Schweitzer Fachinformationen
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Es rauschte, sehr kurz und gar nicht laut. Etwas rau klang es, dann knallte es, auch dies sehr kurz, aber lauter. Dann war es ruhig. Die Stille, die folgte, wirkte, als sei soeben etwas geklärt worden, das schon lange der Klärung harrte.
Danach der Ruf: »Mutti! Mein Gott, Mutti!«
Auf dem Bürgersteig voller Gestalten, von denen sich keine einzige rührte, bahnte sich die Frau den Weg. Die Schöße ihres nicht zugeknöpften Sommermantels flogen, als wolle sie Anlauf nehmen, um flatternd abzuheben. Doch das geschah nicht, die Gesetze der Physik verhinderten einen historischen Moment, der das Zeug gehabt hätte, in die Annalen des Quartiers einzugehen.
Laufend und bebend erreichte die Frau den dickbauchigen Wagen. Er war weiß, später am Tag würde sie zu ihrem Mann sagen: »Weiß, was für ein Unsinn! Weiß ist für sie doch praktisch unsichtbar.«
Und ihr Mann würde entgegnen: »Du musst die Sache von ihrem Anfang her denken. Wenn sie einen weißen Wagen sucht, ist die Chance groß, dass sie ihn nicht findet, weil sie ihn nicht sieht.«
»Die Frau muss ihn nicht sehen. Sie riecht ihn. Sie kann ja kaum noch etwas erkennen, auch wenn sie das Gegenteil behauptet. Aber manchmal, wenn sie mich anblickt, dann habe ich den Eindruck: Sie glaubt, sie sieht mich, aber sie sieht mich nicht.«
Sie wusste genau, dass ihr Mann kurz davor stand, eine Bemerkung fallenzulassen, die ihm noch leidtun würde. Aber der feige Hund verkniff sich diese Bemerkung. Dann würde er seine Strafe eben wegen Feigheit in Tateinheit mit vorsätzlichem Schweigen erhalten. Sie war eine erfahrene Gattin, sie musste die Sache nicht mehr so eng sehen wie in den ersten Jahren. Jede Frau lernt dazu, das ist die größte Gefahr für ihren Mann, größer als Krieg, Cholesterin, Corona und Einbrüche beim DAX.
Ihr Mann hatte ein Anrecht darauf, die Geschehnisse des Vormittags detailliert ausgebreitet zu bekommen. Ihr war bewusst, dass er sich auch ohne ihre Detailfreude alle für ihn notwendigen Informationen herausgepickt hätte. Im Verlauf eines Gesprächs hatte er ihre Vorliebe für Einzelheiten, die mit dem bloßen Auge nicht mehr erkennbar sind, »peinigend« genannt. Das war in der Phase, in der er sich freigeschwommen hatte, beziehungstechnisch. Also die Phase, in der sie versäumt hatte, den Kerl unter Wasser zu drücken. Aber er hatte ein Anrecht auf die Wahrheit in all ihren Facetten. Sie konnte nichts dafür, dass alles im Leben, mochte es die Wahrheit sein, Lügen oder das große Gesumms zwischen diesen Polen, von massenhaft Einzelheiten behaftet war wie die Windschutzscheibe im Sommer von Insektenleichen.
»Das ist doch gar nicht Ihre Mutter«, sagte die Frau, neben der sie vor dem weißen Schlachtschiff stand und zusah, wie zwei Ersthelfer die alte Dame am Lenkrad daran hinderten, den Wagen zu verlassen.
»Ich bin heil«, protestierte die betagte Fahrerin, wenn man bereit ist, jemanden, der einen Wagen nach fünf Metern Fahrstrecke gegen die Hauswand gesetzt hat, als Fahrerin zu bezeichnen.
»Der Doktor wirft gleich einen Blick drauf«, kündigte der Ersthelfer an, der eher der handwerklichen als der technischen Berufswelt zuzurechnen war. Er war von der gegenüberliegenden Baustelle herbeigeeilt - so schnell sieht man selten einen Menschen das Gerüst hinabklettern, es sei denn, es ist Feierabend.
»Ich werde doch wissen, ob ich heil bin«, protestierte die Dame. Während die Ersthelfer sich bemühten, den Gurt zu lösen, versuchte sie, den Griff der Helfer zu lösen, denn jeder der beiden wehrte während der Beschäftigung mit dem Gurt mit seinem jeweils freien Arm die renitente Pilotin ab. Die Choreografie der vier hilfsbereiten und kundigen Arme spielte eine Melodie, die den Zuschauern das beruhigende Gefühl vermittelte, soeben Zeugen einer kontrollierten Situation zu werden. Allerdings hielt sich die Aufregung rund um den Wagen sowieso in Grenzen. Der frühere Oberstudiendirektor Doktor Schwupp war bereits zum achten Mal als Augenzeuge dabei, Debütanten waren auf den ersten Blick gar nicht auszumachen. Bei allen Malheurs der jüngeren Vergangenheit war es ohne schwere Verletzungen, wenn auch nicht in jedem Fall ohne Schürfwunden abgegangen. Einmal - jeder erinnerte sich daran - hatte eine Wunde im Kopfbereich heftig geblutet, wodurch die Szene erst die unvergessliche Dramatik und Nähe zu elementaren Zuspitzungen erhalten hatte, die sich bei einem banalen Wumms einfach nicht einstellen will.
Dann eilten auch schon die Doctores herbei. Sie erschienen von beiden Seiten, einer kam von der anderen Straßenseite. Sehr viel diagonaler kann man eine Straße kaum queren. Insgesamt waren sie zu viert, drei im Kittel, einer in Jeans und gestreiftem Hemd, aus dessen Brusttasche etwas lugte, was man auf den ersten Blick für Verbandszeug oder ein Kabel halten konnte. Aber es schien keinen medizinischen Bezug zu besitzen, denn er stopfte es, während er eilte, in die Brusttasche, als solle es niemand sehen. Er hätte es besser wissen müssen.
