Schweitzer Fachinformationen
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Hannes befühlte die geschwollene Wange. Seit Stunden schon hockte er dort auf dem Hofpflaster und kratzte das Unkraut aus den Fugen. Vor ihm auf den Steinen lag Hermann, der Kater, und gähnte. Sein graues Fell schimmerte in der Sonne.
Es war einer der ersten heißen Tage in diesem Jahr. Man hörte nichts außer dem Schrei eines Bussards im Dunst hinter der Krückau. Bald ging es mit der Ernte los, die Gerste, die schon gelb wurde, das Heu, der Weizen. Den ganzen Tag mit dem Vater auf dem Feld. So war es meistens in den Ferien.
Hannes sah prüfend zur Sonne und erschrak. Er hatte kaum etwas geschafft. Der Vater würde gleich da sein. Er nahm das Messer wieder in die Rechte, schnitt, kratzte, pulte, schob sogar Hermann zur Seite.
Der Kater stand auf und ging gemächlich zur Scheune. Für ihn gab es kein Unkraut. Und keinen Vater. Der ließ ihn in Ruhe, solang er im Stall die Mäuse und Ratten wegfing. Nur einmal war es anders gewesen. Der Vater hatte sich geärgert und nach Hermann getreten. Mit einem Satz war der Kater im offenen Fenster, drehte sich um, fauchte und duckte sich, als wolle er dem Vater ins Gesicht springen. Der hielt ungläubig inne, bis Hermann nach draußen verschwand.
"Hannes! Kaffee!"
Schnell leerte Hannes den Unkrauteimer zwischen den Brennnesseln aus und lief nach drinnen.
"Komm. Vater ist gleich auf dem Hof." Die Mutter hatte gesehen, dass er mit dem Unkraut nicht fertig war. Eilig wusch er sich Hände und Gesicht im Bottich, setzte sich an den Tisch und wartete. Es war schummrig in der Küche. Es roch nach Kompott und ein bisschen nach Schimmel.
Der Vater ließ sich auf seinen Platz fallen und schenkte sich vom Gerstenkaffee ein. Gleich würde er vom Unkraut anfangen. Aber nichts geschah. Nicht einmal wütend sah er aus, wenn auch nicht zufrieden oder vergnügt, wie er es an guten Tagen sein konnte. Er wirkte bedrückt, die Stirn gerunzelt, die Augen unstet. Vielleicht war die Mutter der Grund, denn die saß mit reglosem Gesicht da und aß. Eine schöne Frau, sagten die Nachbarn, dickes rotblondes Haar und hohe Wangenknochen.
Der Vater schaute zu ihr hin.
"Mit der Deichsel war's nicht so wild. Ging schnell."
Die Mutter sah auf, sagte: "Gut" und löffelte weiter ihr Apfelkompott. Sie ist ihm immer noch böse wegen heute Morgen, dachte Hannes. Das Essen schmeckte jetzt noch besser, er nahm nach. Immer wieder linste er zum Vater, er konnte sich nicht sattsehen an seinem Gesicht, seinem ruhelosen Blick.
Der Vater schob den Teller weg, dass es schepperte, und stand auf.
"Ich guck' noch mal nach Resi." Kurz darauf war er wieder an der Tür. "Los, Hannes! Es muss raus."
Im Kuhstall war es kühl und es roch nach Stroh und Fruchtwasser. Resi lag in einer Ecke, stöhnte und riss die Augen auf. Der Vater krempelte die Ärmel hoch, Hannes lief los, um Wasser und Seife zu holen. Er beeilte sich, aber auf dem Rückweg blieb er auf der Diele stehen. An einem Haken hing der Geburtshelfer, ein Stab mit Ösen und Schnüren, den man bei schwierigen Geburten brauchte. Hannes setzte den Eimer ab, nahm den Geburtshelfer vom Haken und schob ihn hastig unter eine Pferdedecke, die am Boden lag. Dann rannte er in den Stall.
