Schweitzer Fachinformationen
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Plötzlich sind sie groß
Der Moment, in dem du feststellst, dass dein Kind größer ist als du, ist merkwürdig. Da steht das Kind vor dir, das Kind, das eben gerade doch noch auf deiner Brust eingeschlafen ist, zusammengerollt mit diesen süßen Babyfüßchen. Und dieses Kind ist nicht nur plötzlich genauso groß wie du, sondern es überragt dich sogar. Ganz leicht musst du nun den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu gucken.
Okay, ich wusste, dass dieser Moment kommen würde. Bei meinen 1,59 Metern war das eher früher als später. Trotzdem ist das etwas, worauf man nicht vorbereitet ist. Dass das eigene Kind vor dir steht, dir die Hände auf die Schultern legt und mit einer gewissen Portion Spott in der Stimme sagt: »Oh Mann, Mama.« Das fällt eindeutig in die Kategorie: Das sagt einem vorher auch keiner!
Natürlich wachsen Kinder nicht über Nacht, auch wenn es einem immer so vorkommt, wenn plötzlich morgens die gerade erst vor einer Woche gekauften Turnschuhe nicht mehr passen. Ich hätte es doch kommen sehen können, es war doch klar, dass er über kurz oder lang größer als 1,60 Meter werden wird. Überhaupt, seine Turnschuhe, das waren die Vorboten. Schon mit zehn hatte er meine Schuhgröße überholt (ich habe Größe 36, auch hier kann ich nicht mit Größenrekorden aufwarten). Ehe ich mich versah, standen wir im Schuhladen auf einmal vor dem Erwachsenenregal, und er probierte Sneaker in Größe 42 an. Wie er damit so zwischen den Regalen umherstapfte und sich im Spiegel anschaute, erinnerte er mich an einen tapsigen Welpen, einen kleinen süßen Hund mit riesigen Pfoten. Natürlich wusste mein Verstand, dass Welpen groß werden und dann nicht mehr niedlich sind und dass so was immer schneller geht, als einem lieb ist. Aber dass es dann doch so plötzlich geschehen würde, dass er mir auf den Kopf spucken kann, das habe ich erfolgreich verdrängt. Noch nicht lange her, da hat er seinen Kopf an meine Brust gelegt, wenn ich ihn umarmt habe. Noch nicht lange, das sind mittlerweile fast drei Jahre, fällt mir ein. Mir fällt auf, dass sein Gesicht kantiger geworden ist. Das Kinn markanter, die Augenbrauen kräftiger, das Weiche, Kindliche ist verschwunden. Vor mir steht kein Kind mehr, es ist ein Jugendlicher. Mit seinen 14 Jahren offiziell ein Teenager.
Dieser Teenager hat nun offensichtlich die Nase voll von meinem Gestarre. Bevor ich seufzend »du warst doch gestern noch mein Baby« sagen kann (er kennt das schon und hat verständlicherweise keinen Bock darauf, sich zum tausendsten Mal mein Geseufze anzuhören), dreht er sich um, geht in sein Zimmer und schmeißt die Tür hinter sich zu. Ich stehe noch eine Weile still im Flur und starre diese Tür an.
Wenn sich eine Tür schließt .
Die sich schließende Tür ist das Symbol für die Pubertät schlechthin. Oder ist sie eher ein Symptom? Die Kinderzimmertür wurde schon lange vorher geschlossen, bevor mein Sohn Schuhgröße 42 hatte. Sollten früher alle Türen immer aufbleiben, damit Mama nicht außer Ruf- und Sichtweite war, mussten diese Türen von einem Tag auf den anderen geschlossen werden. Nicht einfach geschlossen, sondern zugeworfen, sodass sie möglichst laut ins Schloss knallten. Eine Tür, bei der man nicht hört, wie sie geschlossen wird, ist nicht wirklich zu, so die goldene Teenie-Regel.
Als bei uns zum Ende der Grundschulzeit das erste Mal eine Tür zugeknallt wurde, traf es mich völlig unvorbereitet. So was machen doch Teenies, irgendwann mit 14 oder so, aber so einen niedlichen kleinen Drittklässler, der beim Gang durch die Stadt gerne noch nach meiner Hand griff, den konnte ich nicht mit knallenden Türen, »doofe Mama« und »Nie darf ich was«-Rufen in Einklang bringen. Du verbietest etwas Simples wie »noch eine Tüte Gummibärchen öffnen«, bist mal konsequent - doch statt wie gewohnt ein bisschen zu schmollen und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen, explodiert das Kind vor dir plötzlich, wirft dir Sachen an den Kopf, als hättest du ihm gerade ein Jahr Fernsehverbot verkündet, und stapft meckernd wie Rumpelstilzchen in sein Zimmer. Trotzphase reloaded, aber mit mehr Wucht und vor allem unvorhersehbarer. Außerdem, und das ist der blödeste Unterschied zur Trotzphase: Die Türen-Knallphase hält deutlich länger an. Und: Ein Zehnjähriger, Elfjähriger, Zwölfjähriger hat deutlich mehr Nachdruck als ein wütender Dreijähriger.
Wie oft stand ich in den letzten Wochen vor dieser verschlossenen Tür und legte die Hand auf die Klinke. Ließ sie wieder sinken und klopfte an. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich es gehasst habe, wenn meine Eltern ohne anzuklopfen in mein Zimmer stürmten, um mich nach so unwichtigen Dingen wie Hausaufgaben zu fragen oder mich aufzufordern, endlich beim Tischdecken zu helfen.
