Schweitzer Fachinformationen
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AN EINEM MILDEN UND WOLKENVERHANGENEN TAG im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, kleine Hügel hinauf und hinunter, durch enge Kurven, mal mit Bäumen zu beiden Seiten wie in einem Tunnel, mal mit dem Meer gleich nebenan, ein Bus. Er gehörte der Arendal-Dampfschifffahrtsgesellschaft und war wie alle Busse des Unternehmens hell- und dunkelbraun. Er fuhr über eine Brücke, an einer schmalen Bucht entlang, blinkte rechts und hielt. Die Tür ging auf, eine kleine Familie stieg aus. Der Vater, ein großer und schlanker Mann in einem weißen Hemd und einer hellen Polyesterhose, trug zwei Koffer. Die Mutter, in einem beigen Mantel und mit einem hellblauen Kopftuch, das um ihre langen Haare geschlungen war, hielt an der einen Hand einen Kinderwagen und an der anderen einen kleinen Jungen. Als der Bus weitergefahren war, hing seine dicke, graue Abgaswolke noch kurz über dem Asphalt.
»Wir müssen noch ein bisschen gehen«, sagte der Vater.
»Schaffst du das, Yngve?«, fragte die Mutter und schaute auf den Jungen hinunter, der daraufhin nickte.
»Na klar«, antwortete er.
Er war viereinhalb Jahre alt, hatte hellblonde, fast weiße Haare und war nach einem langen Sommer in der Sonne braungebrannt. Sein Bruder, knapp acht Monate alt, lag im Kinderwagen und starrte zum Himmel hinauf, ohne zu wissen, wo sie waren oder wohin sie wollten.
Langsam gingen sie die Straße hinunter, eine unbefestigte Schotterpiste, in der Regenfälle kleine und große Schlaglöcher hinterlassen hatten. Zu beiden Seiten lagen Felder. Hinter einem ebenen, ungefähr fünfhundert Meter langen Abschnitt begann ein Wald, der zu den Geröllufern hinunterführte und von niedrigem Wuchs war, als habe ihn der Wind vom Meer flachgedrückt.
Auf der rechten Seite stand, kürzlich erbaut, ein Haus. Weitere Gebäude waren nicht zu sehen.
Die großen Sprungfedern des Kinderwagens quietschten. Das Baby in ihm schloss, von der herrlich schaukelnden Bewegung in den Schlaf gewiegt, nach einer Weile die Augen. Der Vater, der kurze, dunkle Haare und einen dichten schwarzen Bart hatte, stellte einen Koffer ab, um sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn zu wischen.
»Ganz schön schwül heute«, sagte er.
»Ja«, stimmte sie ihm zu, »aber vielleicht ist es am Wasser kühler.«
»Wir wollen es hoffen«, sagte er und hob den Koffer wieder an.
Diese in jeder Hinsicht durchschnittliche Familie, in der die Eltern so jung waren, wie fast alle Eltern damals jung waren, und zu der zwei Kinder gehörten, wie fast alle damals zwei Kinder hatten, war aus Oslo, wo sie in unmittelbarer Nähe des Bislett-Stadions in der Thereses gate gewohnt hatten, auf die Insel Tromøya gezogen, auf der in einem Neubaugebiet ein Haus für sie errichtet wurde. Bis es fertiggestellt war, würden sie in ein anderes, altes Haus auf dem Gelände des ehemaligen Militärstützpunktes Hove ziehen. In Oslo hatte er tagsüber Englisch und Norwegisch studiert und nachts als Nachtwächter gearbeitet, während sie die Fachschule für Krankenpflege Ullevål besucht hatte. Obwohl seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen war, hatte er sich um eine Stelle als Lehrer an der Gesamtschule Roligheden beworben und sie auch bekommen, während sie im Sanatorium für Nervenschwache Kokkeplassen arbeiten würde. Als sie siebzehn waren, hatten sie sich in Kristiansand kennengelernt, mit neunzehn war sie schwanger geworden, und mit zwanzig hatten sie auf dem westnorwegischen Kleinbauernhof, auf dem sie aufgewachsen war, geheiratet. Von seiner Familie kam niemand zur Hochzeit, und obwohl er auf allen Bildern, die damals gemacht wurden, lächelt, umgibt ihn eine Aura von Einsamkeit, und man sieht, dass er zwischen all ihren Brüdern und Schwestern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen nicht wirklich dazugehört.
Inzwischen sind sie vierundzwanzig Jahre alt, und vor ihnen liegt das richtige Leben. Eigene Jobs, ein eigenes Haus, eigene Kinder. Es geht um sie beide, und die Zukunft, der sie entgegengehen, gehört ihnen.
Aber trifft das auch wirklich zu?
