Schweitzer Fachinformationen
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Kurz vor neun parkte Hannah gegenüber dem massiven Gebäude der Polizeidirektion Chemnitz. Es war ihr erster Besuch im ehemaligen Karl-Marx-Stadt, und sie wusste nur, dass in der Mitte der drittgrößten Stadt Sachsens ein gigantischer Karl-Marx-Kopf stand, die Bewohner deutsche Spitzenreiter in Sachen Crystal-Meth-Konsum waren und ein Problem mit Rechtsextremismus hatten. Hannah angelte ihre schwarze Bomberjacke vom Rücksitz, griff nach der Kuriertasche und stieg aus.
Das im Dossier angegebene Besprechungszimmer lag im zweiten Stock des historischen Direktionsgebäudes. In dem abgedunkelten Raum saßen eine Frau und vier Männer bei Kaffee und Keksen um einen runden Tisch und unterhielten sich angeregt. Das Gespräch verstummte abrupt, als Hannah eintrat. Sie war es gewohnt, angestarrt zu werden, dennoch nervte es sie. Ob es an ihrer Körpergröße von eins vierundachtzig, ihrer stets schwarzen Kleidung oder ihrem distanzierten Blick lag, wusste sie nicht - und es war ihr auch egal. Adjektiven wie »nett« oder »aufgeschlossen« konnte sie sowieso nichts abgewinnen.
»Morgen. Stein, BKA Wiesbaden.«
Sie warf ihre Kuriertasche auf den Tisch und wollte sich auf den nächsten freien Platz setzen, doch der Mann links von ihr war bereits aufgesprungen und zog galant lächelnd den Stuhl für sie zurück.
»Guten Morgen! Gestatten, Leutnant Jakub Novák, nationales Zentrum gegen organisierte Kriminalität Prag.«
Jetzt war es Hannah, die starrte. Vor ihr stand Clark Gable, keine dreißig, aber schon mit diesem knautschigen Gesicht, der Gelfrisur und dem schmalen Oberlippenbart samt ausrasierter Lücke unter der Nase. Dazu trug er einen perfekt sitzenden nachtblauen Anzug.
»Willkommen in Sachsen, Frau Stein«, sagte die weißhaarige Frau auf der anderen Seite von Novák und erhob sich. Der mühelos bestimmende Klang ihrer Stimme stellte sofort klar, dass sie es gewohnt war, das Sagen zu haben.
»Ich bin Monika Breitfeld, Kriminaldirektorin der KPI Chemnitz. Vielen Dank, dass Sie alle diesen frühen Termin möglich machen konnten. KHK Stein und Leutnant Novák waren ja bereits so nett und haben sich vorgestellt, ich will es auch kurz halten.« Sie wies auf den extrem hageren Mann mit gewaltigem Adamsapfel zu ihrer Linken, der abwesend in seinen Unterlagen blätterte. »Dr. Obenauf, Leiter der Chemnitzer Außenstelle des Rechtsmedizinischen Instituts Leipzig, daneben Kollege Ziegler, EPHK vom Revier Aue.«
Der Erste Polizeihauptkommissar und Chef des Auer Polizeireviers, ein untersetzter grauhaariger Mann mit hängenden Wangen und zahllosen Lachfalten, nickte Hannah freundlich zu.
»Ebenfalls aus Aue«, fuhr Monika Breitfeld fort, »der Leiter des Kriminaldienstes KOK Pauer. Er wird uns kurz in den Fall einführen, bevor Dr. Obenauf uns seine Erkenntnisse mitteilt.«
Sie setzte sich, und Kriminaloberkommissar Pauer, ein bulliger Mittvierziger in einer schwarz glänzenden Trainingsjacke mit zwei goldenen Streifen, klappte den Laptop vor sich auf.
»'tschuldigung vorab, dass kein ausführlicherer Bericht verschickt wurde, aber das war in der Eile nicht zu schaffen. Dafür hab ich eine kleine Präsentation vorbereitet, die schick ich später noch rum.«
Pauer drückte eine Taste des Laptops, und der Beamer an der Decke erwachte mit leisem Rauschen aus dem Stand-by. An der fensterfreien Wand erschien das Foto eines schmalen aschblonden Manns Mitte zwanzig mit der Bildunterschrift »PM Dennis Uhlig«.
»Polizeimeister Dennis Uhlig gilt seit Freitag als vermisst. Zuletzt wurde er gegen sechzehn Uhr dreißig am Postplatz in Aue gesehen, wo er erst vor dem vietnamesischen Imbiss >Gia Toc< und dann gegenüber in der Spielothek >Glück auf< randalierte. Dabei ging er wahllos auf Passanten und herbeigerufene Kollegen los. Im Anschluss flüchtete er über den Floßgraben Richtung Schneeberg in den Wald und wurde seitdem nicht mehr gesehen. Samstag früh fanden dann drei Berliner Geocacher kurz hinter der tschechischen Grenze, im Wald bei Breitenbach, eine rechte Hand und gaben sie beim Polizeistandort Johanngeorgenstadt ab. Nach Aufnahme ihrer Aussagen kontaktierte der Beamte vor Ort mein Kommissariat sowie die tschechischen Kollegen. Da schnell klar wurde, dass die Hand einem unserer Kollegen, also dem Dennis, gehört, waren die Tschechen so freundlich, sie uns zur weiteren Untersuchung zu überlassen.«
»Und woher wussten Sie so schnell, dass die Hand Uhlig gehört?«, unterbrach Hannah die Ausführung des Kommissars.
