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Marun dachte in diesen Tagen oft an Staatsanwalt von Bucher. Der Mann gefiel ihm, denn er nahm seinen Beruf ernst und tat alles, um Recht und Gesetz zu wahren. Vor allem aber schien ihm wichtig zu sein, dass die Richtigen bestraft wurden. Irgendeinen armen Teufel ins Zuchthaus zu stecken oder gar aufs Schafott zu schicken, weil der zwar verdächtig war, ohne aber nachweislich der Schuldige zu sein, war nicht in seinem Sinn.
Allerdings war auch von Bucher von den herrschenden Umständen betroffen. Er sollte einen Hochverräter fangen, ohne dass ihm die nötigen Mittel dafür erlaubt waren. So hatten preußische Agenten zwar den Geheimnisverrat in Sankt Petersburg entdeckt, jedoch nicht den Täter nennen können. Insgesamt war die Zahl der Verdächtigen auf fünf beschränkt, allesamt adelig und enge Mitarbeiter Otto von Bismarcks. Einer von ihnen, nämlich Gottfried von Runkwitz, war sogar ein persönlicher Freund und Jagdgenosse des Kronprinzen Friedrich.
Weiterhin zählte Runkwitz' Schwager Friedrich von Ziegenhain zu dieser Gruppe sowie die Herren Henning von der Malten, Volkert von Besebach und Alberich von Lobenstett. Alle lebten in besten Verhältnissen und besaßen außer ihren Stadthäusern und Palais in Berlin große Güter in unterschiedlichen preußischen Provinzen. In den Akten fand Marun auch keine heimliche Liebschaft oder andere Gründe, die einen von ihnen erpressbar gemacht hätten.
Eine Gemeinsamkeit der fünf Herren war, dass jeder ein bis zwei Jahre in der preußischen Botschaft in Sankt Petersburg gedient hatte. Allerdings waren sie einander dort nicht begegnet, weil sie sich zu unterschiedlichen Zeiten dort aufgehalten hatten. Das war ein Punkt, an dem Marun einhaken wollte, und so bat er von Bucher, ihm weitere Informationen zukommen zu lassen.
An diesem Tag räumte er alle erhaltenen Akten in ein Fach seines Schreibtischs, verschloss dieses und steckte den Schlüssel ein. Als er in den Gang trat, verhörte Polizeileutnant Saathoff gerade einen halbwüchsigen Lümmel, der bei einem Marktstand eine Wurst hatte mitgehen lassen und dem Schutzpolizisten direkt in die Arme gelaufen war.
Marun hätte dem Burschen eine kräftige Standpauke gehalten und dazu verdonnert, dem Markthändler einen Monat lang nach der Schule zu helfen. Doch Saathoff machte ein Staatsverbrechen daraus, das dem Jungen ein paar Wochen in der Verwahranstalt einbringen würde. Dass er dort unter den hartgesottenen Kerlen ehrlicher werden würde, bezweifelte Marun. Er war jedoch nur der Leiter der Polizeiwache und nicht der Richter. Solange Saathoff den Vorschriften gemäß handelte, konnte er nichts dagegen tun.
»Reuter, Sie haben das Kommando, bis ich wiederkomme!«, sagte Marun zu seinem Stellvertreter.
Dieser salutierte. »Sehr wohl, Herr Polizeimajor!«
Da Marun sonst nie sagte, weshalb er ging, konnte Reuter es auch diesmal nicht erwarten.
Doch Marun erklärte: »Ich bin ins Notariat bestellt worden. Ein entfernter Verwandter hat das Zeitliche gesegnet und meinen Namen im Testament erwähnt. Wahrscheinlich werde ich mit irgendeiner unmöglichen Scheußlichkeit bedacht. Meine Zimmerwirtin meinte bereits, mit einem Schrumpfkopf käme ich ihr nicht über die Schwelle!«
»Sagten Sie Schrumpfkopf?«, fragte Reuter entgeistert.
Marun nickte. »Mein Verwandter war Forscher und hat allerlei Eigentümlichkeiten von seinen Reisen mitgebracht. Ich war als Halbwüchsiger mehrmals in seinem Haus. Es war das reinste Museum!«
»Dann hoffe ich, dass Sie keinen Schrumpfkopf erben«, antwortete Reuter.
Marun überlegte, ob sein Stellvertreter nicht doch eine Spur Humor aufwies, begriff dann aber, dass er es vollkommen ernst gemeint hatte.
»Das hoffe ich auch, Reuter!«, antwortete er und verließ die Polizeiwache, als wäre er jemand, der sich gerade über ein paar lärmende Lümmel in seiner Nachbarschaft beschwert hatte.
Als Marun das Notariat betrat, stieg ihm sogleich ein intensiver Geruch nach Bohnerwachs in die Nase. Für ihn bedeutete es, besonders achtgeben zu müssen, denn glatte Böden konnten ihm zum Verhängnis werden. Durch sein lahmes Bein war er zu unsicher und konnte leicht ausrutschen und hinfallen.
Ein magerer Angestellter, der in seinem schwarzen Anzug und der unbewegten Miene wie ein Leichenbestatter aussah, empfing ihn. »Guten Tag! Was kann ich für Sie tun?«
Mich noch nicht begraben, fuhr es Marun durch den Sinn. Er konnte sich aber beherrschen und sprach es nicht aus. Stattdessen reichte er dem Mann den Brief, mit dem der Notar ihn aufgefordert hatte, am heutigen Tag hier zu erscheinen.
»Ah, Sie kommen bezüglich der Erbsache Firminus von Marun! Bitte begeben Sie sich zu den anderen Herrschaften, die aus dem gleichen Grund erschienen sind«, sagte der Mann und wies auf eine Tür.
