Schweitzer Fachinformationen
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MITTWOCH, 1. JUNI 2016
Es ist Abend, ein paar Minuten nach halb neun. Die Sonne scheint noch auf die Bäume oberhalb des Friedhofs, von meinem Fenster aus sehe ich ihre obere Hälfte. Es weht ein recht kräftiger Wind aus östlicher Richtung, und so ist es schon den ganzen Tag gewesen. Sämtliche Äste bewegen sich unaufhörlich, als folgten sie unterschiedlichen Rhythmen, manche langsam wogend, andere stoßweise ruckend, einige kreisend, während die Blätter in den Sonnenstrahlen flirren und das Licht des Himmels hinter ihnen in unregelmäßigen Abständen und an immer anderen Stellen den Weg durch die Kronen findet. Es ist wie ein ganzes Orchester aus Bewegung, zu dem auch die Bäume hier unten im Garten gehören, die niedrige, zottelige Trauerweide - ihre Zweige hängen so dicht, dass der Baum an einen Cockerspaniel erinnert; als ich vor ein paar Tagen an einer Seite einiges abschnitt, hätte es mich nicht überrascht, wenn sich hinter dem pelzdichten Laub ein Augenpaar verborgen hätte - und der wuchtige Kastanienbaum wanken und rucken ebenfalls den ganzen Tag hin und her und auf und ab wie vertäute Boote in aufgewühlter See. Als ich am früheren Nachmittag draußen saß, war es auch schon die See, an die ich dachte, denn das Rauschen des Winds war so laut, dass es mich an das Geräusch von Wellen erinnerte, die an Land schlagen, und die Bäume, vor allem die Birke, wurden vom Wind gewissermaßen aufgespannt und glichen großen, grünen Segeln. Der Gedanke gefiel mir, und mir gefiel das Rauschen, es kam mir vor, als wäre ich von einer gewaltigen Aktivität umgeben, als würde um mich herum einer enormen Arbeit nachgegangen. Außerdem gefiel mir, dass mitten in alldem der Gesang der Vögel erklang, wenngleich zurückgezogen, wie aus größerer Tiefe kommend als sonst.
Du schläfst jetzt. Ich war gerade oben im Schlafzimmer, um das Buch zu holen, das ich seit gestern lese, Swedenborgs Das Traumtagebuch, und als ich an dir vorbeiging, bedeckte das Buch, das du im Moment so magst, Max' Nachttopf, dein Gesicht. Ich nahm es fort, und du öffnetest die Augen und sahst mich an, aber ohne dass sich ein Anzeichen des Wiedererkennens in ihnen zeigte, und im nächsten Moment lagst du wieder mit geschlossenen Augen da und atmetest ruhig.
Ich hätte heute schreiben sollen, geplant war, den Text über den Zynismus abzuschließen und danach einen weiteren zu schreiben, eventuell über Schnecken, aber dann rief jemand aus deiner Kita an und sagte, dass du Fieber hast. Außerdem meinten sie, du hättest über Bauchschmerzen geklagt. Deine Mutter war auf dem Weg nach Kopenhagen, um sich mit ihrer Literaturagentin zum Mittagessen zu treffen, es führte also kein Weg daran vorbei: Ich setzte mich ins Auto, fuhr hin und holte dich ab. Du liebst es, Auto zu fahren, so dass es kein Problem war, dich zum Mitkommen zu bewegen, und du magst es, dich in Worten auszudrücken, und wenn Neues passiert, hast du folglich Spaß daran, es auszusprechen. Anne krank, fährt mit Papa Hause, sagtest du, und Anne Aua Bauch, Auto fahren, auf Annes Platz sitzen.
Gestern Abend schautest du mir zu, als ich die Schlafsäcke für deine Schwestern zusammenrollte, die heute in einem Schullandheim sind, und sagtest, Papa rollen! Papa rollen!, und gestern Morgen, als es heftig regnete und in nächster Nähe Blitze einschlugen und Donner über das Haus hinwegrollten und die Stimmung im Flur, als wir zur Schule fahren wollten, aufgekratzt war, riefst du, der Mond, der Mond!, und stelltest dich auf die Treppe, wo du durch das kleine Fenster dort zum Himmel hinaufschauen konntest. Du hattest begriffen, dass das aufflackernde Licht und das Donnergrollen aus dem Himmel kamen, und da er für dich mit dem Mond verbunden war, musst du gedacht haben, dass er dies alles geschehen ließ.
Es stellte sich heraus, dass du nicht besonders krank warst, du hattest nur leichtes Fieber und keine anderen Symptome. Ich nahm mein Notebook ins Wohnzimmer mit, schaltete für dich auf Netflix Das kleine Gespenst Laban ein und versuchte, das Manuskript eines meiner Freunde zu lesen, was jedoch nicht leicht war, denn du wolltest auf meinem Schoß sitzen, außerdem war ich im Grunde zu müde, um mich zu konzentrieren. Ich schlief mit dir auf mir für eine halbe Stunde ein, und danach, als ich dich oben ins Bett legte und mich in dem Zimmer dahinter aufs Bett legte, um zu lesen, schlief ich ebenfalls ein. Wir schliefen zweieinhalb Stunden. Als ich aufwachte, musste ich dich wecken, damit wir deinen Bruder pünktlich von der Schule abholen konnten. Ich zog dir die Windel aus, eine Unterhose und neue Kleider an - einen kleinen, geblümten Rock, den ich vor ein paar Tagen in Simrishamn gekauft habe, und einen weißen Pullover -, setzte dich ins Auto und fuhr nach Ystad. Wir gingen mit deinem Bruder zum Friseur, die Friseuse hatte zwischen zwei Kunden ein paar Minuten Leerlauf und war einverstanden, ihm auf die Schnelle die Haare zu schneiden. Sie schnitt sie ganz kurz, benutzte an den Seiten einen elektrischen Haarschneider und färbte seine Haare mit einer grünen Farbe, die beim nächsten Waschen wieder herausgehen würde, obwohl ihm eine dauerhaftere lieber gewesen wäre. Ihr spieltet ein bisschen auf einem Spielplatz, ich kaufte dir eine gelbe Kappe, und wir aßen in einem Hamburgerrestaurant, bevor wir nach Hause fuhren, wo uns deine Mutter erwartete, und ich ging hierher, um die Mails zu beantworten, die sich angesammelt hatten.
