Schweitzer Fachinformationen
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Meine Mutter war eine leidenschaftliche Frau. Nach dem Tod meines Vaters war sie untröstlich gewesen und hatte ihren Schmerz ungeniert ausgelebt, mich regelrecht damit terrorisiert. In ihrem grenzenlosen Egoismus hatte Agnes gar nicht bemerkt, dass ich mindestens so sehr unter dem Verlust meines Vaters litt wie sie.
Er hatte ein kleines Fotostudio in der Webgasse betrieben. Die Lage war nicht schlecht gewesen - nur ein paar Schritte entfernt von der Mariahilfer Straße, Europas größter Einkaufsstraße. Heute machte dort ein Schnitzel-Schnellimbiss ausgezeichnete Umsätze.
Als das Zeitalter der Digitalfotografie hereinbrach, ging es mit dem Geschäft bergab. Zum Glück war mein Vater bereits im Pensionsalter gewesen und hatte rechtzeitig zugesperrt, bevor er Konkurs anmelden musste. Leider hatte er seine Rente nicht lange genießen können, zwei Jahre später war er an einem Herzinfarkt gestorben.
Agnes hatte sich mit dem Geld, das vom Verkauf des Foto-Geschäfts übriggeblieben war, ein Häuschen auf der griechischen Insel Samos zugelegt. Seither hauste sie dort in einer Community österreichischer Pensionisten. Sie hatte Malerei studiert, bevor sie meinen Vater geheiratet hatte, die Malerei aber nach meiner Geburt aufgegeben. Auf Samos hatte sie wieder zu malen begonnen. Clever, wie sie war, verkaufte sie ihre Bilder gar nicht schlecht und arbeitete mittlerweile sogar als Kunsttherapeutin. Mich beglückte sie jedes Jahr zum Geburtstag mit einem ihrer Werke. Ich fand die abstrakten, farbenfrohen Bilder meiner Mutter schlicht und einfach scheußlich und versteckte sie im Abstellraum.
Die 150 Quadratmeter große Wohnung meiner Eltern im Majolikahaus am Naschmarkt hatten Gernot und ich übernommen. Drei Zimmer, ein Kabinett, Küche, Bad und zwei Balkone. Das Wohnzimmer beanspruchte über 40 Quadratmeter, die anderen Räume waren kleiner. Aber selbst das Kabinett, das ich als Dunkelkammer nutzte, hatte zwölf Quadratmeter. Ich hatte den Raum schwarz ausgemalt und das Fenster mit schwarzem Papier zugeklebt. Den Rest nahmen Bad, Klo und eine gemütliche Küche mit einem Esstisch, an dem vier Personen Platz hatten, ein. Ein Balkon mit hübschem Jugendstilgeländer ging auf die Linke Wienzeile hinaus. In der Küche gab es einen winzigen Klopfbalkon, auf dem kaum mehr als zwei Klappsessel Platz fanden.
Eine Wand in meinem geräumigen Vorzimmer war vollgestellt mit Schränken, an der gegenüberliegenden Seite hingen gerahmte Kunstfotos, alle in Schwarz-Weiß. Hauptsächlich Landschaftsbilder, Stadtansichten und Porträts von fremden Menschen. Ich bevorzugte die Schwarz-Weiß-Fotografie, das Spiel mit Licht und Schatten, die Schärfe der Konturen, das Ungeschminkte, Farblose. Die Realität ließ sich so meiner Meinung nach am besten einfangen - man hatte das Gefühl, sie unter Kontrolle zu bekommen, sie zu beherrschen.
Meine Mutter warf mir oft vor, auch im Leben alles schwarz-weiß zu sehen. Die Meinung meiner Mutter interessierte mich jedoch nie wirklich, Agnes schwebte immer in anderen Sphären.
Die Weihnachtsfeiertage pflegte sie jedes Jahr bei uns zu verbringen. Bevor sie anrauschte, holte ich ihre geschmacklosen Bilder aus dem Abstellraum und tauschte meine Schwarz-Weiß-Fotografien gegen sie aus.
