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»Die Eroberung ist in unsere Welt zurückgekehrt« (Noah Smith)
»Wir erleben eine >Zeitenwende<. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr die gleiche wie die Welt davor. In ihrem Kern geht es um die Frage, ob Macht Recht brechen kann. [.] Die Zeitenwende betrifft nicht nur unser Land. Sie betrifft ganz Europa. Und auch darin liegt sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance«1. Bundeskanzler Scholz hat mit dieser Rede am 27. Februar 2022 nur wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht nur die bisher bedeutsamste Rede seiner Kanzlerschaft gehalten, sondern gleichzeitig auch einen Begriff popularisiert, der sich seither als außerordentlich wirkmächtig erwiesen hat: Bei Google findet der Begriff mehr als 4,4 Mio. Treffer (Stand 18. März), der ebenfalls im Kriegsumfeld geprägte Begriff des Epochenbruchs dagegen weniger als 20.000. »Zeitenwende« ist von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2022 gewählt worden2. Eine steilere Karriere eines einzelnen Begriffs dürfte es zuvor wohl kaum gegeben haben. Zudem war - so viel Krise war selten - auch noch »Krisenmodus« das Wort des Jahres 2023.
Die außerordentliche Konjunktur des ursprünglich einmal für den Beginn einer neuen Ära - auch der christlichen Zeitrechnung - geprägten Begriffs ist ein untrüglicher Beleg dafür, dass sich offenbar etwas Grundlegendes in unserer eingeübten Denkungsart verändert haben könnte. Solche »Epochenbrüche« und »tipping points« hat es aber auch schon früher gegeben, wie einige der nachhaltig wirkmächtigen und bahnbrechenden Werke in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zeigen. Diese reichen von großen Strukturwandeltheorien von Karl Marx »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie« (1867) über Joseph Schumpeters »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« (1912) und Max Webers »Wirtschaft und Gesellschaft« (1922) bis zur »Großen Transformation« von Karl Polanyi aus dem Jahr 1944. Im gleichen Jahr 1944 erschienen auch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (Karl Popper), »Der Weg zur Knechtschaft« (Friedrich August von Hayek) und »Die Dialektik der Aufklärung« (Theodor W. Adorno und Max Horkheimer). Offenbar war das Jahr 1944, das bereits im Zeichen der Niederlage des nationalsozialistischen Regimes stand, auch ein solches besonderes Zeitenwende-Jahr.
Nun ist sicherlich die Zeit seit 2022 nicht mit jener zwischen zwei weltumspannenden Weltkriegen von vor rund einhundert Jahren und mit der Agonie des Zweiten Weltkrieges zu vergleichen. Aber es darf doch als einigermaßen plausibel gelten, dass sich seit einigen Jahren größere Krisen und mächtige Megatrends so miteinander verwoben haben, dass sich eingeübte Routinen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns nicht mehr als ausreichend erweisen, um den multiplen Herausforderungen gerecht werden zu können. Es gibt nicht nur eine dichte Abfolge von größeren Krisen mit damit einhergehenden tiefgreifenden Veränderungen. Um nur die wichtigsten zu nennen: Finanzmarktkrise 2008/2009, Flüchtlingskrise 2015/2016, Covid-Pandemie 2020/2021, Ukrainekrieg und Energiekrise seit Februar 2022, Israel-Gaza-Krieg seit Oktober 2023. Hinzu kommen auch noch im linearen Trend zunehmende Verluste durch natürliche Katastrophen und eine hohe Inflation, die sich im Gefolge des Ukrainekrieges ohnehin zu einem Stressfaktor ganz eigener und über lange Zeit vernachlässigten Art entwickelt hat.
Alles zusammen trägt dazu bei, dass der Economic Policy Uncertainty Index für Deutschland ein im Trend deutlich höheres Verunsicherungsniveau mit höheren Ausschlägen als früher ausweist ( Dar. 1)3. Die Umrisse der Zeitenwende werden immer deutlicher, weil sie in einer Gleichzeitigkeit großer Megatrends wirkt, die man als 8D-Veränderung bezeichnen könnte: die Demografische Alterung der Gesellschaft, die Dekarbonisierung unserer Art, zu leben und zu wirtschaften, und die Digitalisierung unseres Lebens und Arbeitens. Zudem hat die Pandemie einen Prozess zu einer partiellen Deglobalisierung und Neusortierung der weltweiten Arbeitsteilung durch unterbrochene oder veränderte Lieferketten verstärkt. Sie setzt sich im Zuge einer sich auch durch den Ukrainekrieg verändernden geopolitischen Gemengelage auch in nachpandemischen Zeiten fort. Diese vier Trends alleine schon bergen die Gefahr einer Deindustrialisierung in Deutschland in sich, wenn angesichts der Gleichzeitigkeit dieser Trends die industrielle Basis des deutschen Geschäftsmodells weiter geschwächt werden sollte.
