Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Was ist passiert? Bei der letzten Berliner Landtagswahl warb die CDU mit Plakaten, auf denen zu lesen war: »Berlin, lass dir das Auto nicht verbieten.« Die FDP-Bundespartei verabschiedete im August 2024 ein Grundsatzpapier »Pro Auto«; der erste Satz darin lautet: »Kommunen, Länder und Europäische Union müssen sich zum Automobil bekennen.« Das Auto wird plötzlich begründungs- und sogar bekenntnispflichtig. Es ist also nicht mehr selbstverständlich. Es wird diskutiert. Das Auto wird sozusagen »politisch«. Vor wenigen Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Autos waren einfach da! Plötzlich rückt eine jahrzehntelang unhinterfragte Realität in den Fokus. Europäische Hauptstädte wie London, Paris, Mailand oder Stockholm beginnen, den Funktionsraum des Autos in den Innenstädten drastisch einzuschränken; in deutschen Städten tauchen immer mehr Durchfahrtssperren auf; Abstellmöglichkeiten werden reduziert, dabei galt das Parken von privaten Autos auf öffentlichen Flächen bislang als normal. Aufregung gab es nur, wenn dafür Gebühren erhoben wurden, die selbstverständlich immer als zu hoch, zu willkürlich und als sozial ungerecht empfunden wurden. Aktuell sollen viele Stellplätze wieder ganz verschwinden.
Ohne Zweifel hat das Auto seine Strahlkraft eingebüßt. Mittlerweile wissen fast alle, dass die vielen Autos nicht gut für die Umwelt und das Klima sind; in den Ballungsräumen funktioniert die »freie Fahrt für freie Bürger« schon lange nicht mehr. Der Begriff der »Verkehrswende« macht die Runde und aktuelle Umfragen zeigen: Immer mehr Menschen wünschen sich weniger Autos, jedenfalls in den Städten.
Aber wie steht es um das Auto? Können wir uns tatsächlich vom Auto befreien? Sind moderne Gesellschaften nicht auf das Auto angewiesen? Brauchen Demokratie und wirtschaftlicher Wohlstand nicht das Auto als verkehrliche Grundlage? Viele Gewohnheiten, Annehmlichkeiten, aber auch Selbstverständlichkeiten in unserem Leben sind ohne Auto nicht möglich. Das Auto ist nicht nur eine Maschine zur Raumüberwindung, sondern hat uns und die Welt verändert. In Deutschland scheint das besonderes nachhaltig gelungen zu sein. Das von Kurt Tucholsky so trefflich beschriebene »Ideal« des Lebens mit dem Ku'damm vor der Tür, den Alpen im Hinterhof und dem Meer um die Ecke war die vorweggenommene Idee der schönen Autowelt. In seinem 1927 entstandenen Gedicht Das Ideal geht es um die Wünsche und Vorstellungen vom idealen Wohnort:
Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn
aber abends zum Kino hast dus nicht weit
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit .
Wie wir arbeiten, wie wir wohnen, wie wir Urlaub machen und uns in der Freizeit vergnügen: Die gesamte räumliche Konfiguration unseres Lebens ist auf das Auto angewiesen; ohne Auto würde es nicht funktionieren. Ohne Auto kein modernes Leben mit Familie, kein Eigenheim und kein Urlaub am Meer oder in den Bergen.
Das Auto war viele Jahre das Versprechen auf ein gutes Leben, der Traum vom privaten Glück. Wer Auto fahren konnte, hatte mehr Optionen und Aussicht auf eine bessere Arbeitsstelle, ein niveauvolleres Kulturangebot und eine anspruchsvollere Gastronomie. Wer sich automobil flexibel im Raum bewegte, kam auch sozial voran; die wirtschaftlichen Verhältnisse verbesserten sich. Die Rolle des Autos fiel dabei nicht auf, weil es fast alle so machten. Mittlerweile ist außerhalb der Großstädte kaum noch ein Haushalt ohne Auto. In den Wohngebieten, vor vielen Eigenheimen und Reihenhäusern, vor Supermärkten und Shoppingmalls parken inzwischen Dutzende Fahrzeuge. Im Oktober 2024 meldete das Statistische Bundesamt einen vorläufigen Höchststand an Personenkraftwagen (Pkw): In Deutschland waren mehr als 49 Millionen Pkw zugelassen.
Der ländliche Raum ist ohne Auto kaum mehr benutzbar, weil alles nur noch damit funktioniert, und zwar mit erheblichen Folgen. Indem mit Pkw das Bessere gesucht und gefunden werden konnte, fehlte dem durch das Auto zum Schlechteren-Gewordenen die Perspektive. Theater, Kinos, Gaststätten und selbst Einkaufsläden findet man in ländlichen Regionen kaum noch, weil sie im automobilen Wettbewerb ohne Chancen sind. Der kleine Dorfladen kann nicht überleben, weil man dort nur noch die Eier kaufen würde, die man beim Großeinkauf in der Shoppingmall vergessen hat. Landgasthöfe müssen schließen, weil die Dorfbewohnerschaft Restaurants und Cafés in der Stadt bevorzugt. Das Auto hat einen Teufelskreis des autoabhängigen, entfernungsintensiven Lebens geschaffen. Zunächst gab es die wundervolle Option, überall hinfahren zu können, dann kam der Zwang, überall hinfahren zu müssen.