Agnes blieb meist nur zwei, drei Wochen. Länger hielt sie es ohne Meer und ihre Freunde nicht aus.
Ich besuchte sie ein- bis zweimal im Jahr auf Samos. Allein. Gernot hasste Fliegen. Meist flog ich an einem der langen Wochenenden im Mai zu ihr, manchmal auch eine Woche im Oktober, wenn es in Wien kalt und nass war, während man auf Samos noch im Meer schwimmen konnte. Ich kannte diese Insel seit meinem vierten Lebensjahr. 1976 hatten meine Eltern zum ersten Mal ihren Urlaub auf Samos verbracht. Agnes hatte sich damals in diese grüne Insel verliebt und war danach fast jeden Sommer mit mir dorthin gefahren, mit oder auch ohne meinen Vater.
Agnes war eine typische Altachtundsechzigerin, rauchte gerne Joints, kleidete sich wie ein Althippie und trug ihr graues Haar schulterlang. Sie hatte mich bei meiner Scheidung vor Gernots Tricks gewarnt. Ich hatte leider nicht auf sie gehört.
Heute hatte sie mir nichts Besonderes mitzuteilen. Sie wollte nur meine Stimme hören.
Ich erzählte ihr bewusst nicht von meinem ersten Fall. Nachdem wir die ungewöhnlichen Temperaturen in Wien und die angenehmen siebenundzwanzig Grad auf Samos ausführlich besprochen hatten, fragte sie mich, ob ich nicht Anfang September zu ihr kommen wollte.
Ich verneinte und wünschte ihr eine gute Nacht.
Die täglichen Telefonate mit meiner Mutter deprimierten mich - jedes Mal musste ich danach an meine beruflichen Misserfolge und an meine gescheiterte Ehe denken.
Da ich auf der Scheidung bestanden hatte, waren gewisse Zugeständnisse meinerseits unabdingbar gewesen. Gernot hatte sich nicht scheiden lassen wollen, ich hatte ihn regelrecht erpresst. Erpressung war weder ihm noch mir fremd, denn damit hatten wir, oder besser gesagt er, ein Vermögen gemacht.
Jahrelang hatte ich für meinen Mann Nachforschungen und Ermittlungen durchgeführt, die nicht ganz astrein gewesen waren, aufgrund derer mein Mann aber seinen Klienten viel Geld erspart oder verschafft hatte. Nach der Trennung von ihm plante ich, mich als Detektivin selbstständig zu machen und eine eigene Detektei zu eröffnen. Vorher musste ich einen Intensivkurs an der Akademie in Krems absolvieren - was natürlich Prüfungen bedeutete. Irgendwann sollte ich meine schreckliche Prüfungsangst in den Griff kriegen.
Ich kannte jede Menge Anwälte, denen ich in Zukunft meine Dienste anbieten wollte. Der Kurs kostete jedoch Geld. Es war anzunehmen, dass Gernot mir das Geld gegeben hätte. Dadurch wäre ich ihm wieder verpflichtet gewesen, und das war das Letzte, was ich wollte.
Wir hatten uns auf eine Unterhaltszahlung ungefähr in der Höhe der Mindestsicherung geeinigt, was ich mittlerweile bereute. Sein Vermögen hatte Gernot nicht mit mir geteilt, sondern sicher in der Schweiz geparkt. Ich hatte darauf verzichtet, mir einen eigenen Anwalt zu nehmen, und alles einvernehmlich mit ihm geregelt. Da er der beste Scheidungsanwalt der Stadt war, hatte ich mir so wenigstens die Anwaltskosten erspart. Wie sich herausstellte, war das ein Riesenfehler, denn ich war nach wie vor von seiner Gunst abhängig.
