Schweitzer Fachinformationen
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Langsam schließt sich das schwere Eisentor hinter ihm. Zwanzig Jahre und dreizehn Tage unschuldig hinter Gittern. Enrico wurde einen Tag früher aus der Haft entlassen. Sonn- und feiertags entlassen sie niemanden. An diesen Tagen sind die Büros der Gefängnisverwaltung unterbesetzt. Es herrscht akuter Personalmangel.
Enrico war ein >Frack<, ein Lebenslanger. Lebenslange verbrachten im Durchschnitt zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre hinter Gefängnismauern, ehe ein Vollzugsgericht bei ordentlicher Haftführung ihrem Entlassungsantrag folgte.
Er mußte fast die volle Zeit absitzen. Alle seine Ansuchen um Begnadigung wurden abgelehnt. Er hatte vor Jahren zwei Mithäftlinge krankenhausreif geschlagen.
Zögernd dreht er sich noch einmal um. Die staatliche Strafanstalt thront wie eine mittelalterliche Burg, umgeben von Olivenhainen und braunen Feldern, auf dem sanften Hügel von San Stefano.
Die riesige Beton- und Stahlkonstruktion ist drei Stockwerke hoch, die Zellen liegen in einer langen Reihe nebeneinander auf den Galerien. Kantinen und Duschen befinden sich im Erdgeschoß. Die Werkstätten und die Büros der Gefängnisverwaltung sind in einem Nebengebäude untergebracht.
San Stefano gilt als das modernste und sicherste Gefängnis des Landes. Enrico wurde Ende 1976, kurz nach der Eröffnung dieses Renommierbaus, hierher verlegt. Die ersten beiden Jahre seiner Gefangenschaft verbrachte er in einem feuchten Loch in der Nähe von Triest.
Seine Zelle in dem Triestiner Gefängnis hatte kein Fenster. Er konnte nur auf den Korridor hinaussehen und zu den Zellen gegenüber. Damals war er noch froh gewesen, nicht isoliert zu sein. Er hatte interessante Leute um sich, eine bunte Gesellschaft von Dieben, Zuhältern und Betrügern.
Gleich zu Anfang, als er erst ein paar Wochen hinter Gittern saß, kam ein Brief von seinem Freund Michele. Die meisten Zeilen waren mit schwarzen Balken bedeckt. Wahrscheinlich hatte der Junge wirres Zeug geschrieben. Enrico hob den Brief dennoch auf, beantwortete ihn sogar ein gutes Jahr später.
Bald nach seiner Einlieferung begann er einen Fluchtplan zu entwickeln. Eineinhalb Jahre lang arbeitete er mit großer Akribie an seinem Plan. Er schlug die Zeit damit tot. Nach eineinhalb Jahren wurde ihm klar, daß er sich diesen Plan aus dem Kopf schlagen mußte. Allein würde er es niemals schaffen, und seinen ständig wechselnden Zellengenossen wollte er sich nicht anvertrauen. Aber es gab noch eine andere Fluchtmöglichkeit, mit der er sich nun in seinen Träumen beschäftigte. Die Gefängniswärter hatten zwar alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, Spiegel, Gürtel, Krawatten und Schuhbänder verboten, aber sein Plan war viel einfacher.
Die Stromversorgung in den Zellen war zeitlich begrenzt. Normalerweise wurde Punkt zehn Uhr abends das Licht ausgeschaltet. Danach kontrollierten die Wächter kaum mehr die Zellen. Er brauchte nur sein Bettlaken in dünne Streifen zu zerreißen, zwei, drei Streifen naß zu machen und zu einem festen Seil drehen und sich, wenn alle schliefen, auf die Bank zu stellen, das Seil am Fenstergitter befestigen, die Schlinge um den Hals zu legen und runterzuspringen.
»Die Stimmen der anderen Häftlinge verschmelzen zu einem unverständlichen Gemurmel, in meinen Ohren dröhnt ein lautes, eintöniges Surren. Und ich fühle, wie mich die Sehkraft verläßt. Die Zellenwände neigen sich, rücken immer näher, die Decke senkt sich ...«, schrieb er damals in seiner Verzweiflung an seinen Freund Michele. Er schrieb im Stehen, das Blatt Papier an die Wand gedrückt, da ihm keine bequemere Stellung möglich war, wenn er sich nicht auf den verdreckten Boden setzen wollte.
Den Häftlingen war es verboten, tagsüber das Bett zu benützen - eine reine Schikane. Sie waren zu fünft, eingeschlossen in einem Raum von höchstens zwölf Quadratmetern, zwei Stockbetten, eine schmale Bank ohne Rückenlehne, auf der ein kleiner Mann hockte und nachts auch schlief, weil es für ihn kein Bett gab. Die anderen streiften mit verschwitzten und zum Teil zerrissenen Kleidern wie blinde Fliegen im Raum umher, einige gingen barfuß. An einer Seite des Raumes befand sich eine Toilette, ohne Tür oder sonst eine Abtrennung, die Tag und Nacht Gestank verbreitete. Enrico hatte manchmal das Gefühl, in einer Kloake zu hausen.