Drei der vier Mediziner hatten eine Gemeinsamkeit: Jeder Passant, der am Wagen versammelt war, kannte sie mit Namen, einige hätten die Sprechstundenzeiten herbeten können, allerdings kaum jemand die Telefonnummer.
»Wurde telefoniert?«, rief Doktor Endlos. Man bestätigte ihm, dass die 112 eifrig bemüht worden war. Sein Name war nicht Endlos, aber sein Name war lang, ehrlich gesagt wollte er gar nicht wieder aufhören. Der Mann hätte damit rechnen können, dass seine Patienten einen Weg finden würden, um die Sache kurz und knapp auf den Punkt zu bringen. Immerhin war er keiner dieser selten gewordenen Träger von Drei-Namen-Namen. Wenngleich bei Medizinern natürlich noch der unvermeidliche Doktor dazukommt, manchmal auch ein Doppeldoktor, wofür es möglicherweise sogar einen Grund gab, den aber niemand wissen wollte. Je weiter fort vom Handfesten und Knochenbrecherischen, also angenehm Soliden sich die Spezialisierung des Mediziners in Richtung auf Therapie und fernöstliches Voodoo zubewegte, umso mehr stieg die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende das Format eines herkömmlichen Medizinerschildes kaum ausreichen wollte, um alles zu fassen, was gesagt und gewusst werden sollte. Zumal sich heutzutage niemand seinen Arzt aussucht, indem er sich vor das Haus mit zwölf bis 15 Schildern stellt.
Das Erscheinen von Endlos und seiner Boygroup löste die letzten Beklemmungen bei den Augenzeugen des Wumms auf. Die Bruchpilotin war jetzt in guten Händen. Sie sah wohl auch ein, dass sie gegen vier Experten nicht ankommen würde, faltete ergeben die Hände im Schoß und ließ der Heilkunde ihren unvermeidlichen Lauf. Äußerlich wirkte sie konzentriert und präsent, wenn auch weiterhin kiebig. Aber diese Eigenschaften trafen auf die meisten Bewohner des westlichen Stadtteils zu. Bevor hier jemand als gebrechlich gilt, muss sein 90. Geburtstag in Sichtweite sein. In ärztlicher Behandlung waren alle, das gehörte zum guten Ton. Private Versicherungen waren obligatorisch, diverse Ärzte nahmen gar keine Brot-und-Butter-Patienten mehr an. In vielen Praxen verkehrten komplette Sippen, drei Generationen waren keine Seltenheit, vier Generationen kamen vor, wenngleich die jüngsten Patienten kaum in der Lage gewesen wären, aus eigener Kraft die Wahl ihres künftigen Doktors zu treffen.
In der sehr langen und schmalen Straße hatten sich über 40 Praxen angesiedelt. Manch afrikanischer Staat besitzt unterm Strich eine kleinere medizinische Versorgung. Bei dieser Zahl konnte es nicht ausbleiben, dass auch Orchideen-Fachbereiche ihr Auskommen fanden. Wer sich gesund malen und mit seinem Heiler in einer auswärtigen Sprache kommunizieren wollte, die man im besten Fall verstand oder sogar beherrschte oder deren Sinnhaftigkeit man annähernd unterbringen konnte, war hier gut bedient. Kultivierteres Kranksein ist schlechterdings nicht vorstellbar.
Schnell war die Bruchpilotin unter den ärztlichen Körpern verschwunden, schlagartig erlosch das Interesse der Umstehenden.
Im Hintergrund stand die Polizei. Die Beamten wussten, was von ihnen erwartet wurde, und hielten sich zurück, bis die Mediziner ihr in diesem Fall unblutiges Tagwerk verrichtet hatten. Der Helfer mit der Trage zeigte nur pro forma Präsenz. Das Fotografieren allerdings war unvermeidbar wie bei jedem Anlass, der über den Kauf von drei Brötchen hinausging.
Als die betagte Dame den Wagen verließ, empfing sie aufmunternder Applaus. Es war nicht so, dass sie jugendlich vom Sitz federte, aber sie stand sicher und schien zu wissen, in was für ein Spiel sie geraten war. Vielleicht war ihr sogar bewusst, dass sie in dem Stück die Hauptrolle verkörperte. Auf Berührungen oder gar Umarmungen wurde wohlweislich verzichtet. Das lag natürlich an der endlosen Pandemie, noch stärker jedoch an den leidvollen Erinnerungen an demonstrativen Überschwang in der Vergangenheit, der dazu geführt hatte, dass die betagten Bruchpiloten erst nach Ende der kollektiven Umarmungskur hilfsbedürftig waren.
»Ich weiß, dass das nicht meine Mutter ist«, sagte die Frau unwirsch, die unmittelbar nach dem Ende der kurzen Autofahrt »Mutti« gerufen hatte und losgelaufen war.
»Und dennoch nennen Sie sie Mutti«, sagte die Frau neben ihr besorgt. Man hätte die beiden für Schwestern halten können, aber niemand, der hier zu Hause war, hätte das getan. Dann hätte es nämlich Dutzende und vielleicht Hunderte von Schwestern gegeben, die die Häuser des Stadtteils und der benachbarten Quartiere nicht in jedem Fall belebten, aber jedenfalls bewohnten.
»Sie nennen Ihre Biggi doch auch Biggi. Dabei wissen wir beide, dass die Töle auf den einen Namen so schlecht...
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