Einleitung.
Inhaltsverzeichnis Kein Blatt am Baume ist dem andern absolut oder vollkommen gleich, viel weniger ein Menschenschicksal dem andern. Könnte ein jeder vor seinem Sterben sein Leben schreiben, es wären so viele verschiedene Lebensbilder als Menschen selbst. Verworren sind die Wege, die in deinem Leben kreuz und quer sich durcheinander verschlingen, - zuweilen gleich einem unentwirrbaren Knäuel, bei dem die Fäden ohne Plan und Zweck ungeordnet aufeinander liegen. So scheint es oftmals, in der Tat jedoch ist es niemals so. Das Licht des Glaubens wirft seinen erhellenden Strahl in das wirre Dunkel und zeigt, wie all die verschlungenen Pfade weisen Zwecken dienen und sämtliche auf ein vom allweisen Schöpfer von Anfang an geplantes und gestecktes Ziel hinführen. Wunderbar sind die Wege der Vorsehung.
Wenn ich von der Hochwarte des Alters aus die zurückgelegten Lebensjahre überblicke und die Verschlingungen meiner Wege sehe, so schlängeln diese einigemal scheinbar am Rande des Abgrundes; zuletzt aber münden und führen sie gegen alle Hoffnung auf die Sonnenhöhe des Berufes, und ich habe allen Grund, das liebevolle und weise Walten der Vorsehung zu preisen, umsomehr, als die nach menschlichem Dünken schlimmen und zum Tode führenden Pfade mir und unzähligen anderen den neuen Lebensquell zeigten.
Ich war über 21 Jahre alt, als ich mit dem Wanderbuche in der Tasche die Heimat verließ. Das Wanderbüchlein charakterisierte mich als Webergesellen, doch seit meiner Kindheit Tagen stand es auf den Blättern des Herzens anders geschrieben. Mit namenlosem Weh und sehnsüchtiger Ausschau nach Verwirklichung meines Ideals hatte ich auf diesen Abschied lange, lange Jahre gewartet, ich wollte Priester werden. So ging ich, nicht wie man wünschte und hoffte, das Weberschifflein weiter zu rudern, sondern ich eilte von Ort zu Ort und suchte, ob ich niemanden fände, der mir zum Studium behilflich wäre. Da nahm sich der nun verewigte Prälat Matthias Merkle (┼ 1881), der damals Kaplan in Grönenbach war, meiner an, gab mir zwei Jahre hindurch Privatunterricht und bereitete mich mit so unermüdetem Eifer vor, daß ich schon nach diesen zwei Jahren ins Gymnasium aufgenommen werden konnte. Die Arbeit war keine leichte und allem Anscheine nach eine vergebliche. Nach 5 Jahren der größten Entbehrung und Anstrengung war ich körperlich und geistig gebrochen. Der Vater holte mich einst aus der Stadt, und noch klingen mir die Worte des Wirtes in den Ohren, bei dem wir rasteten. "Weber," sagte er, "dieses Mal holt Ihr den Studenten zum letztenmal." Der Wirt war nicht der einzige, der so sprach; mit ihm teilten andere dieselbe Ansicht. Ein damals berühmter Militärarzt galt als großer Menschenfreund und als hochherziger Helfer armer Kranker. Im vorletzten Jahre meiner Gymnasialzeit besuchte er mich 90 mal, im letzten Jahre wohl über 100 mal. So gerne hätte er mir geholfen; aber das fortschreitende Siechtum siegte über seine ärztlichen Kenntnisse und seine stets opferbereite Nächstenliebe. Ich selbst hatte längst alle Hoffnung aufgegeben und sah mit stiller Ergebung meinem Ende entgegen.
Zur Unterhaltung und Zerstreuung blätterte ich gerne in Büchern. Der Zufall - ich bediene mich dieses gebräuchlichen, aber vagen, d.i. nichtssagenden Wortes; denn es gibt gar keinen Zufall - spielte mir ein unscheinbares Büchlein in die Hand; ich öffnete es; es handelte von der Wasserheilkunde. Ich blätterte hin und blätterte her; da stand Unglaubliches. Am Ende, so blitzte ein Gedanke in mir auf, findest du gar deinen selbsteigenen Zustand! Ich blätterte weiter. Richtig, das paßte, das stimmte, das war fast bis aufs Haar getroffen. Welche Freude, welcher Trost! Neue Hoffnungen elektrisierten den welken Leib und den noch welkeren Geist. Das Büchlein wurde zuerst der Strohhalm, an den ich mich klammerte; nach kurzer Zeit war es der Stab, auf welchen sich der Kranke stützte; heute gilt es mir als das Rettungsboot, welches eine barmherzige Vorsehung mir zur rechten Zeit, in der Stunde der höchsten Not sandte.
