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Die Zugfahrt von Wasserburg nach Überlingen dauert 55 Minuten. Umsteigen muss man in Friedrichshafen. Die drei Wohnorte Martin Walsers liegen in einer Linie am nördlichen Ufer des Bodensees. In Wasserburg wurde er 1927 geboren. In Friedrichshafen wohnte er ab 1957 Parterre in einer alten Villa der Schwiegereltern. In Nußdorf bei Überlingen kaufte er 1968, als andere auf die Barrikaden gingen, ein Haus am See. Er ging immer seinen eigenen Weg. Am liebsten allein.
In der Verlängerung dieser Linie liegt auch Lindau, fünf Kilometer von Wasserburg entfernt Richtung Österreich. Dort ging Martin von 1938 bis 1943 in die »Deutsche Oberschule«. Lindau liegt schon in Bayern. Auch Wasserburg ist bayerisch, aber nur politisch und in Folge einer Annexion. Sprachlich ist es alemannisch. Lindau aber ist wirklich bayerisch, das heißt: Im Grunde ist es natürlich auch alemannisch, aber die bayerischen Beamten prägten die Sprache der Stadt. Jedenfalls war das in Walsers Kindheit noch so. Je bürgerlicher der Lindauer, desto bairischer sprach er. Die Kinder aus dem bäuerlichen Umland brachten ihren alemannischen Akzent in die Lindauer Schulen mit und erfuhren Sprache als sozial differenzierend. Martin Walser, 1938 schon vaterlos, war eines dieser Kinder.
Heute merkt man von der Dialektgrenze nichts mehr. Prosperität und Mobilität haben sie verwischt. Überhaupt ist das, was sich an Land abspielt, nicht so wichtig. Denn von Lindau bis Überlingen dominiert der See. Gläsern hingegossen ruht der Bodensee zu Füßen des Bregenzerwalds. Die Sonne ist sein Schild. Er macht ihn unschlagbar. Der See ist vielleicht eher männlich als weiblich. In der Morgenfrühe plätschert er zärtlich und lieblich verspielt; gegen Mittag enthüllt er glänzend seine Majestät und will beeindrucken durch sein Alter und seine Unbeweglichkeit; an gewittrigen Sommerabenden spielt er groß auf, oft den Walkürenritt, an besonderen Tagen ein dies irae. Auch wenn man ihm den Rücken kehrt, ist er da: als Bild, als Stimmung, als Erinnerung. Der See. Lateinisch lacus, männlich natürlich. Lacus raetiae brigantinus hieß er bei Plinius dem Älteren, Bregenzer See, weil Plinius den See vom Süden her sah und weil er ihn naturhistorisch begriff als Ausschabung der gigantischen Gletscher, die in der letzten Kaltzeit aus den Alpen quollen.
Der See prägt das Lebensgefühl seiner Anrainer, ihren Rhythmus, ihre Kultur und Mentalität. Er regiert die Gegend bis hinauf zur Donau. So weit reichte auch die römische Provinz Raetia. Weinhänge und Apfelgärten umgeben den See. Das fruchtbare, einst tief religiöse Land zwischen Donau und Vorarlberg ist die Handmagd des Sees. Das englische Adjektiv ancillary fällt mir ein, erst dann das lateinische Original ancilla. Das Land ist ancillary; der See ist die Hauptsache. Martin Walser hat die Region um den Bodensee mythisiert, sie literarisch ins Ewige gehoben.
Im Sommer 2009 fuhr ich zum ersten Mal mit dem Zug von Wasserburg nach Nußdorf, um Martin Walser zu besuchen. Seit sechs Jahren schon kam ich jeden Sommer in seinen Geburtsort. Meine Mutter war in den vierziger Jahren in Konstanz aufgewachsen. Nach langer Berufszeit, Pensionierung und Verwitwung in der Ferne wollte sie an den See zurück. Der Glücksfund einer Wohnung in Wasserburg machte es möglich. Jetzt wohnte sie im Paradies. Ein Kindheitstraum erfüllte sich. Das »Paradies« ihrer Kindheit war ein westlich der Altstadt gelegener Teil von Konstanz. Der Name geht auf ein Klarissenkloster zurück, Paradysi apud Constantiam. Es war 1186 in den Feldern vor der Stadt entstanden.
Später bauten betuchte Bürger Häuser im Paradies. Auch die kleine Margaretha hätte gern im Paradies gewohnt, weil es da so vornehm war. Doch ihre Eltern lebten vor der Stadt am Rande des Wolmatinger Rieds, damals eine Ungegend, heute ein gepflegtes Naturschutzgebiet. Kindheitsbesuche bei den Großeltern in den sechziger Jahren während endloser Sommer waren mein Paradies. In meiner Erinnerung hängen der fischfrische Geruch des hurtigen Seerheins, das biegsame Ried, das violette Rot der Erikafelder, die luftige Pappelallee auf die Reichenau, der lange, heiße Weg in die Stadt, das kühle Münster, die seufzenden Busse auf der Marktstätte. Noch bis 2004 fuhr Bus Nr. 10 die Strecke Friedhof-Paradies. In Konstanz ist das Jenseits immer ganz nah.
