Schweitzer Fachinformationen
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1.
Waiting on the World to Change
Es ist zwei Uhr nachmittags. Eastern Time. Sechs Zeitzonen trennen uns nun von Deutschland. Und ich schwitze. Ich schwitze wie der Teufel.
Eben haben wir den Zoll passiert. Den Beamten bestätigt, dass wir kein Obst und kein Gemüse, keine Insekten, Schnecken, keine Zellkulturen oder andere lebende Tiere im Gepäck mitführen - und den ersten Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt.
Martina boxt mich erleichtert in die Seite.
»Juhu«, ruft sie freudestrahlend, »wir haben es geschafft! Ich glaub es nicht! Hey, Kinder, welcome to the United States!«
Wir haben es tatsächlich geschafft. Endlich sind wir da, wo wir schon so lange hinwollten. Wir sind in Amerika! Nun also brechen wir auf in unser neues Leben: vor unserer Nase zwei Gepäckwagen mit gefährlich schwankenden Koffertürmen und drei händchenhaltende Kinder im Schlepptau.
Scheppernd gleitet die gläserne Schiebetür der Ankunftshalle des Washingtoner Flughafens vor uns auf und - wumm. Wir laufen in eine Wand aus tropischer Luft.
»Wow, ganz schön heiß hier!« Martina schnappt nach Luft. Mit einer Hand versucht sie sich fächelnd Kühlung zu verschaffen. Gerade sind wir noch im Terminal auf Eisschrank-Temperaturen heruntergekühlt worden, und nun stehen wir unvermittelt in grellem Sonnenschein. Meine Frau sagt erst einmal nichts weiter, was durchaus ungewöhnlich ist. Schweigen ist ansonsten nicht ihre Art. Im Gegensatz zu mir fällt ihr in der Regel immer ein Kommentar zum Stand der Dinge ein. Jetzt aber kommt nichts mehr. Stille.
»Kinder«, werfe ich da mit bemüht heiterer Stimme ein, »ist es nicht herrlich hier? Die Sonne scheint. Es ist endlich warm. Was wollen wir mehr?«
Die drei schauen mich nur entgeistert an. Anna, ganz die Große, macht es wie ihre Mutter und sagt kein Wort. Katherina und Christopher entziehen sich ebenfalls jeglicher familiärer Kommunikation, hocken sich nur stöhnend in den spärlichen Schatten neben den überladenen Kofferkulis und blähen die Wangen. Ich blicke mich hilfesuchend um.
An so vieles habe ich im Vorhinein gedacht, nur an die Hitze nicht, die uns in unserer neuen Heimat unweigerlich um diese Jahreszeit erwarten würde. Aber hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Selbst ich.
Doch das will ich jetzt natürlich um keinen Preis zugeben. Vielleicht hätte ich einfach mal auf die Landkarte gucken sollen, bei all den Großplanungen für unseren Treck über den Atlantik. Ein kurzer Blick nur. Vor der Abreise. Mit dem Finger wäre ich von Washington aus einmal schnell quer über den großen Teich gewischt - und wäre dann erst wieder in der Straße von Gibraltar auf Land gestoßen, in der Nähe von Tanger, oder ein Stückchen weiter östlich, auf der Höhe von Algier. In Nordafrika. So ungefähr jedenfalls.
Dieses winzige Detail allerdings habe ich schlicht vergessen. Oder erfolgreich verdrängt, wie Martina es vielleicht etwas präziser formulieren würde. Die letzten Wochen und Monate waren in der Tat hektisch. Punkt für Punkt hakte ich meine Liste ab. Schleppte die Familie ins amerikanische Generalkonsulat nach Berlin, wo wir alle fünf vor dem Schalter der Visastelle brav anstanden. Schwor, dass wir keine Terroristen sind und auch nicht HIV-positiv. Letzteres muss man heute zum Glück nicht mehr, wenn man ein Visum für die USA bekommen will. Besorgte die Flugtickets, verkaufte unseren alten Volvo und bestellte die Umzugsfirma.
Aber den Atlas aufzuschlagen hielt ich nicht für nötig. Weiß doch jeder, wo Washington liegt. Oder?
Dabei hätte ein einziger Blick auf Christophers blauen Spielzeug-Globus gereicht! Amerikas Hauptstadt befindet sich nicht etwa auf der Höhe von London und Paris - oder gar auf dem Breitengrad von Hamburg, wo wir heute Morgen aufgebrochen sind. Washington liegt vielmehr ein gutes Stück südlicher.Mehr als zweitausend Kilometer, um genau zu sein. Bald anderthalbmal die Strecke Hamburg-Rom. Das ist in ungefähr so, wie vom nasskalten Elbsand unvermittelt in die glühenden Saharadünen zu treten.
Verloren wie in der heißen Wüste steht unsere Familie nun da, auf dem flirrenden Asphalt vor dem Flughafen, wo die Minibusse für die Mietwagenfirmen ihre Kunden einsammeln. Und, wie kann es anders sein, ständig kommen Busse der anderen Mietwagenfirmen. Nur von unserer nicht. Fünf endlose Minuten vergehen. Mir ist auch nicht mehr zum Reden zumute.
