Schweitzer Fachinformationen
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1. KAPITEL
BELLEJECK
Eine traditionsreiche Kölner Narrenfigur, die schon vor über 500 Jahren bekannt war, auch Schellennarr (»Belle« bedeutet Klingel/Schelle und »Jeck« Narr), die inzwischen wieder eine Rolle beim Kölner Karneval spielt. Nur zu Karneval war es dem Volk erlaubt, die Obrigkeit aufs Korn zu nehmen. Dabei spielt der Bellejeck eine zentrale Rolle, trägt satirische Reime vor und macht mit seinen Schellen auf sich und sein Narrengefolge aufmerksam.
Köln, Ende Februar/Anfang März 1715
Giovanni roch das Unheil, als er auf die Straße ging. Der Schnee schmolz unter der spätwinterlichen Sonne und vermischte sich mit dem Unrat der Gassen zu hässlichem braunen Matsch. Alles in allem kein Tag, um auf die Straße zu gehen. Hätte Giovanni auch nur ansatzweise geahnt, was auf ihn zukommen würde, wäre er ganz sicher im Haus geblieben und hätte sich in sein Labor verkrochen. Er hatte es zwar gerochen, doch der junge Mann mit der einzigartigen Nase ging nicht so selbstsicher durch das Leben, wie es schien. Seine fast übernatürliche Gabe war ihm manchmal selbst unheimlich.
Es hätte doch absurd geklungen, wenn er seinem Bruder Baptist gesagt hätte, dass er das Haus nicht verließ, weil er Unheil roch. Zumal er am Tag zuvor mit Baptist gerade noch darüber gestritten hatte, dass er besser persönlich ginge und keinen Boten schicken wolle. Jetzt, da er Teilhaber der »Fratelli Farina« war, sollte er sich gefälligst Zeit für das Geschäft nehmen und nicht herumflanieren, hatte Baptist gewettert und süffisant hinzugefügt: »Jetzt kannst du deine Nase nicht mehr nur in die schönen Dinge des Lebens stecken! Vanitas, mein Lieber!«
Die Litanei war noch weitergegangen. Gerade jetzt an Karneval stünden die Leute Schlange - und zwar nicht für sein Wässerchen! Kurz: Baptist glaubte noch immer nicht so recht daran, dass Giovannis »Eau de Cologne« das Geschäft der Farinas zum Erfolg führen würde. Obwohl genau das zu Weihnachten ja der Fall gewesen war. Dickköpfig, wie Giovanni auch sein konnte, hatte er durch den Disput erst recht darauf beharrt, persönlich den Boten zu spielen, und konnte jetzt schlecht einen Rückzieher machen.
Und es war ausgerechnet Giovannis einflussreicher Freund Levallé, dem er versprochen hatte, persönlich eine Rosolie seines exquisiten Aqua mirabilis vorbeizubringen. Levallé war nicht nur ein einflussreicher Freund, sondern fast Familie, schließlich war Giovanni Taufpate von Levallés ältestem Sohn. Daher gestand er Levallé auch einen Fauxpas zu: Giovanni hatte es eigentlich untersagt, dass sein edles Duftwasser weiterhin »Aqua mirabilis« genannt wurde - viel zu beliebig, verwechselbar und keinesfalls einzigartig. Nun war Levallé eben nicht nur ein Freund seit vielen Jahren, auch die Auftragsbücher waren nicht gerade voll. Ansonsten tat Giovanni tatsächlich, als ob er nicht wüsste, wovon die Leute redeten, wenn sie nach seinem Aqua mirabilis fragten. Sein »Eau de Cologne« war ein Parfüm feinster Sorte, betonte er stets. Es war etwas völlig Neues, Musik für die Nase, und sollte auf keinen Fall mit den unzähligen und oft miserablen Wunderwassern in einem Atemzug genannt werden.
Selbstverständlich war auch Giovannis »Eau de Cologne« genießbar - hervorragend sogar -, niemand konnte einen besseren Brand destillieren als Giovanni, aber die Einzigartigkeit seines flüssigen Goldes war eine andere, eine ätherische. Es war ein ganz und gar den Körper einhüllendes, erfrischendes, belebendes Elixier, mit nichts Irdischem auf dieser Welt vergleichbar.
Auch die Kölner werden es schon noch begreifen, dass nicht jedes Aqua mirabilis Wunder bewirkt, sondern dass der Duft allein ein Wunder ist, dachte Giovanni, als er auf den Heumarkt zusteuerte und der Gestank bäuerlicher Ausdünstungen immer heftiger wurde. Giovanni zog ein Seidentuch aus der Tasche und hielt es sich schützend vor die Nase. Es war nicht irgendein edles Tuch aus feinster Seide, das fast täglich über die Ladentheke der Farinas wanderte, es war Giovannis größter Trost. Nicht, weil dem Gewebe die zarten, frischen Düfte von Bergamotte, Neroli, Jasmin, Lavendel und allen anderen Essenzen entströmten, die Giovannis »Eau de Cologne« so einzigartig machten. Das zeichnete die Tücher der Fratelli Farina neuerdings alle aus. Diese Beduftung der Tuchware hatte dem Geschäft schon einigen Erfolg beschert und war für Giovanni das selbstverständliche und unverzichtbare Odeur, das ihn stets begleitete. Das Besondere an diesem Stück Stoff, das sich Giovanni jetzt unter die Nase hielt, war der Duft einer Frau, den die Seide ventilierte. Nicht irgendeiner Frau, es war das Odeur von Giovannis großer und einziger Liebe: Antonia Brentano.
