Schweitzer Fachinformationen
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I
LONDON, 21. April 1945, 08:33 Uhr
Die Hauptstadt an der Themse swingte. Von King's Cross bis Southwark, von Kensington Gardens bis Whitechapel erhob sich ein melodisches Summen, das seinen Weg in jedes Herz, in jede Seele fand. Von Menschentrauben umringt, musizierten Orchester, Big Bands und Militärkapellen, was die Taktstöcke der Dirigenten hergaben. Männer und Frauen fanden sich spontan zum Tanz, und selbst der eiligste Passant vergaß die Zeit über Glenn Miller, Duke Ellington oder dem »King of Swing«, Benny Goodman. Bürgermeister und Militärverwaltung hatten alles aufgeboten, jeden Musiker und jeden Soldaten ausgeschickt, der ein Instrument tragen konnte, um die Tristesse des sechsten Kriegswinters zu vertreiben.
Carvis hatte London während des Krieges mehrmals besucht. Ungebrochen hatte die Stadt dem »Blitz« getrotzt, doch Rationierung und Verdunklung, Sirenengeheul und Luftangriffe forderten ihren Tribut. Die Gesichter der Londoner waren so grau wie die Staubschichten, die sich nach jedem Raketeneinschlag neu auf Bäume und Häuser legten.
In diesem Frühjahr allerdings hatte sich London verwandelt. Die Menschen auf den Gehsteigen gingen aufrecht, mit erhobenem Kopf und durchgedrücktem Kreuz. Kinder tobten durch die Ruinen, junge Paare drängten ins Freie, Soldaten und Offiziere platzten vor Selbstbewusstsein. Uniformknöpfe funkelten in der Sonne, und messerscharfe Bügelfalten hätten jeder Paradeinspektion standgehalten. Die ganze Stadt atmete auf, als hätte sie die letzten Jahre keine Luft gekriegt. Der Krieg war noch nicht gewonnen, doch der letzte Luftangriff lag Wochen zurück, und London wollte nicht länger auf den Neuanfang warten.
Captain Frederic Carvis schloss die Augen und spürte den Fahrtwind über sein Gesicht gleiten. Er fühlte sich wie die Stadt. Befreit. Euphorisch. Seit Private Maronnelli ihn in Stratford im Lazarett abgeholt hatte, durchströmte ihn eine grenzenlose Erleichterung. Der Krieg war für ihn vorbei, er hatte es überstanden. Wenn auch nur knapp. Mit dem Zeigefinger tastete er über sein khakifarbenes Hemd und spürte den wulstigen Knubbel, der sich unter dem Stoff auf seiner Brust abhob. Andenken an einen diesigen Herbsttag im norditalienischen Viareggio.
»Allies crushed German troops!«
Irritiert öffnete Carvis die Augen.
Maronnelli, im Privatleben Taxifahrer aus Queens, zeigte auf einen Zeitungsjungen, der auf dem Bürgersteig die London Times in die Höhe reckte.
»Leipzig fell to 1st U.S. Army.«
Wie ein Siegesfanal verkündete er die fett gedruckte Überschrift wieder und wieder, während ihm Passanten die Zeitungen aus den Händen rissen. Der Stapel unter seinem Arm schmolz wie der letzte Schnee im Frühling.
»Halten Sie mal an!« Carvis winkte dem Jungen zu.
Maronnelli brachte den Jeep mit der Kaltschnäuzigkeit seines Berufsstandes in einem schwungvollen Bogen an der Bordsteinkante zum Stehen und ignorierte das wütende Hupen eines Doppeldeckerbusses, der nur mit einem abrupten Schwenk einen Zusammenstoß verhindern konnte.
Der Zeitungsjunge, der Carvis sein letztes Exemplar entgegenstreckte, war keinesfalls älter als acht. Dafür aber so beängstigend dünn, dass er seinen viel zu weiten Mantel mit einem schmalen Lederriemen um die Hüfte festgeknotet hatte. Eine Mischung aus Dreck und Sommersprossen bedeckte sein Gesicht, wobei der Unterschied nicht so genau zu erkennen war.
»Behalt den Rest«, sagte Carvis und warf dem Knirps einen Shilling zu. Das gelbliche Zeitungspapier war so grob, dass er einzelne Papierfasern erkennen konnte. Als Maronnelli den Gang einlegte und ruckartig anfuhr, bemerkte Carvis aus dem Augenwinkel plötzlich Anna in ihrem roten Kleid auf der anderen Straßenseite. Die schulterlangen Haare wippten im Takt ihrer Schritte, und der Frühlingswind spielte mit einzelnen Strähnen, die sie unbewusst mit der linken Hand wieder einfing und hinters Ohr schob. Carvis drehte den Kopf und sah sie zwischen den Passanten verschwinden.
»Stopp!« Er sprang aus dem bremsenden Jeep und schlängelte sich durch den Verkehr. Sie ist es nicht, schoss es ihm durch den Kopf, als er auf dem Bürgersteig in beide Richtungen schaute. Sie kann es gar nicht sein. Sie war es weder die beiden Male in Vermont, noch in New York oder Neapel und auch nicht in dem italienischen Dorf im letzten Sommer. Vierzig Meter entfernt entdeckte er das rote Kleid zwischen grauen Anzügen und braunen Uniformjacken, der blonde Hinterkopf zeigte sich kurz zwischen Kappen, Offiziersmützen und Frühlingshüten. Carvis nahm die Verfolgung auf. Wach auf, ermahnte er sich. Hör auf zu träumen. Aber das war ihr Gang, ihre Art sich zu bewegen. Nur sie ging mit diesem federnden Schritt, angetrieben von einem Hauch von Eile. Warum sollte sie nicht in England sein, widersprach er seiner eigenen Skepsis. Vielleicht hatte sie Deutschland verlassen, bevor es zu spät war. Wie viele andere auch.