Sie waren im selben Jahr geboren, 1944, und gehörten der ersten Nachkriegsgeneration an, die nicht zuletzt deshalb für etwas Neues stand, weil ihre Lebensläufe sich zum ersten Mal in ihrem Land in einer Gesellschaft abspielten, die in einem großen Maßstab geplant wurde. Die fünfziger Jahre waren die Zeit, in der die verschiedenen Wesen – das Schulwesen, das Gesundheitswesen, das Sozialwesen, das Verkehrswesen – und die mächtigen Behörden und Ämter in einer großangelegten zentralen Aktion entstanden, die binnen bemerkenswert kurzer Zeit Konsequenzen für die Lebensweise der Menschen hatte. Ihr Vater, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geboren, stammte von dem Hof, auf dem sie aufgewachsen war, in Sørbøvåg in Ytre Sogn, und hatte keine Ausbildung. Ihr Großvater stammte wie sein Vater und dessen Vater wahrscheinlich auch von einer der vorgelagerten Inseln. Ihre Mutter stammte von einem Bauernhof in Jølster, etwa hundert Kilometer entfernt, und hatte ebenfalls keine Ausbildung. Ihre Familie ließ sich an ihrem Wohnort bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Seine Familie stand dagegen gesellschaftlich eine Stufe höher, da sowohl sein Vater als auch sein Großvater bereits Akademiker gewesen waren. Doch auch sie wohnten noch im selben Ort wie ihre Eltern, in Kristiansand. Seine Mutter, die keine Ausbildung hatte, stammte aus Åsgårdstrand, ihr Vater war Lotse gewesen, ansonsten hatte es in ihrer Familie auch noch Polizisten gegeben. Als sie ihren Mann kennenlernte, zog sie mit ihm in seine Heimatstadt. So sah der Regelfall aus. Die Veränderungen der fünfziger und sechziger Jahre bildeten eine Revolution, jedoch ohne die bei Revolutionen sonst übliche Gewalt und Irrationalität. Die Kinder von Fischern und Kleinbauern, Industriearbeitern und Verkäuferinnen absolvierten nicht nur ein Universitätsstudium und wurden Lehrer und Psychologen, Historiker und Sozialarbeiter, viele von ihnen ließen sich zudem an Orten nieder, die von den Gegenden, aus denen ihre Familien stammten, weit entfernt lagen. Die Tatsache, dass sie dies alles mit der größten Selbstverständlichkeit taten, sagt uns etwas über die Macht des Zeitgeistes. Der Zeitgeist kommt von außen, entfaltet seine Wirkung jedoch nach innen. Vor ihm sind alle gleich, aber für ihn ist niemand gleich. Für die junge Mutter in den sechziger Jahren wäre der Gedanke absurd gewesen, einen Burschen von einem der Nachbarhöfe zu heiraten und den Rest ihres Lebens dort zu verbringen. Sie wollte doch in die Welt hinaus! Sie wollte doch ihr eigenes Leben führen! Gleiches galt für ihre Brüder und Schwestern, und genauso verhielt es sich in Familien im ganzen Land. Aber warum wollten sie das? Woher rührte diese mächtige Überzeugung? Ja, woher kam das Neue? In ihrer Familie gab es dafür keine Vorbilder; der Einzige, der seine Heimatregion jemals verlassen hatte, war Magnus gewesen, der Bruder ihres Vaters, und er war wegen der Armut daheim nach Amerika ausgewandert, und das Leben, das er dort geführt hatte, war dem Leben, das er in Westnorwegen geführt hatte, lange zum Verwechseln ähnlich gewesen. Für den jungen Vater in den sechziger Jahren sah die Sache ein wenig anders aus, in seiner Familie wurde von ihm erwartet, eine höhere Ausbildung anzustreben, vielleicht jedoch weniger, dass er die Tochter eines Kleinbauern aus Westnorwegen heiratete, um sich in einem Neubaugebiet in der Nähe einer kleinen südnorwegischen Stadt niederzulassen.
Dennoch befanden sie sich an diesem schwülwarmen und grauen Tag im August 1969 nun dort und waren zu Fuß auf dem Weg zu ihrem neuen Zuhause, er zwei schwere Koffer schleppend, vollgestopft mit Sechzigerjahreklamotten, sie einen Sechzigerjahrekinderwagen schiebend, in dem ein Baby in Sechzigerjahrebabykleidung lag, will sagen, weiß und voller Spitze, und zwischen ihnen, hin und her wippend, fröhlich und neugierig, gespannt und erwartungsvoll, ihr ältester Sohn Yngve. Über die Ebene gingen sie, durch den kleinen Streifen Wald bis zu dem offen stehenden Tor des großen Stützpunktgeländes. Rechts lag eine Autowerkstatt, die einem gewissen Vraaldsen gehörte, links standen große, rote Baracken um einen offenen Kiesplatz gruppiert und hinter diesem ein Kiefernwald.
Einen Kilometer weiter östlich lag die Tromøy-Kirche, ein steinerner Bau aus dem Jahre 1150, aber Teile von ihr waren sogar noch älter, so dass sie wahrscheinlich eine der ältesten Kirchen im ganzen Land war. Sie stand auf einer kleinen Anhöhe, war seit ewigen Zeiten von vorbeifahrenden Schiffen als Landmarke benutzt worden und auf allen Seekarten verzeichnet. Auf Mærdø, einer kleinen Insel in den vorgelagerten Schären, stand ein alter Kapitänshof und erinnerte an die Blütezeit der Region, das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert, als der Handel mit anderen Ländern, vor allem mit Holz, floriert hatte. Auf Schulausflügen ins Aust-Agder-Provinzmuseum wurden den Schulklassen alte niederländische und chinesische Gegenstände gezeigt, die aus jener Epoche und noch älteren Zeiten stammten. Auf Tromøya wuchsen ungewöhnliche und fremde Pflanzen, die mit den Schiffen dorthin gelangt waren, die ihr Ballastwasser abließen. Außerdem lernte man in der Schule, dass auf der Insel die ersten Kartoffeln im ganzen Land angebaut worden waren. In Snorris Königssagas wurde die Insel mehrfach erwähnt, im Erdreich von Wiesen und Feldern konnte man Pfeilspitzen aus der Steinzeit finden, zwischen den runden Steinen der langgestreckten Geröllufer lagen Fossilien.
Doch als...
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