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AM BODENSEE
Wo wir anders miteinander hätten sprechen sollen; Lola noch wusste, was ich brauchte; und wir erfuhren, dass wir unsere Beschäftigung verloren hatten
Im August 1944 machten Lola, die Kinder und ich einen Ausflug zum Bodensee. Es war ein kurzes Entkommen aus dem Krieg, die schlimmsten Monate standen uns noch bevor. Ich denke oft daran, was wir damals hätten sagen können, sollen, und ob ein einziges gutes Gespräch unsere Rettung gewesen wäre.
Ich hätte sagen sollen: Wir müssen nach Leipzig gehen. Auch wenn du dagegen bist. Ich weiß, dein Vater hat dich verstoßen. Aber, Lola, das ist lange her. Es herrscht Krieg, das ändert alles. Du wirst ihm vergeben, und er wird uns und die Kinder aufnehmen. Vor Bomben sind wir zwar nirgends sicher, aber im Fürstenhof gibt es zumindest ausreichend Essensvorräte, saubere Betten und schützende Türen und Wände.
Und darauf hätte Lola antworten können: Ich muss gestehen, dass ich in letzter Zeit oft darüber nachdenke. Obwohl ich so gut wie nie über meine Kindheit spreche und mich immer erbittert dagegen gewehrt habe, nach Leipzig zu gehen.
Und dann hätte ich gesagt: Ja, ich weiß.
Woraufhin sie weitergesprochen hätte: Aber du musst wissen: Mein Vater hat mich nicht einfach nur abgeschoben, nachdem meine Mutter an einer namenlosen Krankheit gestorben war. Er hat auch furchtbare Lügen über mich verbreitet. Ich soll sie umgebracht haben. Ich. Ihre neunjährige Tochter!
Da hätte ich zu Lola gesagt: Das ist schrecklich. Das tut mir sehr, sehr leid. Ich wünschte, ich könnte dir diesen Schmerz nehmen.
Und Lola hätte erwidert: Ach, mein Alfons. Du hast recht. Lass uns nach Leipzig gehen und im Fürstenhof Zuflucht suchen. Dort ist es vielleicht nicht absolut sicher, aber sicherer. Ich werde mich meinem Vater stellen. Wir werden miteinander reden. Vielleicht wird er sich bei mir entschuldigen. Und vielleicht werde ich ihm verzeihen. Mein Alfons, du weißt wirklich immer, was am besten für mich ist.
So hätten wir damals miteinander sprechen sollen. Und alles, alles wäre anders gekommen.
Aber es war die Zeit der unausgesprochenen Dinge.
Stattdessen, ja, stattdessen fragte ich Lola während des Ausflugs zum Bodensee: Hast du über den Fürstenhof nachgedacht?
Und sie sagte: Wir gehen keinesfalls dorthin. Sie stand am Ufer und betrachtete skeptisch das Wasser, auf dem ihr Schatten schwamm. Als könnte es ihr verraten, wie unsere Zukunft aussah. Ob wir überleben würden. An ihrem Kinn konnte ich eine geringfügige Bewegung ausmachen, als würde sie etwas mit den Zähnen zermahlen. Ihre Kopfhaltung war wie immer erhaben, das kurze, blonde Haar saß perfekt. Und wenn du mich liebst, fügte sie hinzu, dann reden wir nie mehr darüber.
Was hätte ich darauf erwidern können?
Stumm trat ich neben sie, und sofort nahm sie meine Hand. Sie wusste, ich brauchte das.
Lola war schon immer stärker als ich gewesen. Im Herbst 1926, als ich erfuhr, dass der Neuzugang unseres Karlsruher Ensembles eine Absolventin der Reinhardt-Schule in Berlin und die Tochter des Besitzers vom Leipziger Fürstenhof war, rechnete ich mit einem talentierten, jedoch verhätschelten Gör. Als wir uns bei Proben zu >Aimée< kennenlernten, stellte ich fest, dass ich mich nicht nur in beiderlei Hinsicht geirrt, sondern zudem nicht erwartet hatte, was für eine Schönheit sie war. Dass Lola sich dessen kaum bewusst zu sein schien, machte sie noch schöner. Sie bestach weniger durch Talent, vielmehr beeindruckte sie durch Perfektion. Vom ersten Probentag an konnte sie ihren Text auswendig, nie habe ich sie bei einem Versprecher erlebt. Die Souffleusen mochten sie nicht, weil Lola sie überflüssig wirken ließ. Der Gesichtsausdruck des Regisseurs reichte Lola aus, damit sie verstand, was er sich von ihr wünschte. Lola zählte zu der Kategorie von Schauspielern, die sich durch harte Arbeit einen Platz auf der Bühne erkämpften. Und jede noch so kleine Handlung führte sie mit größter Bestimmtheit aus. Sie wusste genau, was sie wollte - und was ich wollte.
Sie trug, so viel kann ich verraten, wesentlich dazu bei, dass wir bald miteinander im Bett landeten. Dort wurde mein anderer Verdacht widerlegt. Lola war kein Gör. Schon in der zweiten Nacht, die wir gemeinsam verbrachten, erwähnte sie, fast beiläufig, dass ihr Vater sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter in ein strenges Erziehungsheim verbannt hatte. Und ich bekam es mit der Angst zu tun. Ja, ich fürchtete mich vor dieser jungen Frau, die bereits so viel durchgemacht hatte und trotzdem auf der Bühne an meiner Seite glänzte. Bald darauf entpuppte sie sich als herausragende Medea. Später habe ich ihr unter anderem aus dieser Angst, dieser Ehrfurcht heraus einen Antrag gemacht. Ich war mir vollkommen sicher: Nie wieder würde ich eine solch wunderschöne Frau solch wunderbaren Formats finden. Aber Lola nahm nicht sofort an. Sie stellte eine Bedingung: dass sie ihren Nachnamen behalten und ihn zudem unseren Kindern vererben dürfte; es liege ihr viel daran zu beweisen, dass der Name Salz auch von guten Menschen getragen werden könne. Ich sagte zu Lola, ihr Idealismus sei eine der Eigenschaften, für die ich sie besonders liebte, und ich erklärte mich einverstanden. Woraufhin sie mich küsste.
