Meinen Bruder hatte ich seit sechzehn Jahren nicht gesehen. Nicht gesprochen.
Daß er in dieser mit John durchschwiegenen Nacht anruft, ist bestürzend, unbegreiflich, beinahe erschreckend. Seine Stimme kaum verständlich, rauh, mühsam nach Worten suchend. Wo war die allzeit bereite witzig-rasante Kodderschnauze. Plötzlich spüre ich die feucht-muffige Kälte der Friedhofskirche. Fühle den Schmerz seiner verkrampften Hand in meinem Oberarm, sehe ihn mit seinem verwurschtelten Wollschal unentwegt das Gesicht wischen. Die Urne stand auf einem Tisch. Wir versuchten, sie nicht anzusehen. Zu grausam, zu fremd, zu knebelnd. Der Weg zur Urnenstelle in eisiger Weihnachtskälte, langsam ehrfürchtig abgeschritten, schier endlos. Vereist nahmen wir die Kondolationen entgegen. Einer mit Glatze blökte: »Haltung, Haltung. Das Leben geht weiter.« Ich fürchtete, Heinz würde ihm in die Fresse schlagen. Nazi-Ton. Tapfer. Führer. Vaterland-Ton. Wir hasteten von dannen. Am Tor nahm er mich kurz in den Arm. Drückte mich. »Mach's gut«, murmelte er. Tonio und er gaben sich kurz die Hand. Sie hatten sich nichts zu sagen.
Zehn Jahre später schrien die Überschriften der Tageszeitungen: Knefs Bruder zusammengeschlagen. Intensivstation. Schädel-Bein-Armbrüche.
Ich rief die Redaktion an, die Kripo, den Polizeipräsidenten ... überall das gleiche: Sie können nicht helfen. Er ist nicht bei Bewußtsein. Die Chancen, daß er überlebt, sind gering. Es wird alles getan.
»Wer war es und warum?«
»Wir wissen wenig, und wenn wir es wüßten, könnten wir es nicht am Telefon sagen. Es waren ungefähr fünf. Profis.«
»Mordanschlag?«
Sie drucksten.
»Kommen Sie um Gottes willen nicht her. Es würde ihm nicht helfen. Ihnen schon gar nicht. Es würde Sie außerdem in Gefahr bringen.« »Was für eine Gefahr?«
»Mehr können wir nicht sagen. Beim besten Willen nicht.«
Ich schickte Geld, Blumen, obwohl ich aus Erfahrung wußte, daß sie niemals in einer Intensivstation landen würden. Außerdem war er bewußtlos, hatten sie gesagt.
Er war zehn Jahre jünger. Ich hatte ihn gehaßt, bevor er geboren wurde. Kinderlandverschickung, um während der Geburt nicht im Wege zu sein. Stiefvater aufgebläht. Mutter noch mehr.
Ich fühlte mich wie ein überaltertes störendes Möbel, obgleich ich wie acht aussah. Als ich die sieben Wochen Kindergefängnis abgesessen hatte, war alles unverändert, außer daß Mutter bis zur Unkenntlichkeit aufgeplustert war und sich die Haare dunkel gefärbt hatte, was ihr nicht stand. Es ließ ihre schönen grünen Augen giftgrün und unnachsichtig erscheinen, ihr Gesicht schwammig-hart. Ich ging wieder zur Schule, die ich ausgiebigst haßte, und arbeitete nachmittags in Stiefvaters Schuhmacherei, die er >Besohlanstalt< nannte. Ich pinselte die Ränder der neubesohlten Schuhe an und verkaufte Schnürsenkel oder Schuhcreme.
An einem heißen Mittag traf ich Stiefvater mit halbleerer Kornflasche in der Hand.
Er feixte, brüllte dann, daß es durch die hufeisengebogene Bernhardstraße ballerte:
»Ein Stammhalter.« Obwohl er ein gutmütiger Mann war, griente er abschätzend auf mich hinunter.