Swedenborgs Tagebuch beginnt im Sommer 1743 in Ystad mit folgenden zusammenfassenden Worten:
1743 d. 21. Juli reiste ich aus Stockholm ab, kam d. 27. nach Ystad, nachdem ich die Städte Tälje, Nyköping, Norrköping, Linköping, Gränna, Jönköping passiert hatte. Traf in Ystad Gräfin De la Gardie, mit ihren 2 Fräulein und 2 Grafen, Graf Fersen, Major Lantingshausen, Mag. Klingenberg. D. 31. kam Gen. Stenflycht mit seinem Sohn an, sowie Kap. Scheckta.
Das Ystad, in dem Swedenborg sich in jenen Sommertagen aufhielt, bevor er nach Stralsund im heutigen Deutschland weiterreiste, kann nicht so wahnsinnig anders ausgesehen haben als Ystad, wie es sich präsentierte, als wir dort heute umhergingen. Einige Häuser im Stadtzentrum stammen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, viele wurden im 17. und 18. Jahrhundert erbaut, und obgleich Asphalt, Beton, Kraftfahrzeuge und Motorboote hinzugekommen sind, ist die Struktur der Stadt doch gleich geblieben, mit dem Hafen als Bühne und den Häusern als Plätze in einem Saal davor, gruppiert um kleine Taschen aus Plätzen und Parks. Verändert hat sich hingegen das Tempo. Swedenborg brauchte sechs Tage von Stockholm bis Ystad, eine Strecke, die ich in sieben Stunden fahre. Auch die Landschaft, durch die er reiste, war eine andere; damals war Schonen noch von großen Laubwäldern bedeckt, nicht von einer Kulturlandschaft wie heute. Seine Tagebucheinträge haben etwas Pflichtschuldiges, kurze Notizen darüber, was er tut und wem er begegnet und wie viele Kirchen in den kleinen Städten stehen, durch die er auf seiner Fahrt durch Europa kommt. Dann passiert etwas. Sechs Seiten des Originalmanuskripts wurden herausgerissen, und danach verschwindet die Außenwelt völlig zugunsten einer inneren Welt, vorher unkommentiert, geschildert in einer glühenden und ungestümen Beschreibung seiner Träume, über deren Bedeutung er spekuliert.
Der Umschwung vom Inneren zum Äußeren erfolgt so abrupt, und das Innere ist so chaotisch und bedeutungsschwer, dass es anfangs kaum möglich ist, sich darin zurechtzufinden.
Was geschieht in ihm?
Als ich dies am früheren Abend las, kam mir in den Sinn, wie sich mein Inneres, der Mensch, der ich für mich selbst bin, in den letzten Jahren verändert hat, wie oft mich das Gefühl überkommt, dass ich niemand bin, nur ein Ort, durch den Gedanken und Emotionen passieren. Diesen Eindruck hatte ich zuletzt, als ich vor einigen Wochen in Buffalo war und durch lange, hohe und völlig verwaiste Flure in einem großen Art-déco-Hotel ging, auf dem Weg von meinem Zimmer zur Straße, um eine zu rauchen. Wie soll ich es erklären? Dass die Gedanken und Gefühle nicht meine waren, dass ich fast kein Ich besaß, das sich auf sie berufen konnte? Es ist ein unheimliches Gefühl, auch, weil es so völlig anders ist als früher in meinem Leben, als mir alles, was mir widerfuhr, und alles, was ich erlebte, vor allem in der Kindheit und frühen Jugend, so wichtig war. Und sämtliche Beziehungen so bedeutungsvoll waren - mein Vater, seine Rolle in meinem Leben, meine Mutter, mein Bruder, meine Großeltern, meine Freunde und Bekannten. Dass alles, was sie getan und zu mir gesagt hatten, und was ich getan und zu ihnen gesagt hatte, gleichsam an mich gefesselt war und ich mich davon ausgehend selbst verstand.
Jetzt kommt es mir so vor, als wären all diese Taue gelöst worden, und die früher lebensbestimmenden Teile sind nunmehr nur das, Teile in meinem Inneren, ungefähr so, wie eine Zwergbirke neben einem Pfad steht oder ein Findling wiederum neben ihr liegt, umgeben von Heidekraut, und weder das Heidekraut noch der Stein oder die Zwergbirke sagen etwas über den Pfad, oder der Pfad, der Stein oder die Zwergbirke über das Heidekraut, sie existieren dort nur, Seite an Seite, und die Identität des Orts, die sie erschaffen und herausbilden, ist ebenso distinkt und einmalig wie zufällig.
Während ich hier gesessen und diese Sätze geschrieben habe, hat deine älteste Schwester zwei Mal aus dem Landschulheim angerufen, sie wollte, dass ich zu ihr komme und sie abhole. Beim ersten Mal meinte sie, die Stimmung sei eiskalt, beim zweiten Mal sagte sie, sie habe Angst. Sie wusste, dass ich nicht zu ihr kommen und sie abholen würde, sie brauchte nur jemanden von außen, dem sie dies sagen konnte, der mit...
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