somit als die Aufstiegsgeschichte eines Jungintellektuellen aus der Provinz dar. Als Chefredakteur von Le Débat steht er fortan im Zentrum der Zeit ihres Bestehens »wichtigste[n] Zeitschrift des intellektuellen Lebens«10 seines Heimatlandes.
Entsprechend der wachsenden Reichweite der Zeitschriftenprojekte, an denen Gauchet beteiligt ist und in denen seine wichtigsten Artikel erscheinen, gewinnen seine Publikationen mit der Zeit an Einfluss. Zunehmend wird er zum aktiven Teilnehmer intellektueller, später auch gesamtgesellschaftlicher Debatten. Aufgrund dieser Entwicklung werden die drei Werkphasen Gauchets im Folgenden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Seine philosophischen Anfänge im Mikrokosmos von Textures werden in erster Linie in Auseinandersetzung mit seinen Texten und ihrem ideengeschichtlichen Kontext rekonstruiert. Gauchet reagiert in dieser Zeit zuvorderst auf eine gesellschaftliche und intellektuelle Situation, auf deren Gestaltung er selbst außerhalb eines engen Kreises von Mitstreitern nur wenig Einfluss ausübt.
Die Schriften aus dem Umkreis von Libre werden ausgehend vom ideenpolitischen Kontext der Sinnsuche der französischen Linken nach dem Mai 68 und dem französischen Antitotalitarismus in den Blick genommen. Gauchet ist nun Akteur in einer breit rezipierten Debatte, und Libre ist einer der Brennpunkte des antitotalitaristischen Denkens. Das Projekt von Le Débat wiederum wird vor dem Hintergrund der mit der Gründung der Zeitschrift einhergehenden Verschiebungen und Kontroversen im französischen intellektuellen Feld und der weiteren Gesellschaft thematisiert. Gauchet entwickelt sich hier zu einem gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen prägenden Intellektuellen und ist spätestens mit der Veröffentlichung seiner Monografie zur Entzauberung der Welt (1985) im Establishment der französischen Intelligenzija angekommen.
1 Wohl erstmals in Padis, Marcel Gauchet, S. 10.
2 Ansätze für eine Kontrastierung ihrer Gegenwartsdiagnosen finden sich in Gauchet/Manent/Finkielkraut, La Démocratie (2003); Gauchet/Manent, Comment repenser (2008); Gauchet/Manent/Rosanvallon, Où va la démocratie? (2010); Gauchet/Rosanvallon, Les Populismes (2020).
3 LCH, S. 209.
4 Ebd., S. 198-201; Dosse, Castoriadis, S. 226. Dort jeweils auch Angaben zum Vertriebsmodell der Zeitschrift.
5 LCH, S....
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