Brav lief ich ins Krankenhaus. Mutter sah furchterregend aus. Gelb. Matt. Lallend. Sie war zweiundvierzig, als er zur Welt kam.
Die katholischen Schwestern gaben ihr keine Schmerzmittel. Obwohl meine Mutter keineswegs wehleidig war, schrie sie stundenlang. Eine Schwester flötete: »Die Zeugung ist erfreulicher, nicht wahr?« Sie hatte einen Riß, den sie ihr bei vollem Bewußtsein nähten. »Reißen Sie sich zusammen. Das sind wir unserm Führer schuldig.«
Den Sohn, der zehn Pfund gewogen hatte und Heinz heißen sollte, sah ich nicht. Nach drei Wochen kamen sie nach Hause. Ich hatte Stiefvater bekocht, die Wohnung sauber gehalten; wann ich Schularbeiten machte, bleibt ein Geheimnis.
Wir hatten zwei Zimmer und eine Toilette, die wir mit vier Nachbarn teilen mußten. Eine Badewanne gab es nicht. In der Ecke neben Mutters Bett stand der Wickeltisch. Ich erhielt Unterricht in Säuglingspflege. Heinz war das, was man einen >strammen Bengel< nannte. Ich hingegen: spindeldürr, blutarm, aussichtslos; geradezu geschaffen, um den vielversprechenden Stammhalter aufzupäppeln. Stiefvater vergaß selbst seinen Asthma-Anfälle auslösenden Haß auf Blockwarts, Hakenkreuzfahnen, Nazis, Braun, Parteiabzeichen und die bevorstehende Olympiade, in der >Hitler sie allesamt einwickeln< würde; ausländische Trottel würden in Scharen herbeieilen, beeindruckt vom Pomp unnachahmlicher Disziplin der blitzsauberen HJ- und BDM-Jugend heimkehren. Daß Stiefvater der untergetauchten kommunistischen Partei angehörte, erfuhr ich erst, als Hitler tot und Berlin eine Wüstenlandschaft war. Wie er es zustande gebracht hatte, bis dahin zu überleben, obwohl er einige Male von der Gestapo verhört wurde, auch einst eine Lederfabrik mit Herrn Gold besessen, war - so nehme ich an - einzig und allein seinem treuherzigen Gebaren, dem demütigen Geseire über das die Welt in Erstaunen versetzende Aufleben des geliebten Vaterlandes zuzuschreiben. Doch entscheidend war General Paulus. Er reparierte seine Schuhe, trank mal einen Schnaps mit ihm, und Paulus versicherte, daß Stiefvater der beste Schuhmachermeister Berlins war.
Stiefvater war nun nicht mehr Stiefvater einer spillrigen Tochter, sondern Vater eines prachtvollen Sohnes. Der Schatten meines mit achtundzwanzig Jahren verstorbenen wilden schönen konkurrenzlosen Vaters war gelöscht. Beinahe. So hoffte er. Denn daß Mutter ihn bis zu ihrem Tode liebte, war kaum geheimzuhalten.
Von nun wickelte ich, wusch, puderte ein, salbte, kochte Jenaer Glasflaschen aus, rührte Breie. Doch Heinz brüllte. Auch nachts. »Eben ein richtiger Junge«, sagte Stiefvater stolz und unausgeschlafen. Einmal pinkelte der Sohn seinem Vater mitten ins Gesicht. Der lachte, bis sein Asthma Einhalt gebot.
»Das macht ihr erst mal nach«, sagte er triefend und blickte beglückt von Mutter zu mir und zurück. Heinz war der erste Erfolg seines nunmehr zweiundfünfzigjährigen Lebens. Die Lederfabrik hatten die Nazis ihm abgenommen, der Schuhmacherladen, den man ihm erlaubte, mußte ohne Gehilfen geführt werden, der Staub der Schleifmaschinen machte sein Asthma unerträglich, seine Korn- und Biertrinkerei das Eheleben wenig erfreulich. Heinz und ich verbrachten die Nachmittage allein. Mutter half im Laden. Heinz brüllte zum Steinerweichen. Ich trug ihn, schaukelte, fütterte: er schrie. Einmal biß ich ihn in den Unterarm. Er hatte zwei kleine Flecke, die ich unter seinen Ärmeln versteckte ... Seitdem brüllte er nicht mehr.