Diesen Kuss spüre ich noch heute auf meinen Lippen. Inzwischen sind zwanzig Jahre vergangen. Die Lola von damals gibt es nicht mehr. Ich bin auf der Suche nach ihr. Zwar schläft Lola, während ich dies schreibe, neben mir. Aber diese Frau, die es kaum wagt, das Haus zu verlassen, geschweige denn, eine Bühne zu betreten, diese Frau hat nur wenig mit jener Lola gemeinsam. Sie fürchtet sich vor Menschen. Und ich fürchte mich vor dem, was aus ihr geworden ist. Lola, meine starke, mutige Lola, finde ich nur in ihren Erzählungen über das furchteinflößende vergangene Jahr, die sie mir nachts zuflüstert. Ohne ihr Wissen schreibe ich alles auf. Das hilft mir, die Lola zu sehen, in die ich mich verliebt habe - und die ich wiederfinden möchte.
Im August 1944, als Lola noch Lola war, hatte sich der Krieg auf der ganzen Welt ausgebreitet. Den Bodensee schien das nicht zu kümmern. Kurz nach unserem nicht geführten Gespräch an seinem Ufer mussten wir uns von ihm verabschieden - was uns schwerfiel. Die Region lag in ihrem schönsten Glanze. Verschwenderischer Apfelsegen. Die Blumen in den Gärten glühten im Feuer der Spätsommerfarben. Und wir waren alle vereint. Kurt, der Redselige, und Aveline, die Stille, schliefen, ohne die Schnur mit dem Kärtchen am Hals, das die Anschrift der nächsten Verwandten enthielt, für den Fall, dass Lola oder ich von den Bomben getötet wurden. Der Gedanke war zu fern, auch wenn Kurt mit seinen vier Jahren längst verinnerlicht hatte, dass er jederzeit bereit sein musste, in Schutzräume zu flüchten. Voralarm. So selbstverständlich war ihm das Sirenengeheul, dass Kurt einmal bei der Fronleichnamsprozession, die ihm wegen Hitze und mangelnder Frömmigkeit sehr lästig war, weinerlich gefragt hatte: Wann bläst denn endlich die Sirene ab? Die zwei Jahre jüngere Aveline dagegen äußerte ihren Unmut über den heulenden Alarm, wenn er sie wieder einmal aus dem Schlaf riss, indem sie, das eigentlich so ruhige Mädchen, ebenfalls losheulte.
Aber ernst nahm die Warnungen am Bodensee niemand. Was sollten die Flieger auch für Ziele suchen? Die nahe Schweiz vermittelte eine gewisse Sicherheit.
Bei der Abreise trafen wir am Bahnhof Kollegen und freuten uns, die Zugfahrt zurück nach Karlsruhe gemeinsam zu machen. Doch die Gesichter unserer Freunde waren besorgt. Wir hatten versäumt, Radio zu hören. Hitler hatte den »Totalen Krieg« erklärt, Goebbels die sofortige Schließung aller Theater und die Absage aller kulturellen Veranstaltungen befohlen. Wir hatten also, zusammen mit beinahe allen künstlerisch tätigen Menschen, unsere Arbeit verloren. Ausgenommen waren einzig zehn berühmte Sänger. Sie wurden vom Dienst freigestellt, da sie beim nahenden Endsieg für die geplante >Meistersinger<-Aufführung bereitstehen sollten.
Ob dieser Neuigkeiten fluchte Lola mitten im Bahnhof auf den Führer, und ich ermahnte sie, dass wir uns in der Öffentlichkeit befanden. Sie sprach selten über ihre politischen Ansichten, wer tat das schon in dieser Zeit, aber es war deutlich, wie wenig sie von Hitlers Fähigkeiten als oberster Regisseur Deutschlands hielt. Seine Selbstinszenierung fand sie banal, arrogant und einfallslos. Wenn wir Schauspieler nach jeder Vorstellung beim Verbeugen den Hitlergruß machen mussten, hielt Lola mit dem linken den rechten Arm gestützt und rechtfertigte das mit einer (nicht vorhandenen) Sehnenscheidenentzündung.
Beklommen stiegen wir in den Zug. Die Sonne stand schon tief. Während die Kinder aus dem Fenster sahen und staunten, dass in der Ferne Konstanz, wie der Schweizer Teil, hell erleuchtet war, versuchten wir zu erwägen, was man wohl mit uns tun würde, nun, da wir ohne Beschäftigung waren.
KARLSRUHE
Wo wir hofften, nicht den Verstand zu verlieren; wir zum letzten Mal einen Angriff erlebten und Lola mir ein Versprechen gab
Unsere Vorgesetzten waren ebenso ratlos wie wir. Nur dass wir nicht länger spielen durften, an unserem Karlsruher Theater, das wussten wir. Zahlreich genug für große Aufführungen wären wir ohnehin nicht mehr gewesen....
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