Hinzu kommen die Gefahren eines macht- und industriepolitisch unterlegten möglichen Decoupling etwa zwischen den USA und China4. Erfreulicherweise scheint sich aber beim G7-Gipfel in Hiroshima im Mai 2023 auf Drängen der Europäer doch wieder eine etwas weniger polarisierende Perspektive zur Kooperation des Westens mit China durchgesetzt zu haben5. Auch deshalb wäre der Befund einer »peak globalisation« wohl etwas voreilig. Vielmehr dürften die Vorzüge der Globalisierung zukünftig noch stärker im Handel mit zwischengeschalteten Dienstleistungen und Rohstoffen als im Handel mit Gütern allein liegen6. Aber dies kann ein durchaus ein zeitintensiver Prozess sein, der auch erst einmal zu einer geopolitisch überwölbten Verlangsamung der Globalisierung (»Slowbalisation«) führen dürfte. Auch Überlegungen zu einer Verlagerung von Aktivitäten in näher gelegene (»Nearshoring«) oder befreundete Länder (»Friendshoring«) deuten in der Summe doch darauf hin, dass das Tempo der Globalisierung zumindest eine Atempause einlegen oder sogar etwas nachlassen könnte.
Umso bedeutsamer ist die Revitalisierung von Bemühungen um multinationale Handelsabkommen, z. B. das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA), die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) und das Regional Comprehensive Economic Partnership Agreement (RCEP). Diese können im
Dar. 1:Economic Policy World Uncertainty Index für Deutschland (Quelle: Baker, Scott R., Bloom, Nick and Davis, Stephen J., Economic Policy Uncertainty Index for Germany [DEEPUINDXM], retrieved from FRED, Federal Reserve Bank of St. Louis; https://fred.stlouisfed.org/series/DEEPUINDXM , 5. Juni 2024)
Ergebnis eher das Gegenteil von Deglobalisierung und Decoupling bewirken. Wie mühselig das aber ist, zeigen die mehr als 20 Jahre währenden und noch nicht erfolgreichen Versuche, ein Mercosur-Abkommen zwischen Europa und den südamerikanischen Staaten abzuschließen. Gleichzeitig versuchen die G20-Staaten, untereinander eigene Abkommen abzuschließen. Umso mehr ist bei den multilateralen Beziehungen aber viel stärker als bisher auf eine wirtschaftliche Risikominderung (De-Risking) zu achten, um »ein klares Bild davon zu haben, was die Risiken sind«. Wirtschaftlich ist vor allem die EU dabei, ihre Beziehungen zu China »neu ausbalancieren«, ihre Abhängigkeit zu verringern, die EU-Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, neue wirtschaftliche Instrumente gegen China »mutiger und schneller« einzusetzen. Das schließt auch die Überprüfung ausländischer Subventionen und eine neue Politik gegenüber wirtschaftlichem Zwang ein. Nicht zuletzt geht es auch um die Sanktionen gegen Russland, deren wirtschaftliche Bedeutung für Russland aber durch den kompensierenden Handel der Schwellenländer fast vollständig neutralisiert wird7.
Dass dies dann schließlich auch noch einem Kontext einer Depazifizierung der internationalen Ordnung einzubetten ist, wird uns nach fast acht überwiegend friedlichen Jahrzehnten in Europa derzeit schmerzhaft bewusst. Immer deutlicher wird auch für die Bürger das Ende der Friedensdividende, die der Westen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einstreichen konnte. Wir erleben das Heraufziehen einer neuen bipolaren Statik einerseits (USA versus China), aber auch einer stärker multipolaren Weltordnung andererseits (G-20, Globaler Süden). Die Geopolitik entwickelt zunehmend auch eine Dominanz über die Geoökonomie. Die Hauptakteure sind die USA und China, aber statt einer Systemkonkurrenz gibt es eine zunehmende Systemrivalität. China wird zum strategischen Rivalen auch dadurch, wie es sich gegenüber dem technologisch schwächeren Russland politisch und ökonomisch positioniert. Die USA versuchen sich technologisch und militärisch dagegen zu wehren, auch indem sie im Indopazifik neue Allianzen schmieden. Dennoch wird ihr Status als einzig verbliebener Weltmacht durch China zunehmend auch militärisch herausgefordert8.
Darin liegt auch eine große Herausforderung und Bewährungsprobe für Europa: Es ist vielleicht die historisch letzte Chance, mit einem Transatlantiker wie Präsident Biden noch einmal Zeit zu bekommen, dass »der Westen« auch jenseits der USA militärisch stärker und ökonomisch resilienter (namentlich bei Energie und Rohstoffen) werden kann. Dies ist insbesondere eine Herausforderung für die Europäische Union: Statt der oft reklamierten »soft power« mit seinem vielfach behaupteten »Brussels effect«9 besinnt sich die europäische Staatengemeinschaft zunehmend auf die Bedeutung von »hard power«, allerdings noch immer unter dem auch auf lange Sicht unverzichtbaren Schutzschirm der NATO. Erste Papiere zu einem Europäischen Verteidigungsfonds, viel mehr aber noch der unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges erfolgte Beitritt von Finnland und Schweden zur NATO stellen einen »Hamilton-Moment« in der europäischen Geschichte dar, weil sich...
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