"Gib schon her!" Der Vater wusch sich und führte den Arm bis zur Schulter in die Kuh ein. Hannes sah ihm zu, die Hände hinterm Rücken zitterten. Mit geweiteten Augen schaute der Vater auf irgendeinen Punkt an der Bretterwand gegenüber und ertastete das Innere der Kuh. Es war wie immer. Aber je länger es dauerte, umso stärker wuchs die Hoffnung, der Vater würde diesmal die Vorderbeine des Kalbs nicht finden. Vielleicht lag es verkehrt herum oder quer. Der Vater schob und zog an etwas, ließ sich aber keine Unruhe anmerken. Wie oft hatte er ihn sagen hören: "So leicht stirbt mir kein Kalb bei der Geburt." Jetzt war es vielleicht so weit.
Hannes hielt Resi am Strick und stellte sich vor, wie der Vater sich immer weiter mühte und schließlich ein totes Kalb herauszog. Bisher hatte er, wenn es um die Tiere ging, immer mit dem Vater mitgefiebert, trotz allem. Aber jetzt war es anders, jetzt hoffte er nur, dass der Vater endlich eine Niederlage einstecken musste.
Der Vater zerrte und drückte.
"Scheiße. Alles durcheinander . sind zwei. Hol mal den Geburtshelfer."
Er lief los und blieb vor der Pferdedecke stehen. Einen Moment lang wartete er, dann schrie er mit geschlossenen Augen: "Hier hängt nichts." Auf dem Weg zurück kam ihm der Vater entgegen. "Kann doch nicht sein, bist wohl wieder blind." Er starrte auf den Haken, rannte in die Werkstatt. Hannes wühlte in einem Regal herum und zwang sich, nicht auf die Pferdedecke zu sehen.
"Na ja, muss dann eben ohne gehen", presste der Vater hervor und lief zurück in den Stall.
Hannes hielt wieder Resi. Der Vater versuchte, eine Seilschlinge um die Kälberbeine zu legen, aber sie rutschte immer wieder ab. Hannes dachte an die geflochtene Schnur in der Scheune, eine gute Schnur, aber sagte nichts. Seine Finger krallten sich um das Halfter der Kuh. Dem Vater lief immer mehr Schweiß über die Lippen, bis Hannes es nicht mehr aushielt.
"Ich hab 'ne gute Schnur."
Mit dieser Schnur klappte es, sie legte sich fest um die Gelenke. Der Vater wand das Ende um sein Handgelenk und zog erst vorsichtig, dann mit Kraft. Zwei schmale Vorderbeine kamen zum Vorschein, ein Maul mit heraushängender Zunge, ein dampfender Körper. Das Kalb fiel ins Stroh. Es bewegte sich nicht, es war tot. Beim zweiten Kalb brauchte der Vater kaum zu ziehen. Es glitt zu Boden und blieb reglos liegen. Aber man hörte seinen Atem. Es röchelte unregelmäßig. Hannes wischte ihm den Schleim vom Maul, goss kaltes Wasser über den Körper und rieb ihn mit Stroh ab. Die ganze Zeit stand der Vater reglos hinter ihm.
"Das wird nichts mehr, kannst du vergessen."
Einen Augenblick später hörte Hannes die Tür hinter sich zuschlagen und war allein.
Er rieb sich den Schleim von den Händen. Wenn er es doch schaffen würde! Er stellte sich den Vater vor, wie er das saufende Kalb sähe und nicht wüsste, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Er sah das Gesicht der Mutter, die Falten um ihre Augen, wenn sie strahlte.
Früher hatte er sie öfter so gesehen, am häufigsten, wenn der Vater wie ein zu groß geratener Junge aussah. Vor vielen Jahren hatte er für Hannes eine Baumhütte gebaut und der Mutter von oben eine Kusshand nach der anderen zugeworfen. Die Mutter hatte mit dem Kopf geschüttelt und gelacht.
