Kapitel 1
September 1474
Kastilien, 15. September im Jahre des Herrn 1474
Die aufgehende Sonne hatte ein wunderschönes Farbenspiel über Toledo gezaubert. Noch einmal drehte sich Lea um und betrachtete die schwarzen Silhouetten der Kathedrale und des Alcazars. Majestätisch ragten sie aus dem Häusermeer heraus und zeichneten sich vor dem rot-orangen Hintergrund ab. Der Anblick der auf dem hohen Felsen ruhenden, vom Tajo umflossenen Stadt faszinierte die junge Frau jedes Mal aufs Neue.
Zwei Tage hatte die Gruppe der sevillanischen Händler und Kaufleute dort geweilt. Nun waren sie wieder auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Ziel - Medina del Campo, wo in wenigen Tagen der größte Jahrmarkt Kastiliens beginnen würde, der im Mai und Oktober stattfand und im Jahre 1404 von König Fernando I. von Aragon ins Leben gerufen worden war. Seit vier Jahren, seit ihrem zwölften Geburtstag, begleitete das Mädchen ihren Vater, den jüdischen Tuchhändler Ezra Bensinior, in jedem Herbst zur feria nach Medina, wo er Geschäfte mit Angehörigen seines Gewerbes tätigte.
Lea war guter Dinge. Auch wenn die Reise anstrengend war, wollte sie unter keinen Umständen darauf verzichten. Sie freute sich auf die Stadt, die während des Jahrmarktes voller Leben war. Nicht nur Händler aus allen Teilen Europas boten ihre Waren feil, sondern es waren auch eine Menge Gaukler und Artisten dort, die an jeder Ecke eine andere Attraktion darboten. Lea liebte es, durch die Gassen zu schlendern und die verschiedenen Güter der Kaufleute zu bestaunen: exotische Gewürze und Früchte aus dem Orient, feine Tuchwaren aus Italien oder Flandern, die Erzeugnisse der Gold- und Silberschmiede und vieles mehr. Außerdem konnte sie es kaum erwarten, ihre eigenen Stickarbeiten auszustellen. Im letzten Jahr hatte sie einige neue Aufträge erhalten. Lea war schon als Kind von ihrer Mutter Esther in die Kunst der Stickerei eingewiesen worden, und im Laufe der Jahre hatte sie sich eine Vollkommenheit angeeignet, die ihresgleichen suchte. Sie beherrschte nicht nur jede erdenkliche Stichart, sondern auch die Technik der Schwarzstickerei, die erst seit Kurzem Verbreitung fand. Neben der Verzierung von Kleidungsstücken fertigte sie auch wunderschöne Wandbilder an, deren Farbwahl so naturgetreu und deren Stiche so genau gesetzt waren, dass man meinte, ein Gemälde zu betrachten. Der Ruf ihrer Fähigkeiten war schon über die Grenzen der judería von Sevilla hinausgelangt und hatte ihr des Öfteren Aufträge von christlichen Adeligen eingebracht, die bei der Stickerin einen Wandbehang in Auftrag gaben oder ihr Kleider, Wamse und Umhänge überließen, damit sie diese mit feinen Mustern verzierte.
Der Zug der jüdischen und christlichen Kaufleute, die sich an diesem sonnigen, aber kühlen Morgen auf den Weg gemacht hatten, bestand aus zehn hintereinander rollenden, von Pferden oder Maultieren gezogenen Wagen. Sie kamen zunächst nur langsam vorwärts, da es an den Tagen zuvor geregnet hatte und sich der ehemals festgetretene Weg in eine Schlammhalde verwandelt hatte. Immer wieder blieben die Fuhrwerke im Morast stecken und mussten von den Männern und Lasttieren mit vereinten Kräften herausgezogen werden.
Es war windig und obwohl Lea sich in einen warmen Umhang gehüllt hatte, zitterte sie. Ihr dunkles, üppiges Haar, ein Erbe ihrer vor drei Jahren verstorbenen Mutter, war unter einem Tuch verborgen. Eine Lockensträhne hatte sich jedoch gelöst und umwehte die weichen Konturen ihres Gesichts, in dem als Erstes die funkelnden grünen Augen auffielen. Eine runde Nase, ein Mund mit herzförmigen Lippen und eine schlanke Figur mit festen Brüsten vervollkommneten das Bild einer hübschen, jungen Frau.
Ezra war ebenfalls zum Schutz gegen die Kälte gewappnet. Er trug einen dicken Mantel über seinem Kaftan, ein Turban bedeckte seinen Kopf. Wenn er auf Reisen ging, bevorzugte der Tuchhändler die bequeme maurische Kleidung. Stolz betrachtete Lea ihren Vater, der die Zügel der Maultiere fest in den Händen hielt. Er hatte soeben das einundvierzigste Lebensjahr überschritten. Obwohl sich ein Bauchansatz unter seinem Gewand abzeichnete und sein schwarzes Haar von Silberfäden durchzogen wurde, war er immer noch eine stattliche Erscheinung. Der Spitzbart, der unterhalb seiner Nase ansetzte, stand ihm gut. Schon oft hatte Lea beobachtet, wie die eine oder andere Frau ihm begehrliche Blicke zugeworfen hatte. Doch der Witwer war noch nicht bereit, sich ein neues Eheweib zu nehmen. Zu sehr schmerzte ihn Esthers Verlust. So lenkte er seine ganze Aufmerksamkeit auf sein Geschäft und die Erziehung seiner drei Kinder, denen er bis jetzt ein zwar strenger, aber gerechter Vater gewesen war. Er hatte sogar seine beiden Töchter im Lesen und Schreiben sowohl der kastilischen als auch der hebräischen Sprache unterrichtet und seinem Sohn den Besuch der Chederschule ermöglicht, in der man die Thora und den Talmud studierte.