»Dennis hat ein Tattoo auf der Innenseite seines rechten Unterarms. Da steht >Aue<, dann das Logo des FC Erzgebirge Aue und >Glück auf<.«
Pauer klickte durch ein paar Fotos, bis an der Wand die abgetrennte Hand mit den eintätowierten Buchstaben >Au< auf der Innenseite des Handgelenks erschien. Er fuhr fort: »Samstagnachmittag suchten die tschechischen Kollegen die Umgebung des Fundorts weiträumig ab, jedoch ohne einen Hinweis auf Dennis' Verbleib zu finden. Ebenso ergebnislos blieb die Suchaktion Sonntagvormittag im Wald zwischen Floßgraben und Schneeberg. Zur Schlägerei vor der Spielothek am Freitag bleibt noch zu sagen, dass alle Zeugen Dennis als >wildes Tier< beschrieben haben, als völlig durchgedreht. Das ist bemerkenswert, da er eigentlich eher vom schüchternen Typ ist.«
»Wurde versucht, Uhligs Handy zu orten?«, fragte Hannah.
»Klar, aber das ist aus«, erwiderte Pauer.
»Und was wissen Sie über die Hand? Ist bereits klar, wann und wie sie Uhlig abgetrennt wurde?«
»Vielleicht kann diese Frage Dr. Obenauf beantworten?«, klinkte sich Kriminaldirektorin Breitfeld ein und blickte erwartungsvoll zu dem Rechtsmediziner an ihrer Seite.
»Nun«, Obenauf räusperte sich umständlich, »einzig anhand der Hand ist der Zeitpunkt der Amputation leider nicht zuverlässig zu bestimmen.« Seine nasale Stimme klang leicht arrogant.
»Warum sagen Sie >Amputation<?«, hakte Hannah nach. »Gehen Sie davon aus, dass Uhlig den Verlust seiner Hand überlebt hat?«
»Das tue ich. Wahrscheinlich kam es nicht mal zu einem nennenswerten Blutverlust, da das örtliche Gewebe verbrannt und gleichzeitig alle Gefäße verödet wurden.«
»Aber .« Breitfeld blickte den Rechtsmediziner bestürzt an. »Heißt das, die Hand wurde fachmännisch entfernt?«
»Ja und nein, es ist kein mir bekanntes Verfahren. Es ähnelt einer Ablation, bei der mit einer durch Strom erhitzten Drahtschlinge Gewebe durchtrennt oder verdampft wird, gleichzeitig erfolgt der Verschluss der Gefäße und damit eine Blutungsstillung. Die hierfür eingesetzte Stromfrequenz hängt von der Art des zu durchtrennenden Gewebes ab, in diesem Fall Haut, Muskeln, Sehnen und Knochen. Der Widerstand von Haut- und Muskelgewebe ist relativ gering, doch der von Knochen ist um den Faktor eintausend höher!«
»Und das heißt für Normalsterbliche?«, unterbrach Pauer den Arzt schroff.
Pikiert presste Obenauf die Lippen zusammen. Betont langsam fuhr er fort: »Wenn Uhligs Hand mit diesem Verfahren abgetrennt worden wäre, wäre sie - und sein restlicher Körper - gar gekocht! Die Hand ist aber bis auf einige Bissspuren unversehrt.«
Der Rechtsmediziner machte eine Kunstpause und schien die nun stumme, ungeteilte Aufmerksamkeit im Raum zu genießen.
»Daraus folgend stellt sich eine weitere Frage: Warum ist die Schnittfläche mit einem Film aus Sulfiden und Schwefelwasserstoff überzogen? Wenn zum Abtrennen der Hand tatsächlich Strom verwendet wurde, hätte der Schwefel die elektrische Leitfähigkeit behindert. Wozu also der Schwefel?«
Da niemand auf seine Frage eine Antwort wusste, fuhr er fort: »Ferner haben wir noch Erde, tierischen Speichel sowie drei Fingerabdrucksätze an der Hand gefunden. Die Daktylogramme passen zu denen der Finder.«
»Wurde abgeklärt, ob die Geocacher mehr mit dem Fall zu tun haben?«, fragte Hannah an Pauer gewandt.
»Klar, die drei haben ein Alibi«, erwiderte der bullige Kommissar. »Sie kamen am Freitag um fünfzehn Uhr einundzwanzig mit dem Regio in Johanngeorgenstadt an, sind dann zu ihrer Pension gelaufen und haben den restlichen Tag bis tief in die Nacht auf ihrem Zimmer Party gemacht. Daran konnte sich die Wirtin erinnern, sie war, ich zitiere, >grässlich genervt vom Gejohle der Jungen<.«
»Verstehe. Gibt es denn Vermutungen, wer Uhlig die Hand abgetrennt haben könnte?«
»Nein, Dennis war sehr beliebt, und Probleme mit der Scharia hatten wir bisher auch noch nicht.«
Ziegler, der Chef des Auer Polizeireviers, lachte so herzhaft über den Witz seines Kriminaloberkommissars, dass sein ganzes faltiges Gesicht vibrierte. »Der ist gut, Ralf, der ist gut!«
Offenbar beschämt über den Schenkelklopferhumor der Kollegen - ihr Gesicht sprach Bände -, wendete sich Kriminaldirektorin Breitfeld nochmals an den Rechtsmediziner. »Dr. Obenauf, bitte sagen Sie uns doch noch etwas zu dem Chip, den Sie in Uhligs Hand gefunden haben.«
»Aber natürlich, gerne. Beim Röntgen der Hand entdeckten wir im Musculi interossei dorsales I«, der Arzt zeigte an seiner rechten Hand auf die Falte zwischen Daumen und Zeigefinger, »sprich in der Schwimmhaut, ein Microchip-Implantat. Den zwei mal zwölf Millimeter großen, biokompatiblen Glaszylinder konnte ich unbeschädigt entnehmen.«
Er drehte sich zu Pauer. »Könnten wir dazu bitte das Bild sehen?«
An der Wand...
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