Keine Woche war es her, dass er mit diesem Tuch sanft ihren Venushügel gestreichelt und gierig ihre süßen Säfte aufgesogen hatte. Und unerträglich der Gedanke, dass sie jetzt schon bald wieder zu ihrem widerlichen Gatten zurückkehren würde. Es tröstete ihn auch wenig, dass Antonia mit den Kindern einen eigenen Flügel im Schloss Gondo bewohnte und Bernardo weniger begegnete als der Dienerschaft. Allein, dass sie mit seinem Erzfeind unter einem Dach wohnte, machte ihn ganz wahnsinnig, auch wenn es nur für ein paar Wochen im Jahr war.
Gedankenverloren drückte Giovanni sein »Zauberläppchen«, wie er das Tuch liebevoll nannte, fester an die Nase, als ihn ein närrisch gekleideter, wild umherspringender Mann von hinten anrempelte. Dabei bimmelte er mit seiner Glockenkappe so laut, dass Giovanni für den Bruchteil einer Sekunde der Schutz seiner Ohren wichtiger war als seine Nase - und das bedeutete viel bei Giovanni Maria Farina.
Dem Bellejeck folgte ein nicht minder wildes, tanzendes, singendes und vermummtes Volk. Giovanni hätte es vorher wissen müssen, er lebte nun lange genug in Köln: Der Donnerstag vor Fastnacht war kein guter Tag, um auf die Straße zu gehen. Gerade eben konnte er dem Schlag der Pritsche entgehen, mit der der närrische Bauernanführer herumwedelte. Mit der anderen Hand malträtierte er eine Pomeranze, deren feinherber Geruch Giovanni etwas besänftigte, was dem jecken Bauernführer nicht entging. »Der feine Herr liebt die Pomeranzen viel mehr als die Wanzen, sein Wunderwasser macht ihn auch nicht schöner, und für uns Bauern hat er auch nur Höhner«, sang der Jeck schief und schrill, begleitet von seinem sonderbaren Orchester.
Giovanni beeilte sich und bog in die nächste Gasse ab, obwohl die Salzgasse überhaupt nicht auf seinem Weg lag. Der Kölner Karneval hatte so wenig mit dem eleganten venezianischen Treiben zu tun, dass Giovanni sich fragte, ob er sich jemals daran gewöhnen würde. Natürlich wusste er, dass die hiesigen Bauern ihn für arrogant hielten und sein »Eau de Cologne« für völlig überteuert. Sollten sie doch bei Feminis kaufen, wenn sie billige Wässerchen haben wollten.
Darüber hatte er schon oft mit seinem Bruder Baptist gestritten, der der Meinung war, sie sollten im Laden ein Aqua mirabilis anbieten, das sich das Volk auch leisten kann. Giovanni war da ganz anderer Ansicht, billige Essenzen und schlechter Branntwein beleidigten nur die Nase. Dafür hätte er nicht in Baptists Firma einzusteigen brauchen.
Nun musste er leider zugeben, dass ohne die Hilfe der Medici die erlesene Kundschaft, die sie brauchten, vielleicht noch nicht einmal ausreichend wäre, um zumindest so viel »Eau de Cologne« zu verkaufen, dass sie wenigstens die Ingredienzien hätten bezahlen können. Aber darüber brauchte er sich den Kopf jetzt nicht zu zerbrechen, die Medici hatten zu Weihnachten so viele Rosolien gekauft, dass die Farinas unbeschwert ins Jahr 1715 hatten feiern können. Für den Moment war es auch nicht mehr weiter tragisch, dass die Gewinne aus den Investitionen in die South Sea Company noch auf sich warten ließen. Über billige Waren fürs einfache Volk brauchte er sich jetzt wenigstens keine Gedanken zu machen.
Es war verständlich, dass ihn manche Leute für arrogant hielten und leider auch einige ehrenwerte Bürger. Aber lieber arrogant als unerträgliche Gerüche, war das Credo von Giovanni, den das Odeur von Fäkalien mehr schmerzte als ein handfester Hieb. So hatte ihn auch weniger das tölpelhafte Herumgeschubse als vielmehr die Ausdünstungen und Flatulenzen des Bellejeck und seines Gefolges gestört.
Gedankenverloren, mit dem Tuch dicht an der Nase, schlenderte Giovanni weiter durch die Gassen, umringt von immer mehr lärmenden Jecken mit sonderbarem Mummenschanz. Vor allem Weibsbilder liefen kreischend durch die Stadt. Unversehens fand er sich in einer Menschenmenge vor dem Dom wieder. Ein Mob, der ihn umkreiste, stinkend, grapschend, widerlich. Überall waren Hände, schmutzige Finger, die ekelerregend zu seinem Körper fanden. Alkohol hing in der Luft, vermischte sich mit dem fauligen Atem bäuerlichen Gesindels. Giovanni schnappte nach Luft, suchte nach einem Ausweg aus der immer dichter werdenden Rotte von Leibern. Er wusste nicht, ob Männlein oder Weiblein ihn verhöhnte, und schrie jetzt aus vollem Halse. Mal waren es kleine, mal grobe, ledrige Hände, die ihn scheinbar lustvoll betatschten.
Es war ein Alptraum. Giovanni schlug jetzt wild um sich, halb benommen, halb in wilder Raserei. Sein geliebtes Tüchlein hielt er fest umklammert, und als er mit den Armen in der Luft herumfuchtelte, wehte es wie eine kleine Friedensflagge in der Luft.
Weit und breit war kein Ordnungshüter zu sehen. Die Polizei ließ den Mob gewähren, Narrenfreiheit an Fastnacht. Wie sollte es auch anders sein in Köln, wenn der Bellejeck mit...
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