Wasserburg liegt am andern Ende des Sees, so weit weg von Konstanz, dass die Stadt keinerlei Sog ausübt. Das war auch in Walsers Kindheit so. Die Wasserburger richteten ihren Blick seit jeher auf das nahe Lindau, eine durch Korn- und Salzhandel wohlhabend gewordene freie Reichsstadt, Knotenpunkt für den Handel mit Italien. Der Lindauer Bote verkehrte ab 1324 wöchentlich zwischen Lindau und Mailand, transportierte Waren, Post und Reisende und brachte 1788 auch Goethe von Italien zurück. Ein sattes Jahrhundert später, im Jahr 1899, wurde das erste Teilstück der Bodenseegürtelbahn von Lindau nach Friedrichshafen eingeweiht. In Mitten entstand ein stattlicher Bahnhof. Der erste Hotelier am Ort setzte durch, dass der Bahnhof »Mitten« in »Wasserburg« umbenannt würde. Kein Mensch wolle in Mitten aussteigen. In Wasserburg aber schon. Wirkungsbewusstsein gehört zum Wasserburger Programm. Einen Monat nach der Einweihung erhielt der Bahnhof »Mitten« den Namen »Wasserburg«. Im Jahr vor Walsers Geburt wurde die Gemeinde selbst in »Wasserburg« umbenannt. Wer in Wasserburg ankommt, betritt schon am Bahnsteig Walser-Territorium.
Dem Bahnhof unmittelbar gegenüber liegt das Haus, in dem Martin Walser geboren wurde und aufwuchs. Sein Großvater baute es 1901 viergiebelig als Hotel und Wirtschaft mit überdachter Veranda. Züge waren damals noch ein Nervenkitzel: Bürgerliche Küche, Kaffee und Kuchen, ein Glas Seewein in Blickweite der dampfenden Boten aus der Ferne versprachen den Gästen Unterhaltung und dem Wirt ein gutes Geschäft. Das Pfeifen der Züge brachte den Optimismus des Fortschritts, die Nervosität der Moderne und einen Hauch der weiten Welt nach Wasserburg. In der Gaststube hing eine Uhr, die fünf Minuten vor Eintreffen der Züge schlug, damit die Gäste die Hauptattraktion nicht verpassten und Reisende rechtzeitig aufbrachen. Man war fürsorglich genau in Wasserburg. Die besten Zimmer lagen nach Norden mit Blick auf den Bahnhof. Doch kaum standen Bahnhof und Gasthaus, war die Zeit der Eisenbahnromantik schon fast vorbei. In russischen Romanen ergehen sich pelzbekleidete Damen auf dem Perron oder nehmen ihren Tee im Bahnhof, bis die Glocke des livrierten smotritel sie zum Aufbruch mahnt. Dann entführen die Züge sie wieder in die Unendlichkeit. Sehnsucht sollten die Gaststätten in den Bahnhöfen von Leo Tolstoi und Anton Tschechow heißen. Bei Joseph Roth und Stefan Zweig finden wir noch ihre Schatten. Um 1910 aber war schon fast die Zeit des Reisenden Gregor Samsa da.
Der Großökonom und Autodidakt in Sachen Architektur und Gastronomie Josef Walser war kein Romantiker. Er dachte publikumsgerecht und nannte seine Gaststätte Restauration. Das klang einladend nach Erholung durch gute Verpflegung. Die unmittelbare Bahnhofsnähe war ein Luxus für professionell Reisende und um 1900 für Feriengäste gerade noch exotisch genug. Als Martin Walser mir Jahre später einige seiner Stammhotels in den Städten nannte, die wir auf unserer Lesereise berühren würden, waren die ihm liebsten ersichtlich mit Blick auf frühes Wegkommen am nächsten Morgen ausgesucht: Hotels, die Bahnhöfen gegenüber lagen. In Bahnhofsnähe schlafen, war Walser von Kindheit an vertraut. Wegkommen war ihm wichtig. Zurückkommen aber auch.
Als gewiefter Ökonom begriff sein Großvater die Bedeutung des Bahnhofs für das agrarische Hinterland und gründete eine Kohlen- und Obsthandlung: Kohle kommt an, wird entladen und an Haushalte verteilt. Obst aus der Umgebung kommt an, wird in die leeren Waggons geladen und an ferne Märkte geliefert. Den Walserschen Obsthandel, für den Josefs Sohn Martin als junger Mann Äpfel im Umland einkaufte, gab es um 1922 noch, als Martin in Kümmertsweiler um Augusta warb. Doch in der Kindheit des Enkels Martin spielte er keine Rolle mehr. Im Herbst 1932 wurde er gegen den Willen des Großvaters aufgegeben. »Für den Obsthandel mit seinen kurzen Zahlungszielen fehlt uns zur Zeit das Kapital«, sagte der Vater zum Großvater. »Bauern stellen keine Wechsel aus, Vater, das wißt Ihr.«1 So wurde der Kohlenhandel zur wichtigsten Einnahmequelle der Familie. Denn der Großvater hatte sich auch in der Planung der Restauration vertan. Er hatte nicht vorausgesehen, dass die Wertschätzung des Sees wachsen würde. Kein Bauer wollte am unbeständigen See wohnen. Land am See war unproduktiv und darum wenig wert. Um 1900 bauten die Auswärtigen dort ihre Villen. Die Bauern verkauften, was sie selbst nicht schätzten. Den Villenbewohnern aus München, Berlin oder Bremen folgten die Urlauber. Auch sie wollten am See sitzen. Noch schafften sie es nicht,...
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