»Stell dir die Ironie vor«, sagte er laut zu sich selbst. »Dieses Mal ist sie es, und ich beachte sie nicht, weil ich glaube, dass sie es nicht sein kann.«
Carvis stürzte zwischen den Fußgängern hindurch, schob eine protestierende ältere Dame beiseite und blieb mit dem linken Arm an einem Matrosen hängen. Schmerz explodierte in seiner Schulter, raubte ihm den Atem, ließ ihn noch einige Schritte taumeln, bevor er keuchend stehen blieb. Andenken Nummer zwei, fluchte er innerlich und rieb sich den linken Oberarm. Ein glatter Durchschuss als Resultat seines ersten und einzigen Einsatzes in erwähnenswerter Nähe zur Front in knapp drei Jahren Krieg. Carvis atmete tief ein und lief weiter.
Als sie an einer Kreuzung auf eine Lücke im Verkehr wartete, holte er sie ein. Mit den Fingerspitzen berührte er ihren Arm.
»Anna.«
Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen von oben bis unten. Carvis spürte, wie ihr Blick über sein von wochenlanger Bettruhe ausgebleichtes Gesicht wanderte. Über die braunen Haare, die vom Rennen an der Stirn klebten, und die schwarzen Ringe unter den dunklen Augen, die eine Geschichte von Schlaflosigkeit und Schmerz erzählten. Sie war wunderschön, und die Enttäuschung traf ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube.
»Sir?«
Er murmelte eine lautlose Entschuldigung und ging mit gesenktem Kopf zum Wagen.
Der Jeep schwamm zügig durch den Innenstadtverkehr südlich des Regent's Park. Carvis starrte schweigend auf die verkrusteten Dreckspritzer auf der Frontscheibe und ärgerte sich. Selbst nach acht Jahren verging kein Tag, an dem er nicht an Anna dachte. An dem ihn nicht die Erinnerung heimsuchte, die Ungewissheit quälte oder er sich fragte, was zum Teufel damals überhaupt passiert war. Carvis schüttelte den Kopf, und Maronnelli sah ihn mit hochgezogener Augenbraue von der Seite an. Der Fahrer hatte nicht weiter gefragt, als Carvis etwas von einer Verwechslung stotternd wieder in den Jeep gestiegen war. Aber sein Großvater hatte recht: Dieser Wahn musste endgültig ein Ende haben. Auf einmal freute sich Carvis auf die Zukunft. Der Krieg würde beendet sein, bis er wieder in Italien war. Dann bekam er endlich sein Leben zurück, und er würde es sich weiß Gott nehmen. Er würde endlich einen Schlussstrich ziehen und Anna beerdigen. Egal, ob sie noch am Leben war oder nicht.
»Paddington Station, Sir.« Maronnelli präsentierte die Stahl- und Glasfassade des Bahnhofs mit einer bühnenreifen Armbewegung. Er bremste und platzierte den Jeep direkt vor der Sandsackbarrikade am Haupteingang.
Paddington Central Station hatte die ersten Angriffe 1940 unbeschadet überstanden. Doch im April 1941 explodierte eine Luftmine in der benachbarten Eastbourne Terrace und beschädigte den Südflügel des Bahnhofs. Zwei Monate später riss eine 500-Kilo-Bombe ein scheunentorgroßes Loch in das Dach, fiel auf die Gleise - und explodierte nicht. Immer noch türmten sich Sandsäcke vor den Fenstern, und eine mit Maschinengewehren gespickte Barrikade sicherte den Haupteingang, als würden die Landungsboote der Wehrmacht in diesem Moment den Ärmelkanal überqueren.
Ein älterer Sergeant der Home Guard salutierte stramm vor Carvis und schnauzte Maronnelli in bestem Kasernenhofton an.
»Sie können hier nicht parken, Private. Verschwinden Sie mit dem Jeep!«
Ungerührt lud Maronnelli Carvis' Segeltuchtaschen aus.
»Brauchen Sie Hilfe mit dem Gepäck, Sir? Ich könnte Ihre Taschen zum Zug tragen.«
»Nein danke«, antwortete Carvis, während der Sergeant durch weit geöffnete Nasenflügel schnaufend Luft holte. »Ich nehme die Taschen selbst.«
Maronnelli salutierte lässig, sprang in den Jeep und verschwand im dichten Verkehr.
»Sir, könnte ich Ihren Marschbefehl sehen?«, fragte der Sergeant, nachdem seine Gesichtsfarbe wieder zu einem fahlen Beige zurückgekehrt war.
»Natürlich.« Carvis zog das gefaltete Dokument aus seiner Brusttasche und reichte es dem Sergeant.
»Mit dem Zug nach Bristol und von dort mit dem Truppentransporter Aberdeen nach Livorno«, erklärte er, während der Sergeant den Marschbefehl überflog. »Dann weiter zur 5. US-Armee in Norditalien. In Ordnung?«
»Ja, natürlich, Sir.«
»Gut. Kann ich dann zum Zug?«
»Selbstverständlich, Sir. Gute Reise, Sir. Vielleicht haben wir Glück, und die verfluchten Krauts kapitulieren endlich. Lange kann es nicht mehr dauern.«
Der...
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