Das Büchlein, das von der Heilkraft des frischen Wassers handelt, ist von einem Arzte geschrieben, die Anwendungen selbst sind größtenteils sehr schroff und streng. Ich probierte ein Vierteljahr, ein halbes Jahr; ich fühlte keine wesentliche Besserung, aber auch nie Nachteile. Das gab Mut. Es kam der Winter des Jahres 1849; ich war wieder in Dillingen. Wöchentlich 2-3 mal suchte ich eine einsame Stelle und badete einige Augenblicke in der Donau. Rasch war ich der Badestelle zugeeilt, noch rascher marschierte ich nach Hause in die warme Stube. Schaden brachte diese kalte Übung nie, Nutzen, wie ich meinte, nicht viel. Im Jahre 1850 kam ich in das Georgianum nach München. Da fand ich einen armen Studenten, dem es noch viel schlimmer erging als mir selbst. Der Anstaltsarzt weigerte sich, ihm zur Erlangung des für die Weihe notwendigen Tischtitels ein Gesundheitszeugnis zu schreiben; denn, so lautete das Verdikt, er lebe nicht mehr lange. Jetzt hatte ich einen lieben Kollegen. Ich weihte ihn ein in die Mysterien (Geheimnisse) meines Büchleins, und wir beide probierten und praktizierten um die Wette. Der Freund erhielt binnen kurzer Frist vom Arzte das gewünschte Zeugnis und lebt heute noch. Ich selbst erstarkte mehr und mehr, wurde Priester und lebe im hl. Berufe schon über 38 Jahre. Meine Freunde schmeicheln mir und sagen, daß sie heute noch, wo ich bereits 70 Jahre zähle, die Stärke meiner Stimme bewundern und über meine Körperkräfte staunen. Ein treubewährter Freund blieb mir das Wasser; wer kann es mir verargen, daß ich ihm gleichfalls treue Freundschaft bewahre?
Wer selbst in Not und Elend saß, der weiß Not und Elend des Nächsten zu würdigen.
Nicht alle Kranken sind in gleicher Weise unglücklich. Wer Mittel und Wege besitzt, sich Heilung zu verschaffen, kann sich leicht mit einer kurzen Leidenszeit versöhnen. Solche Kranke wies ich selbst in den ersten Jahren zu Hunderten und Tausenden ab und ließ sie abweisen. Jener Arme bedarf zumeist unseres Mitleids, welcher, selbst arm und verlassen, von den Ärzten aufgegeben und von den Medikamenten und Heilmitteln verlassen ist. Leute dieser Art zähle ich in großer Menge zu meinen Freunden; denn solche Arme und gänzlich Verarmte, die nirgends mehr Hilfe bekamen, habe ich nie abgewiesen. Hart, gewissenlos und undankbar wäre es mir vorgekommen und käme es mir noch vor, solchen Verlassenen die Türe zu verschließen, jene Hilfsquellen zu verweigern, welche mir selbst in meiner Not Heilung und Rettung gebracht haben.
Die große Zahl der Leidenden, die noch größere Verschiedenheit ihrer Leiden spornte an, die Wassererfahrung zu bereichern, die Wasserheilmethode zu vervollkommnen.
Meinem ersten Wasserrate, dem bekannten Büchlein, bin ich für seinen einleitenden Unterricht von Herzen dankbar. Doch bald schon erkannte ich, daß manche Anwendungen zu schroff, für die menschliche Natur viel zu stark und abschreckend sind. "Roßkuren" nannte man mit Vorliebe die Wasserkur, und noch heutzutage lieben es viele, welche das beschimpfen, was sie gar nicht kennen oder nicht gründlich kennen, alles nach Wasser Schmeckende in Bausch und Bogen als Schwindel, Pfuscherei usw. zu bezeichnen. Gerne gebe ich zu, daß manche Anwendungen und Übungen der noch primitiven, d.h. erst entstehenden und noch unentwickelten Wasserkur eher für ein starkmuskeliges und starkknochiges Roß paßten als für ein von Fleisch weich umkleidetes und mit zarten Nervchen besaitetes Menschengerippe.
Im Leben des berühmten Paters Ravignan S. J. kommt folgende Stelle vor: "Seine Krankheit, ein Halsübel, wurde durch die Anstrengung (der Pater war ein berühmter Prediger, der in Paris, London und vielen anderen großen Städten mit apostolischem Eifer seines Amtes waltete) verschlimmert und ging bald in ein chronisches über.... Die Luftröhre war nur mehr eine Wunde, die Stimme blieb erloschen und sein Organ wie erschöpft. Zwei ganze Jahre (1846-1848) sollten in Untätigkeit und Leiden verfließen. Kuren an verschiedenen Orten, Luftveränderung im Süden, welche folgten, verliefen ohne Resultate. Im Juni des Jahres 1848 nahm Pater Ravignan Aufenthalt bei Doktor K. R.... in dessen Landhaus im Tale zu B.... Eines Morgens nach der Messe, zu der Stunde, die gewöhnlich alle Bewohner des Hauses vereinigte, kündigte der Doktor den Versammelten mit besorgter Miene an, daß Pater Ravignan sich leidender fühle und nicht zum Frühstück kommen werde. Damit verschwand er auch selbst wieder,.... ging zu dem Kranken und sagte ihm: 'Stehen Sie auf und folgen Sie mir!' 'Aber wohin führen Sie mich?' antwortete letzterer. 'Ich will Sie ins Wasser werfen!' 'Ins Wasser?' sagte Ravignan, 'mit dem Fieber, mit dem Husten! Doch wohlan, es tut nichts, ich bin in Ihren Händen und muß Ihnen gehorchen.' Es handelte sich um ein sogenanntes Sturzbad, ein gewaltsames, aber wirksames Mittel, wie der Biograph (Lebensbeschreiber) sagt. Der Erfolg war ein augenscheinlicher. Schon zum Mittagessen brachte der Doktor triumphierend seinen Kranken in gutem Wohlbefinden mit, und der am Morgen noch Stumme erzählte am Abende die Geschichte seiner Heilung."
Das nenne auch ich so eine kleine Roßkur, welche ich trotz ihres Erfolges weder selbst nachahmen, noch zur Nachahmung empfehlen möchte.
An dieser Stelle muß ich es sagen, daß ich nicht alle an unseren dermal bestehenden Wasserheilanstalten üblichen Anwendungen billige, manchmal sogar entschieden mißbillige. Dieselben erscheinen mir viel zu stark und - man verzeihe den Ausdruck - viel zu einseitig. Gar zu...