1 Tumorentstehung und -klassifikation
1.1 Überblick
M. Witzens-Harig
Lerntipp
Zur allgemeinen Onkologie gibt es zwar nicht so viele Prüfungsfragen, trotzdem ist dieses Thema essenziell, um zu verstehen, wie Tumorerkrankungen entstehen und wie man sie am besten behandelt. Für die speziellen Tumorerkrankungen wird in die Lernmodule der jeweiligen Fachabteilung verwiesen.
1.1.1 Epidemiologie
Die Erfassung in sog. "Krebsregistern" ermöglicht die systematische Ermittlung von Inzidenz und Mortalität der unterschiedlichen Neoplasien. Zudem hat sie zur Identifizierung epidemiologisch relevanter Risikofaktoren beigetragen.
In Deutschland erkranken etwa 650/100 000 Männer und 560/100 000 Frauen pro Jahr neu an Krebs (Inzidenz, Stand: 2019). Nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind Krebserkrankungen die zweithäufigste Todesursache (25%). Das Auftreten ist stark altersabhängig.
Tab. Die häufigsten malignen Tumorerkrankungen Epidemiologie
Tumorarten
bei Männern
-
Prostatakarzinom
-
Bronchialkarzinom
-
kolorektales Karzinom
bei Frauen
-
Mammakarzinom
-
kolorektales Karzinom
-
Bronchialkarzinom
Die o.g. Tumoren unterscheiden sich geschlechtsabhängig, was ihr Auftreten und das Letalitätsrisiko betrifft.
1.2 Grundlagen der Tumorentstehung
Definition:
Tumor bezeichnet eine umschriebene, abnorme Gewebemasse, die durch eine autonome Proliferation körpereigener, entarteter Zellen entsteht . Grundsätzlich unterscheidet man gutartige (benigne) und bösartige (maligne) Tumoren (Krebs).
Tumor
Synonyme: Geschwulst, Neoplasie
Definition:
Kanzerogenese (oder Karzinogenese) bezeichnet den Prozess der Tumorentstehung.
1.2.1 Molekulare Grundlagen
Tumoren entstehen, wenn Zellen die Kontrolle über ihr Wachstum verlieren. Praktisch allen Tumorerkrankungen liegt eine Funktionsstörung von Genen zugrunde, die an der Steuerung von Zellwachstum, Proliferation, Differenzierung und/oder Apoptose beteiligt sind. Die Genfunktion kann dabei entweder durch Mutationen der DNA oder Modifikation der Genexpression verändert sein.
Protoonkogene sind Gene, die in der gesunden Zelle für Zellwachstum, -teilung und -differenzierung ( proliferationsfördernd) verantwortlich sind. Sie codieren z.B. für Wachstumsfaktoren oder ihre Rezeptoren, für Proteine der intrazellulären Signalübertragung (Tyrosinkinasen und G-Proteine), Transkriptionsfaktoren und Regulatorproteine des Zellzyklus (Zykline).
Wie alle anderen Gene können Protoonkogene mutieren. Sie werden dann zu Onkogenen. Die Mutationen führen i.d.R. zu einer deregulierten, gesteigerten Genfunktion ("gain of function"), die die Zelle dazu veranlasst, von einem normalen Wachstum auf ein malignes, ungebremstes Wachstum umzuschalten. Onkogene verhalten sich dominant, d.h., es genügt die Mutation eines Allels, um eine deregulierte Genexpression auszulösen.
Klassisches Beispiel für eine Tumorinduktion durch Onkogenaktivierung ist die Entstehung der Translokation t(9;22) (Philadelphia-Chromosom) bei chronischer myeloischer Leukämie (CML).
Tab. Wichtige
Onkogene Gen
Wirkung
assoziierte Tumoren
ABL1
codiert für Tyrosinkinase
chronisch-myeloische Leukämie
HER2/neu
codiert für Wachstumsfaktor-Rezeptor
Mammakarzinom u.a.
RET
codiert für Transkriptionsfaktor
MEN II (medulläres Schilddrüsenkarzinom, Phäochromozytom)
c-MYC
codiert für Transkriptionsfaktor
v.a. Burkitt-Lymphom
KRAS
codiert für G-Protein
v.a. Kolon- und Pankreaskarzinom, bronchiales Adenokarzinom
Tumorsuppressorgene: (auch rezessive Onkogene, Antionkogene) sind für die Wachstumskontrolle zuständig. Wird das Erbmaterial einer gesunden Zelle geschädigt, verhindern ihre Genprodukte die Zellteilung, damit eine Reparatur durch DNA-Reparaturenzyme eingeleitet werden kann. Kann die DNA nicht repariert werden, aktivieren sie Apoptosegene, die den programmierten Zelltod induzieren.
Mutationen in diesen Genen führen i.d.R. zu einem Funktionsverlust ("loss of function") mit dereguliertem Wachstum. Tumorsuppressorgene verhalten sich rezessiv. Für das Aufrechterhalten der Wachstumskontrolle reicht ein "gesundes" Allel aus. Für einen Kontrollverlust sind nach der "two-hit-Hypothese" 2 voneinander unabhängige Ereignisse notwendig: Hat die 1. Mutation auf der Keimzellebene stattgefunden (Keimbahnmutation), tragen alle Körperzellen bereits ein defektes Allel. Kommt es in einer der Körperzellen dann zu einer 2. Mutation oder zu einem Verlust des intakten Allels, kann sie zu einer Tumorzelle transformieren. Diese Tumoren entstehen bis zu 20-30 Jahre früher als sporadische Tumoren!
Beispiele für die Tumorinduktion durch Verlust von Tumorsuppressorgenen sind das familiäre Retinoblastom durch Mutation beider RB-Gene und das kolorektale Karzinom.
Tab. Wichtige
Tumorsuppressorgene Gen
Wirkung
assoziierte Tumoren
BRCA-1/BRCA-2
DNA-Reparatur
familiäres Mamma- und Ovarialkarzinom
TP53- Suppressorgen
sog. "Wächter des Genoms": Hemmung der Zellteilung bei DNA-Schädigung, Induktion der DNA-Reparatur, Apoptoseinduktion
Mutiert in 50% aller Tumoren!
familiäres Pankreaskarzinom, familiäres Melanom, Li-Fraumeni-Syndrom, sporadisches Mammakarzinom
RB
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