Das Baumhaus. Ein Holzboden, ein Geländer, ein stabiles Dach. Sogar ein paar Querhölzer als Kletterhilfe hatte der Vater an den Stamm genagelt. Welcher andere Vater hatte sich Zeit für so etwas genommen? Ein wunderbarer Tag. Bis zu dem Moment, als alles fertig war. Zitternd war Hannes unten stehengeblieben. Es war zu hoch gewesen - und er zu ängstlich.
Das war lange her. Hannes zerriss einen Strohhalm und malte sich wieder aus, das Kalb würde auf die Beine kommen und er allein hätte es geschafft. Die Mutter würde hinter ihm stehen und sagen: 'Mein guter Junge, mein tüchtiger Junge.' Später auf der Straße würde sie es zwei Nachbarn erzählen, die gerade zusammenstanden, Hein Ossenbrüggen und dem alten Jörn. 'Ja, Clara, mit dem Jungen hast du Glück gehabt, erst 15, aber so ein Kerl', würde Jörn sagen und einen Strahl Kautabak ins Gras spucken. Hannes sah die Nachbarn vor sich, Jörns schiefe Zähne, sein Lächeln voller Anerkennung, Heins Nicken, das immer langsam war. Er hörte ihre Stimmen, roch ihren Atem. So war es immer. Wenn er allein war und träumte, erlebte er alles in zahllosen Einzelheiten, im Bett, auf dem Weg zur Schule, beim Hühnerfüttern. Und oft war es deutlicher, als ihm lieb war, verfolgte ihn, ließ ihn nicht los.
Das Kalb hustete, er nahm eine Schüssel vom Fenstersims und fing an die Biestmilch abzumelken. Resi leckte das Kalb. Es war nichts zu hören, außer dem Strahl der dicken gelben Milch in der Schüssel. Er tauchte den Finger ein und steckte ihn dem Kalb ins Maul, wieder und wieder, aber es schluckte nicht, auch nicht, als er ihm die Milch mit einem Löffel einflößte. Alles lief ihm aus den Winkeln wieder heraus.
Wenn die Schüssel leer war, molk er neu ab und begann von vorn. Die Hosenbeine waren nass und klebten von der verkleckerten Milch. Das Sonnenlicht auf der Bretterwand leuchtete schon gelb, es musste fast Abend sein. Warum hatten sie ihn nicht zum Melken gerufen?
Das Kalb hob den Kopf. Vielleicht war doch ein wenig Milch in seinen Magen gelangt. Er molk noch einmal ab, löffelte weiter und legte sanft den Finger an die Kehle. Das Kalb schluckte, zuletzt fast regelmäßig.
Später am Abend saßen Vater und Mutter beim Tee auf dem Sofa. Sie nähte Knöpfe an, er blätterte in alten Zeitungen. Hannes beobachtete die beiden von der Diele aus durchs Guckfenster. Er selbst hockte auf der Truhe und schnitzte an einem Pfeil für seinen Bogen. Aber er schaute mehr nach den Eltern als aufs Messer. Eine Überschrift auf der Zeitung war zu erkennen, irgendwas über Hindenburg, dann eine Tänzerin mit hauchdünnem Kleid und Zylinder auf dem Kopf. Seit wann hatten sie solche Frauen in den Zeitungen auf dem großen Stapel? Endlich öffnete sich die Tür und sie kamen heraus.
"Komm, Hannes, wir gucken noch mal, die Nachgeburt muss jetzt raus sein", sagte die Mutter.
Er holte tief Luft und sprang von der Truhe.
Tatsächlich lag die Nachgeburt schon im Stroh. Das Kalb mühte sich hochzukommen, fiel in die Streu zurück und schaffte es schließlich, als der Vater ihm half. Das Kalb blieb stehen, es machte sogar einen kleinen Schritt. Da trat der Vater zurück...
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