Pünktlich an seinem ersten Geburtstag fing er an zu laufen. Mein Leben bestand aus Wegräumen, Platzschaffen. Töpfe Pfannen Teller Tassen Gabel Messer Scheren Streichhölzer. Selbstmörderisch fand er, was tödlich. »Du bist verantwortlich«, hieß es. Meine Kindheit - bis auf die wenigen Jahre mit meinem Großvater nicht erwähnenswert - vertrocknete vollends. Abends kam Mutter aus dem Laden, dann ging ich runter, Schuhe austragen. Kalte unübersehbare Hinterhöfe, feucht-kalte Angst.
»Es wird Krieg geben«, sagte Stiefvater.
>Endlich eine Abwechslung<, dachte ich.
Ich fuhr Heinz mit meinem Fahrrad nachmittags in einen Kindergarten, den er eilends zertrümmerte, bis die Oberschwester sein Fernbleiben empfahl. Fortan saß ich mit taubenfütternden Greisinnen auf Parkbänken und paßte auf, wie er in die Sandkisten pinkelte.
Wir waren in eine neue Wohnung gezogen. Ein Haus weiter. Der Korridor zur Küche war lang. Ich rannte mich dumm und dösig. Außerdem graulte ich mich in den düsteren Zimmern. Ich wurde mal wieder krank. Eine Kiefer- und Nasenoperation war unumgänglich. Morgens packte ich mein Köfferchen und lief ins Krankenhaus. Sie gaben mir eine Spritze, danach brach die Hölle aus. Der Professor kreischte: »Halt's Maul, du dumme Jöre« und ohrfeigte die unoperierte Seite.
Mutter und Heinz besuchten mich. »Wie siehst'n du aus?« fragte er kichernd. Blutverschmiert blauschwarz von Stirn zum Kinn aufgeschwollen. Endlich durfte ich nach Hause, mußte jedoch liegen. Wenn wir allein waren, rüttelte Heinz das Bett, in der Hoffnung, daß ich wieder blute.
Natürlich wollte er Lokomotivführer werden. Er bekam eine Eisenbahn, über die jeder stolperte. Einmal spielte er mit einer Kinderfahne, rutschte aus, spießte sie durch die linke Backe.
Da hing die Fahne draußen, der Stiel drinnen. Ich schleppte ihn in den Laden. Er brüllte wie am Spieß. Die Fahne wurde gezogen, Jod getröpfelt, das Gebrüll trieb die Nachbarschaft zusammen. Die Narbe hinterließ eine grübchenhafte Vertiefung.
Einmal stahl er fünf Reichsmark aus der Ladenkasse. Stiefvater versohlte ihn mit einem Lederriemen. Danach weinten beide.
Ich war zu der verbitterten Einsicht gekommen, daß Heinz' Auftritt mich aus dem ohnehin kargen Zuhause ausgestoßen, obenauf die Zuneigung meiner Mutter gestohlen hatte. Nicht, daß diese sich bis dahin überschwenglich kundtat, doch war ich jetzt nurmehr das verstakst-dösige Bleichgesicht, das von sämtlichen entstellenden Krankheiten wie Gerstenkörnern und Allergien befallen war und neben dem kräftigen Wesen, das jeden Kunden zu >Strammes Bürschchen< oder >Entzückender Wildfang< animierte, keinesfalls bestehen konnte. Unbeachtet wickelte ich Schuhe aus oder auch ein, zählte Schnürsenkel und Kassenzettel.
In der...