Als einer seiner Zellengenossen aus der Strafanstalt entlassen wurde, bat ihn Enrico, seinen Vater aufzusuchen und ihm Bescheid zu geben, wie es um den Alten stehe. Der verrückte Säufer schickte ihm tatsächlich eine Nachricht. »Dein Vater liegt im Sterben«, stand auf dem Zettel, den ihm ein Wärter in die Hand drückte.
In seiner Verzweiflung schrieb Enrico, ohne sich vorher mit seinem Anwalt zu besprechen, einen Haftentlassungsantrag. Er schrieb, sein Vater sei pflegebedürftig, hätte nur mehr ein paar Wochen zu leben, er schrieb sich die Seele aus dem Leib und bekam nie eine Antwort. Sein Vater starb, und er erfuhr erst nach dem Begräbnis von seinem Tod. Damals las er gerade >Zeno Cosini< und er beschloß, ebenfalls das Rauchen aufzugeben. An dem Tag, als der Anwalt ihn vom Tod seines Vaters unterrichtete, schrieb er zum ersten Mal in sein kleines, schwarzes Notizbuch: »1. Juli 1976. Drei Uhr nachmittags. Vater gestorben. LZ (= Letzte Zigarette).«
Kurze Zeit später wurde er nach San Stefano verlegt.
Die Zellen in San Stefano unterschieden sich nicht voneinander. Sie waren alle sechs Quadratmeter groß und spärlich möbliert: Pritsche, Tisch, Stuhl und Waschbecken. Die kleinen Zellenfenster waren vergittert und zusätzlich noch mit einem Maschendraht versehen. Die Häftlinge konnten nur nach draußen sehen, wenn sie auf einen Stuhl stiegen. Was sie sahen, war ein betonierter, schmutziggrauer Platz, auf dem im Sommer Fußball gespielt wurde.
Der einzige Baum stand ausgerechnet vor Enricos Fenster. Eine armselige, kleine Birke, die schon früh im Herbst ihre spärlichen Blätter verlor. Durch das vergitterte Zellenfenster fielen bizarre Schatten von den Zweigen herein. Manchmal stieg er auf seinen Stuhl und beobachtete den leeren Gefängnishof.
Die Gefängnismauer bestand aus groben Betonziegeln. Tauben nisteten in den Höhlen zwischen den Ziegelsteinen. Das große, rostige Eisentor quietschte laut in den Angeln und scheuchte die Tauben auf, sooft es geöffnet wurde. An windstillen Tagen konnte Enrico das Quietschen bis in seine Zelle hören.
Abends waren die Galerien schwarz und still, nur penetrantes Schnarchen und das Gurren und Flügelschlagen der Tauben unterbrachen die Stille.
Der Wechsel der Jahreszeiten machte sich in dem billigst erbauten Gemäuer empfindlich bemerkbar. Im Winter setzte sich die Kälte in Beton und Eisen fest, und es zog wie in einem Taubenschlag. Im Sommer, wenn das Thermometer häufig auf fünfunddreißig Grad kletterte, glichen die Zellen stinkenden Hexenkesseln.
Es gab keine Ventilation, und die Glühbirne, die den ganzen Tag über brannte, verschlimmerte noch die Hitze. Fliegen klebten an den Wänden und am Maschengitter des Zellenfensters. Enrico besorgte sich einen Fliegentöter und entwickelte eine spezielle Schlagtechnik. An seinen besten Tagen zählte er an die hundert Leichen. Aber am nächsten Morgen kehrten sie wieder, ein einziger schwarzer Fliegenschwarm. Irgendwann gab er sich geschlagen.
Im ersten Sommer, den Enrico in dieser Zelle verbrachte, schrieb er ein Gesuch an die Gefängnisleitung, indem er darum bat, wenigstens zweimal in der Woche duschen und die Wäsche wechseln zu dürfen. Er erhielt keine Antwort.
San Stefano glich einer überdimensionalen Fabrik. Den Gefangenen standen sechsunddreißig Werkstätten und Betriebe zur Verfügung. Der Tag begann für sie um halb acht Uhr morgens. Für Enrico bedeutete dies keine allzu große Umstellung. Auch draußen war er täglich um halb acht aufgestanden. Nach dem Frühstück, das aus einer Schale wäßrigem Kaffee und staubtrockenem, zwiebackähnlichem Gebäck bestand, begaben sich die Häftlinge in ihre Betriebe. Gearbeitet wurde bis fünf Uhr nachmittags, danach standen die Maschinen in den Werkhallen still. Tischler, Mechaniker, Drucker und Buchbinder kehrten wieder in ihre Zellen zurück. Manche spielten abends Tischtennis, andere sahen fern. Enrico las sich quer durch die Gefängnisbibliothek.
Die Samstage brachten immer etwas Abwechslung. Samstag war Besuchstag. Außer von seinem Anwalt bekam Enrico in all den Jahren nie Besuch. Samstag war aber auch der Tag der großen Fußballspiele. Und samstags wurden sie in den Duschraum geführt und erhielten frische Wäsche. Enrico liebte Fußball und frische Wäsche.
Sonntags wurde um acht >geöffnet<. Um neun Uhr vormittags stand >Bewegung im Freien< auf dem Programm, auch im Winter, bei Regen und Kälte. Und um zwölf Uhr mittags, gleich nach dem Gottesdienst, wurden...
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