Als Marun darauf zutrat, vernahm er Stimmen und blieb unwillkürlich stehen, um zu lauschen.
». war ein Sonderling! Hat alles Geld für seine albernen Reisen ausgegeben. Glaube nicht, dass es viel zu erben gibt«, sagte eben ein Mann mit schnarrender Stimme.
Vetter Adalbert ist aus Königsberg gekommen, um dabei zu sein. Das hätte er gewiss nicht getan, wenn er bei Großonkel Firminus nicht ein Vermögen erwarten würde, dachte Marun, der den Verwandten an der Stimme erkannt hatte.
»Der alte Firminus kann doch nicht alles für seine Expeditionen vergeudet haben!«, widersprach ein zweiter Vetter. Es klang nach Waldemar, der wohl ebenfalls aus Ostpreußen angereist war, wo er ein stolzes Rittergut sein Eigen nannte.
Marun öffnete die Tür und trat ein. »Einen guten Tag allerseits!«, grüßte er und überflog die versammelte Gesellschaft mit einem Blick.
Neben seinen beiden Vettern waren noch zwei Kusinen erschienen sowie ein altes Paar, das er als Bedienstete einstufte. Es dauerte einen Augenblick, bis Marun sich an sie erinnerte. Es handelte sich um die »Hausgeister«, wie Großonkel Firminus seinen Diener und seine Haushälterin genannt hatte. Marun hatte die beiden zwanzig Jahre lang nicht gesehen.
»Vetter Dirk! Hat der alte Firminus auch Sie herbestellt?«, fragte Adalbert von Marun, ein mittelgroßer, stämmiger Mann mit rundlichem Gesicht und einer Stirnglatze, die er mit nach vorne gebürsteten Haaren zu verbergen suchte.
»Der Großonkel war es wohl kaum! Es war der Notar«, antwortete Marun.
»Das hätte er gewiss nicht getan, wenn Großonkel Firminus es nicht so gewollt hätte«, warf seine Kusine Eleonore von Kolbitz ein.
»Falls keine weiteren Verwandten mehr kommen, wird wohl einer von uns fünfen den Besitz des Großonkels erben!« Auguste von Weerthen, Maruns zweite Kusine, sagte es in einem Tonfall, als hielte sie alle außer sich selbst für entbehrlich.
Dem weiteren Gespräch entnahm Marun, dass sowohl Adalbert und Waldemar wie auch Auguste hofften, von ihrem Großonkel reich bedacht worden zu sein. Zur Untermauerung ihrer Ansprüche erklärte Kusine Auguste, dass sie dem alten Firminus zu jedem Weihnachts- und Osterfest einen selbstgebackenen Kuchen geschickt habe.
Dem wollten ihre Vettern und Kusinen nicht nachstehen und prahlten mit ihren angeblichen Geschenken. Marun hatte es bei schlichten Grußkarten belassen. Backen kann ich nicht, dachte er mit einem gewissen Spott, und für nichtssagende Geschenke hat mir das Geld gefehlt.
Außerdem hatte er niemals erwartet - und tat dies auch jetzt nicht -, dass der jüngere Bruder seines Großvaters ihm mehr vererben würde als einen in den südamerikanischen Urwäldern erworbenen Gegenstand. Ein Schrumpfkopf sollte es allerdings nicht sein, denn damit würde Frau Karbe ihn niemals über die Schwelle lassen. Auch seine Polizeiwache war wohl kaum der richtige Platz dafür.
Da Marun sich nicht am Gespräch beteiligte, verloren seine beiden Vettern und seine Kusine Auguste das Interesse an ihm und versuchten, sich mit Gründen zu übertrumpfen, weshalb der Verstorbene ausgerechnet ihnen seinen Besitz habe vererben müssen. Wie er selbst und Eleonore blieb auch das Dienerpaar stumm. Die beiden schienen auch die Einzigen zu sein, die um den Toten trauerten.
Nach einer Weile kam der einem Leichenbestatter ähnelnde Amtsdiener herein und meldete, dass der Herr Notar nun bereit sei, sie zu empfangen.
»Wird auch Zeit!«, sagte Adalbert nach einem Blick auf seine Taschenuhr.
Wegen seines lahmen Beines ließ Marun seinen Verwandten den Vortritt und folgte ihnen gemeinsam mit dem Dienerpaar. Der alte Mann schüttelte mehrmals den Kopf, während seine Frau seufzte.
»Das hat unser lieber Herr von Marun wahrlich nicht verdient!«
Marun blieb kurz stehen. »Ich weiß nicht! Mein Großonkel hatte eine besondere Art von Humor. Es mag sein, dass er oben im Himmel sitzt und sich köstlich über dieses Schauspiel amüsiert.«
»Da mögen Sie wohl recht haben, Herr . von Marun!« Für einen Augenblick hatte die betagte Dienerin gezögert, sich dann aber gesagt, dass Marun so hieß wie ihr verstorbener Herr und damit das Recht hatte, mit diesem Namen angesprochen zu werden.
Sie gelangten in einen Raum, in dem ein großer Tisch und genügend Stühle für alle standen. Seine Vettern und Kusinen hatten bereits Sitzplätze in der Nähe des Notars gewählt. Dieser begrüßte jeden von ihnen kurz und setzte sich schließlich auf seinen eigenen, bequemer aussehenden Stuhl.
Marun konnte ihm das bessere Sitzmöbel nicht verdenken. Immerhin musste der gute Mann hier stundenlang Vertragstexte und Testamente herunterleiern. Auch Marun nahm Platz und fand sich neben dem Dienerpaar wieder. Die beiden hatten gewiss Sorge, nach dem Tod ihres Herrn keine Stellung mehr zu finden und ins Armenhaus eingewiesen zu werden. Dort allerdings...
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