Wie subtil, aber eben auch gravierend die Wirkung des Autos ist, zeigt folgendes Beispiel einer Berliner Familie, deren Geschichte über viele Jahre hinweg aufgezeichnet wurde:
Ende der 1990er-Jahre wohnte die Familie in Berlin-Kreuzberg in einer für den Stadtteil typischen Altbauwohnung zur Miete. Die Eltern waren verheiratet, hatten eine Tochter und einen Sohn. Die Familie besaß kein Auto; eine U-Bahn-Station und eine Bus-Haltestelle waren in unmittelbarer Nähe; somit waren die Arbeitsstellen und die Schulen für alle gut erreichbar. Da man mitten in der Stadt wohnte, konnten viele Wege wie kleinere Einkäufe und Arztbesuche auch zu Fuß oder mit dem Rad erledigt werden. Für die Freizeitorte war das Rad ebenfalls nützlich, und für die gelegentlichen Fahrten ins Grüne oder zu einer Tennisanlage am Rande der Stadt ein geliehenes Auto. Der Vater war Mitglied beim örtlichen Carsharing-Anbieter, und das geliehene Auto wurde auch ab und zu für Großeinkäufe und gelegentliche Kurzurlaube an die nahe Ostsee genutzt. Die Familie spürte keinen Mangel, fühlte sich auch gesellschaftlich nicht ausgeschlossen, sondern ganz im Gegenteil: mitten im Leben stehend. Doch dann ergab sich für den Vater die Gelegenheit, einen gebrauchten und auch schon in die Jahre gekommenen VW Golf von einem Arbeitskollegen zu übernehmen. Das Angebot war zu verlockend. Ohne groß nachzudenken, kaufte der Vater das Auto für 500 Mark - ein Schnäppchen - und stellte es praktischerweise direkt vor die Haustür auf die Straße. Eine Parkraumbewirtschaftung gab es zu dieser Zeit in Kreuzberg nicht. Weder dem Vater noch seiner Familie fiel auf, wie leicht und zugänglich die Aneignung und auch der Betrieb eines Autos waren. Die Ummeldung gelang damals in Berlin noch im Handumdrehen, das Fahrzeug war gut in Schuss, und es musste keine teure Garage und auch kein Unterstellplatz organisiert werden. Die Straßen waren das neue Heim des Autos. Alles schien völlig selbstverständlich, unproblematisch und auch unpolitisch. Das Auto blieb nicht lange draußen unter der Laterne stehen. Beim Kauf hatte der Vater schon seine Tennisanlage im Kopf gehabt, die er mit dem eigenen Auto nun viel einfacher und kostengünstiger erreichen konnte als mit dem geliehenen Wagen. Er buchte nun öfters, nämlich einmal die Woche, seine Trainingsstunde. Das wiederum nahm die Tochter zum Anlass, den Vater zu bitten, auf dem Weg zur Tennisanlage doch am Reitstall vorbeizufahren. Mit dem Auto ging das deutlich schneller, und wenn der Vater ohnehin schon dort vorbeifuhr, musste man sich nur zeitlich synchronisieren. Das Auto kam nun einmal wöchentlich zum Einsatz und wurde nach der Fahrt wieder auf der Straße abgestellt. Mittlerweile war es aber schon latent im Kopf aller Beteiligten angekommen. Denn nur wenige Wochen später ging die Familie dazu über, die täglichen Einkäufe, die bislang zu Fuß erledigt wurden, zu bündeln und nahezu jede Woche zum Großeinkauf in das Shoppingcenter am Stadtrand aufzubrechen. Hier war alles etwas günstiger, und anschließend konnte man dort auch noch gemeinsam essen. Als sich die Mutter eines Tages am Sprunggelenk verletzte und nicht mehr mit der U-Bahn zur Arbeit fahren konnte, bot der Vater an, sie mit dem Auto zu bringen. Auf dem Weg zu seinem Amt konnte er seine Frau mit einem kleinen Umweg dort absetzen. Der Sohn bemerkte, dass sein Schulweg fast auf derselben Route lag und meldete sich gleich zur Mitfahrt an. Der Einfluss des Autos auf die Planungsprozesse nahm langsam Gestalt an. Mit dem Auto im Kopf musste die Wegführung leicht angepasst werden, und es ging nun täglich mit dem Auto zur Arbeitsstelle der Mutter, zur Schule sowie zum Amt des Vaters. Keiner machte sich deshalb besondere Gedanken, die Fahrten waren sogar sehr angenehm, weil noch Dinge besprochen oder die Nachrichten im Radio gehört werden konnten. Als die Mutter nach rund sechs Wochen ihren Fuß wieder normal belasten und gut laufen konnte, stieg sie wieder aufs Rad bzw. den öffentlichen Verkehr (ÖV) um. Das schien für sie einfacher zu sein, denn die Fahrt dauerte nicht lange, und mit dem Fahrrad fühlte sie sich auch autonomer. Vater und Sohn hatten aber beschlossen, dass es mit dem Auto doch schneller und bequemer sei und blieben dabei. Der Sohn nahm für die Rückfahrt die U-Bahn.
Damit war das Auto als täglich genutztes Verkehrsmittel in der Familie angekommen, und das blieb völlig ohne Debatte im Haushalt. Der »Neuigkeitswert« hatte sich schnell verbraucht. Zu dieser Zeit galt die Verwendung von Autos im Alltag in allen Schichten und Milieus bereits als »normal«.
Die Geschichte geht noch weiter: Ganz am äußersten Stadtrand von Berlin, dort, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen und das Netz des öffentlichen Verkehrs selbst in Berlin wirklich große Lücken hat, wohnte eine Tante...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.