Da hat man jahrelang alles für sie gemacht, also fast alles. Rotz und Erbrochenes weggewischt. Windeln gewechselt, egal was es am Abend vorher zu essen gab. Sie stundenlang umhergetragen, weil sie anders nicht zu beruhigen waren. Wutanfälle vor der Supermarktkasse ertragen (oder auch nicht) und dann doch den Lolli gekauft. Wie viele Nächte ich mir um die Ohren geschlagen habe, um ein Kind mit Halsweh in den Schlaf zu wiegen, daran kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Wie oft habe ich Aufträge sausen lassen, weil die Kita wegen Personalmangels früher schließen musste. Statt mir in Pressekonferenzen Notizen zu machen, saß ich im Morgenkreis der musikalischen Früherziehung und sang »Große Uhren machen Ding-Dong« samt Choreografie. Wie oft habe ich meinen Laptop zugeklappt und bin in den Kindergarten geeilt, weil eins der Kinder Nasenbluten, Läuse oder Ohrenschmerzen hatte.
Und dann schließen sie eines Nachmittags die Tür vor deiner Nase und schauen gar nicht mehr auf, wenn du ins Zimmer platzt, um sie zu fragen, ob nicht doch irgendetwas ist. »Was soll schon sein, Mama«, sagt mein Sohn dann üblicherweise und tippt weiter auf seinem Handy herum. »Alles okay bei dir?«, ich bleibe im Türrahmen stehen. »Hä? Ja klar, wieso?« Er schaut mich irritiert an. »Ach, nur so, weil du so mit der Tür geknallt hast.« Er zuckt mit den Schultern, normal halt, was soll schon sein, scheint er damit sagen zu wollen.
Sie haben ja recht! Was soll denn auch sein? Sie sitzen halt im Zimmer rum, chatten mit ihren Freunden, zocken, lesen oder machen manchmal auch die Hausaufgaben. Was man halt so macht als junger Mensch. Sie machen es allein. Ohne mich. Und ihnen geht es prächtig dabei. Eigentlich doch super. Was soll also diese Wehmut?
Schritt für Schritt in die Selbstständigkeit
Wann hat das eigentlich angefangen? Im Grunde genommen besteht die gesamte Kindheit nur aus Loslassen. Das Auf-die-Welt-Kommen beginnt mit einem Abnabeln im wörtlichen Sinne. Dann sind sie klein und süß und manchmal nervig und anstrengend. Sie machen die ersten tapsigen Schritte, dann wollen sie nicht mehr gestillt werden, dann nicht mehr im Buggy sitzen, und dann flitzen sie auf dem Fahrrad vor einem davon. Ehe man bis drei zählt, kommt die Grundschulphase, in der sie einige Zeit überraschend unkompliziert sind, vieles schon selbstständig können, aber einen auch noch brauchen, zum Kuscheln kommen, sich ins Bett bringen lassen, beim Spazierengehen noch gern an unserer Hand bleiben. Verweile doch, möchte man diesen Momenten zurufen, und dann sind sie auch schon wieder vorbei.
Plötzlich kommt der Tag, an dem sie sich zwar zur Party bringen lassen - aber nur, weil zu der Uhrzeit kein Bus mehr fährt. Du sollst vor dem Haus kurz anhalten, sie rauslassen und dann unter allen Umständen schnell weiterfahren. Sie melden sich, wenn sie abgeholt werden wollen, sie kommen dann runter. »Wehe, du klingelst nachher, Mama, schreib 'ne Nachricht, wenn du unten stehst!« Dabei hätte ich doch zu gerne an der Tür geklingelt, um zu sehen, wer mir da eigentlich aufmacht.
Bei so einer Party ist es dann auch passiert. Die erste Übernachtungsparty. Irgendwann zwischen diesen Nachrichten, die um Mitternacht, zwei, fünf und sieben Uhr bei mir eintrafen, wurde mein Sohn endgültig groß.
»Mama, ich glaube, du musst mich abholen.«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Hab schon drei Flaschen Cola getrunken.«
»Einfach mal eine Nacht durchmachen.«
Ich widerstand dem mütterlichen Drang, mich mitten in der Nacht aufs Rad zu schwingen und mein Kind vom Zelten abzuholen, schickte aufmunternde GIFs, die ich ziemlich lustig fand - und er ziemlich peinlich, wie ich Tage später erfuhr. Da sagte er auch, dass die Nachrichten natürlich nur als Scherz gemeint waren. Nun ja. Ich hielt tapfer durch, schaffte es überraschend gut zu schlafen, und als ich ihn am Folgetag abholte, platzte ich vor Stolz und Neugier. Doch statt mir zu erzählen, wie es war (Wie viele Mädchen waren da?! Was habt ihr gemacht? Was habt ihr gegessen? Habt ihr die drei Flaschen Cola zusammen geleert oder jeder eine?!), rollte er sich nach dem Abholen in seinem Bett zusammen und schlief. Den ganzen Tag.
Jedes Mal, wenn ich in sein Zimmer schaute, hob er müde den Kopf und brummte etwas, das sich meist nach »will noch schlafen« oder »lass mich« anhörte. Nein, er wollte keinen Kuchen, nein, auch keinen Kakao, und nein, er hatte auch keine Probleme, und nein, er war ganz bestimmt nicht traurig, und nein, er hatte mir nichts zu erzählen, und ja, ja, ja, er wisse, dass er mir alles erzählen könnte, und ach, Mama, ich bin einfach nur müde, lass mich jetzt schlafen, ey, ich habe literally die ganze Nacht nicht geschlafen, Alter, ey.
Als er...
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