Es fing zu dämmern an, als der Weg in einen Pinienwald hineinführte. Die Äste, dicht miteinander verwoben, ließen nur wenig Tageslicht in den Wald eindringen. Wie von unsichtbarer Hand geführt, verringerten die Wagen den Abstand zueinander.
"Das gefällt mir nicht." Ezra schüttelte besorgt den Kopf.
Kaum hatte er die Worte zu Ende gesprochen, als eine Horde zerlumpter Gestalten aus dem Dickicht hervorstürzte und die Reisenden umstellte. Lea schrie vor Schreck auf, Ezra griff nach dem Dolch, den er unter seinem Kaftan verborgen hatte.
"Sofort alle von den Wagen herunter!", brüllte einer der Straßenräuber und schwang ein Schwert durch die Luft. Er schien der Anführer der Bande zu sein. "Stellt euch hier an die Seite!"
Ezra versteckte den Dolch wieder unter seinen Kleidern und sprang zu Boden. Dann half er Lea abzusteigen und schob sie hinter sich.
"Bleib ruhig und rühr dich nicht!", raunte er ihr zu. "Hätte ich dich diesmal nur zu Hause gelassen!"
"Ihr werdet jetzt euer Geld und den Schmuck, den ihr bei euch tragt, in diesen Sack werfen!", forderte das Oberhaupt der Räuber die Kaufleute auf.
Während einer der Wegelagerer die Wertsachen einsammelte, durchsuchten andere die Wagen und Packtiere.
"Nein, das bekommt ihr nicht! Das ist alles, was ich besitze!", erklang eine aufgeregte Stimme, die Ezra sofort dem Gewürzhändler Carlos García zuordnete.
"Das werden wir sehen! Lass sofort los!"
Ein Schrei ertönte. Carlos García fiel von seinem Wagen herunter und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Ein dunkelroter Fleck breitete sich auf seinem hellen Wams aus. Entsetzt hatten die Kaufleute den Vorgang verfolgt, aber niemand getraute sich, einzugreifen.
"Vater!", schluchzte Lea, "Ist er tot?"
"Pst!" Der Angesprochene drehte sich zu seiner Tochter um. "Schweig still!"
Er wollte auf keinen Fall, dass die Banditen auf sie aufmerksam wurden. Doch das war bereits geschehen.
"Was haben wir denn hier für ein süßes Täubchen?"
Einer der Schurken hatte die hinter Ezra stehende Lea gesehen.
Er zog das Mädchen mit einem Ruck hinter dessen Rücken hervor und riss ihr das Tuch vom Kopf. "Schaut mal, wen ich entdeckt habe!", brüllte er seinen Kameraden zu.
"Die nehmen wir mit, da werden wir alle unseren Spaß haben", grölte der Anführer.
"Lass mich los, du Scheusal!" Die Arme versuchte, sich aus dem Griff des Banditen zu befreien, sodass dieser alle Mühe hatte, sie festzuhalten.
Ezra zückte seinen Dolch und stürzte sich mit einem Aufschrei auf den Peiniger seiner Tochter. Die anderen Kaufleute, durch das mutige Vorgehen des Tuchhändlers aus ihrer Erstarrung erwacht, taten es ihm gleich und machten sich ebenfalls daran, die Plünderer anzugreifen. Ein wilder Kampf entbrannte, von Schreien und Flüchen begleitet.
Lea wich hinter die Fuhrwerke zurück und flehte Gott um Hilfe an. Ängstlich beobachtete sie, wie Ezra mit einem der Männer rang, dem es gelungen war, ihm den Dolch aus der Hand zu schlagen. Nun hielt der Schurke von hinten seinen Arm um den Hals des Tuchhändlers und schnürte ihm die Luft ab. Entsetzt sah Lea, wie sich ihr Vater hin und her wand. Sein Gesicht war feuerrot und es kam ihr so vor, als ob seine Augen aus den Höhlen hervortraten. Sie musste ihm helfen, sonst würde er ersticken. Rasch blickte sie sich um und hob einen dicken Ast auf. Mit voller Kraft schlug sie ihn gegen den Kopf des Angreifers. Ein erstaunter Ausdruck erschien auf dessen Gesicht. Er lockerte seinen Griff und fiel nach hinten um. Lea begann zu zittern. Hatte sie ihn getötet?
Ihr Vater kniete auf dem Boden und hielt sich röchelnd den Hals. "Danke, mein Kind. Du hast mich gerettet." Er wollte soeben nach seinem Dolch greifen, als sich ein weiterer Mann auf ihn stürzte. "Geh in Deckung, Lea", schrie er seiner Tochter zu.
Schnell verkroch sich diese wieder hinter dem Wagen. Plötzlich vernahm sie Hufgetrappel und sah durch die Bäume einen Lichtschein, der rasch an Helligkeit gewann. Es war eine Reitergruppe, die sich in zügigem Galopp näherte. Kurz vor den Fuhrwerken hielten die Männer an und stiegen ab. Lea erkannte zwei kostbar gekleidete Edelleute mit ihrer bewaffneten Eskorte.
"Was geht hier vor?", rief der Ältere.
Lea stürzte aus ihrem Versteck hervor.
"Wir wurden überfallen, Herr. Bitte, helft uns! Mein Vater, er . Ich habe solche ."
"Nur keine Angst, Mädchen!", unterbrach er ihr Gestammel und zog sein Schwert. "Vorwärts, Männer!"
Mit lautem Geschrei stürzten sich die...