In den ersten Wochen nach der Scheidung war ich euphorisch, ja fast manisch gewesen. Ich hatte meine neue Freiheit genossen, viel Geld ausgegeben, eine sündhaft teure Foto-Ausrüstung gekauft, eine sechswöchige USA-Reise gemacht. Ja, ich hatte sogar Kontakt zu einer Galeristin aufgenommen, die ernsthaftes Interesse an meinen USA-Fotos zeigte.
Anfang Juli war ich beim Joggen am Wienfluss zusammengebrochen. Ich bin seit meiner Jugend eine leidenschaftliche Läuferin, war Wiener Juniorenmeisterin über 1000 Meter und habe an internationalen Leichtathletik-Wettkämpfen teilgenommen. Laufen ist bis heute das wirkungsvollste Antidepressivum für mich. Und gerade, als ich mich besser denn je fühlte, frei und ungebunden und voller aufregender Zukunftspläne, passierte mir dieser Unfall.
Die Dämmerung war über die Stadt hereingebrochen. Ich hatte meine täglichen fünf Kilometer bereits hinter mir. Als ich die Nevillebrücke überquerte, die den fünften mit dem sechsten Bezirk verbindet, rutschte ich aus. Ich hatte das kleine Hundehäufchen nicht gesehen, wahrscheinlich hatte ich von meiner Ausstellung geträumt. Meine Aversion gegen Hunde ist übrigens nach diesem Scheiß-Unfall noch stärker geworden. Da ich nicht mehr aufstehen konnte, rief ich die Rettung. Die Männer vom Arbeitersamariterbund brachten mich ins Unfallkrankenhaus Meidling. Meine Achillessehne war gerissen. An die OP - oder Rekonstruktion, wie die Ärzte es nannten - kann ich mich kaum erinnern. An die Nachwirkungen der Narkose sehr wohl: Als ich aufwachte, fühlte ich mich richtig high.
Gernot besuchte mich am nächsten Tag und erstickte mein Krankenzimmer in Blumen. Ich konnte mich nicht tatkräftig dagegen wehren, aber ich konnte wenigstens den Besuch meiner Mutter vereiteln: Von der Operation erzählte ich ihr erst, nachdem ich längst aus dem Spital entlassen worden war.
Es folgten eine Art Gehgips, ein futuristisch anmutender Spezialschuh, und die unvermeidlichen Krücken. Die Depression war unausweichlich. Ich konnte mich zu keinerlei Aktivitäten aufraffen. Das Einzige, was mir gelang, war, das Angebot meiner Mutter, nach Wien zu kommen, abzuwehren. Im Lügen war ich nicht schlecht. Ich erzählte Agnes, wie rührend sich Gernot um mich kümmerte, und sie blieb, wo sie war. Ihren Schwiegersohn hatte sie von Anfang an nicht leiden können. Sie hielt ihn für einen typischen Aufsteiger und fand ihn ungemein spießig.
Die unerträglich heißen ersten Juliwochen verbrachte ich vor meinem neuen Fernsehapparat. Wenn ich nicht fernschaute, saß ich auf meinem schattigen Klopfbalkon. Beinahe täglich beobachtete ich von dort aus stundenlang das Leben im Hof unter mir. Manchmal wechselte ich abends hinüber auf den größeren Balkon mit Blick auf den Naschmarkt, tagsüber war es mir dort zu heiß, denn bis Mittag knallte die Sonne auf die verflieste Fassade des Majolikahauses.
Der großartige Architekt Otto Wagner hatte das ganze Haus aus hygienischen Überlegungen verfliesen lassen, und die Fassade litt tatsächlich bis heute weniger unter der Umweltverschmutzung als alle anderen Häuserfassaden in Wien. Die hübschen Blumenornamente waren von Alois Ludwig entworfen und von der Firma Wienerberger umgesetzt worden. Am liebsten mochte ich die Seerosen. Auch das Nachbarhaus war ein Prachtbau von Otto Wagner, und die vergoldeten...
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