Als Martina und ich vor fast drei Monaten zum ersten Mal hier waren, um nach einer Bleibe für uns zu suchen, herrschte Frühling. Angenehme Temperaturen, um die zwanzig Grad, und eine leichte Brise ging. Die Kirschen blühten. Wer hätte da an die subtropische Lage von Washington denken sollen? Achtunddreißig Grad, dreiundfünfzig Minuten nördlicher Breite?
In Hamburg, Berlin oder München ist es jetzt längst Abend. Tagesschau-Zeit. Hier jedoch ist es noch mitten am Tag. Eigentlich müssten wir alle fünf todmüde sein und völlig geschafft. Aber selbst die Kinder haben den ersten Hitzeschock überwunden und sind aufgedreht. Das liegt entweder an der herrlichen Kühle in unserem Mietwagenbus, der dann doch irgendwann herangeruckelt kam. Oder vielleicht auch an den Unmengen Coke, die die drei während des achtstündigen Transatlantik-Flugs munter in sich hineingeschüttet haben. Irgendwann habe ich den Überblick darüber verloren. Was soll's. Take it easy. Schließlich ist heute kein ganz gewöhnlicher Tag.
Fünfzehn Stunden zuvor sind wir bei Nieselregen in Hamburg - es ist schließlich Juli - ins Großraumtaxi und dann in den Flieger nach Paris gestiegen. Sind mit fünf Handkoffern, vier Rucksäcken und zwei Computertaschen durch die langen Korridore von Charles-de-Gaulle gehetzt. Haben den Anschluss nach Washington gerade noch erwischt. Um Haaresbreite. Wir waren die letzten Passagiere, die an Bord gingen. Nicht alle Mitreisenden schauten uns nach der kleinen Verzögerung, an der wir zweifellos Schuld waren, so freundlich an. Auch Martina hasst es, wenn wir spät dran sind. Und das sind wir oft.
»Können wir nicht ein einziges Mal pünktlich sein? Immer diese Hetzerei«, fragt sie mich regelmäßig, wenn ich mit hängender Zunge zu einer gemeinsamen Verabredung komme oder wir fünf Minuten vor Konzertbeginn unsere hinterlegten Karten abholen - ganz entspannt, versteht sich. Doch diesmal konnte ich wirklich nichts dafür. Ehrenwort.
»Geschafft!«, verkündete ich nur und ließ mich in den Sitz fallen, nachdem wir alle Handkoffer und Rucksäcke in die Gepäckfächer gequetscht und unsere Kinder auf ihre Sitze verfrachtet hatten - Christopher natürlich auf den Fensterplatz, er ist schließlich der Jüngste, was Katherina, gerade mal zwei Jahre älter, nur widerwillig einsehen will. Eltern sind schon manchmal ungerecht. Das kann ja heiter werden, dachte ich mir.
Doch kaum waren wir in der Luft, stand auch schon Champagner vor uns. In durchsichtigen Plastikbechern, aber immerhin. Martina und ich sahen uns an.
»Santé«, sagte Martina.
»Cheers«, sagte ich erleichtert.
»Prost«, tönte es vom Fensterplatz.
Acht Stunden und etliche Filme und Softdrinks später kam unsere Maschine auf dem Dulles International Airport an, vierzig Kilometer westlich von Washington. Für Christopher mit seinen sechs Jahren hätte es genauso gut der Mars sein können, auf dem wir gelandet waren. Oder bei Familie Feuerstein. Vor Staunen bekam er jedenfalls den Mund nicht zu.
Wir bestiegen ein merkwürdiges, weiß-graues Ungetüm, das aussah wie ein monströses Amphibienfahrzeug. Washingtoner Flughafenbusse sind keine gewöhnlichen Busse. Nein, wie ein Aufzug fahren sie auf und nieder und bringen die Passagiere laut brummend und heftig ruckelnd zur Passkontrolle.
»Ist das Barnie?«, fragte Christopher unvermittelt und eindeutig zu laut, als er den Fahrer in der Steuerkabine erblickte. Wir hatten kurz zuvor eine DVD der Familie Feuerstein erstanden. Gott sei Dank kann er noch kein Englisch, und Deutsch verstand der Fahrer offenkundig nicht. Aber er sah schon ein bisschen wie Barnie Geröllheimer aus.
Amerikaner, das merken wir rasch, sind die freundlichsten Menschen auf der Welt. Na ja, bis auf die immigration officers bei der Passkontrolle. »Willkommen«, stand aufmunternd in vielleicht einem Dutzend Sprachen auf der Längsseite des Abfertigungsraumes in Washington. Unser Grenzer aber vermittelte einen etwas anderen Eindruck. Sein barscher Ton erinnerte eher an Guantánamo als an das Gelobte Land.
»Sie wollen hier arbeiten?«, bellte er. Und es klang, als hätte er mich auf frischer Tat beim illegalen Grenzübertritt erwischt. Hatte ich etwas falsch gemacht?
»Yes«, antwortete ich schnell, ohne noch viel zu überlegen, ob das die richtige Antwort war, und fügte wie aus der Pistole geschossen ein »Sir« hinzu. Das war gut. »Yessir«. Offenbar war...
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