Schweitzer Fachinformationen
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1939
An einem strahlenden Julinachmittag arbeite ich in der Küche an einem Quilt, auf dem Tisch neben mir kleine Stoffquadrate, Nadelkissen und Schere, als ich das Brummen eines Autos höre. Ich schaue aus dem Fenster in Richtung der Bucht und sehe einen Kombi etwa hundert Meter entfernt auf das Feld einbiegen. Der Motor wird abgestellt, die Beifahrertür geht auf, und Betsy James steigt aus, sie ruft und lacht. Ich habe sie seit letzten Sommer nicht gesehen. Sie trägt kurze Baumwollhosen, eine ärmellose weiße Bluse und ein rotes Halstuch. Ich sehe zu, wie sie auf das Haus zukommt, und ich bin verblüfft, wie sehr sie sich verändert hat. Ihr hübsches Gesicht ist schmaler geworden, das dichte, kastanienbraune Haar reicht ihr bis zu den Schultern, ihre Augen sind dunkel und glänzend. Ein Hauch von rotem Lippenstift. Ich denke daran, wie sie als Neunjährige zum ersten Mal zu Besuch kam, wie sie hinter mir auf der Eingangstreppe saß und mir mit ihren kleinen, flinken Fingern die Haare flocht. Und jetzt ist sie hier, siebzehn Jahre alt und plötzlich erwachsen.
»Hallo, Christina«, sagt sie atemlos, als sie an der Fliegengittertür angekommen ist.
»Komm rein«, antworte ich von meinem Stuhl aus. »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich sitzen bleibe?«
»Natürlich nicht.« Sie tritt ein, und im Raum duftet es nach Rosen. (Seit wann trägt Betsy Parfum?) Schon ist sie bei meinem Stuhl angelangt und umarmt mich. »Wir sind vor ein paar Tagen angekommen. Ich bin so froh, wieder hier zu sein.«
»Das sieht man dir an.«
Sie lächelt, die Wangen leicht gerötet. »Wie geht es dir und Al?«
»Ach, du weißt schon. Wie immer.«
»Wie immer heißt gut, oder?«
Ich lächele. Natürlich. Wie immer heißt gut.
»Was machst du da?«
»Nichts Besonderes. Eine Babydecke. Lora ist wieder schwanger.«
»Was für eine großzügige Tante.« Sie greift nach einem der Stoffquadrate, ein Stück Kaliko, rosafarbene Blüten und grüne Blätter auf braunem Grund. »Den Stoff kenne ich.«
»Ich habe ein altes Kleid aufgetrennt.«
»Ich erinnere mich daran. Kleine, weiße Knöpfe und ein weiter Rock, stimmt's?«
Ich denke an meine Mutter und daran, wie sie mit dem Butterick-Schnittmuster, den schillernden Knöpfen und dem Kaliko-Stoff nach Hause kam. Ich denke an Walton, der mich in diesem Kleid zum ersten Mal gesehen hat. Ich bin überwältigt. »Das ist lange her.«
»Nun, es ist schön, wenn ein altes Kleid ein neues Leben bekommt.« Sie legt das Stoffstück vorsichtig zurück auf den Tisch und sieht sich die anderen an: weißer Musselin, dunkelblaue Baumwolle, ein zart bedruckter Chambray. »All diese kleinen Einzelteile. Das wird ein Familienerbstück.«
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Das ist doch nur ein Haufen alter Fetzen.«
»Was der eine wegwirft .« Sie lacht und blickt aus dem Fenster. »Ich habe ganz vergessen, dass ich eigentlich gekommen bin, um ein Glas Wasser zu holen, wenn du nichts dagegen hast.«
»Setz dich, ich bring dir eins.«
»Oh, es ist nicht für mich.« Sie zeigt auf den Kombi draußen auf dem Feld. »Mein Freund möchte euer Haus malen, aber er braucht Wasser dazu.«
Ich werfe einen Blick auf den Wagen. Ein junger Mann sitzt auf dem Autodach und schaut in den Himmel hinauf. Er hat einen großen, weißen Malblock in der einen Hand und etwas, das wie ein Bleistift aussieht, in der anderen.
»Das ist N. C. Wyeths Sohn«, flüstert Betsy, als ob sie außer mir irgendjemand hören könnte.
»Wer?«
»Du kennst doch N. C. Wyeth. Den berühmten Illustrator? Die Schatzinsel?«
Ah, Die Schatzinsel. »Dieses Buch hat Al geliebt. Wir müssten es noch irgendwo haben.«
»Ich glaube, jeder Junge in Amerika hat es noch irgendwo. Jedenfalls, sein Sohn ist auch ein Künstler. Ich habe ihn gerade heute kennen gelernt.«
»Du hast ihn heute kennen gelernt und fährst im Auto mit ihm durch die Gegend?«
»Ja, er ist . Ich weiß nicht. Er wirkt vertrauenswürdig.«
»Und deine Eltern haben nichts dagegen?«
»Sie wissen nichts davon.« Sie lächelt verlegen. »Er stand heute Morgen bei uns vor der Tür und hat nach meinem Vater gefragt, aber meine Eltern waren unterwegs zum Segeln. Ich habe ihm die Tür geöffnet, und jetzt sind wir hier.«
»Solche Dinge passieren manchmal«, sage ich. »Wo kommt er her?«
»Aus Pennsylvania. Seine Familie hat hier einen Sommerwohnsitz, in Port Clyde.«
»Du scheinst ja furchtbar viel über ihn zu wissen«, sage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Auch sie hebt die Augenbrauen, als sie antwortet. »Ich habe vor, noch mehr herauszufinden.«
Betsy kehrt mit einem Becher Wasser zurück zum Kombi. An der Art, wie sie geht, mit straffen Schultern und hoch erhobenem Kopf, erkenne ich, dass sie weiß, dass der junge Mann sie beobachtet. Und dass es ihr gefällt. Sie gibt ihm den Becher und klettert zu ihm auf das Autodach.
»Wer war das?« Mein Bruder Al steht an der Hintertür und trocknet sich die Hände an einem Tuch ab. Ich merke nie, wenn er kommt; er ist so leise wie eine Katze.
»Betsy. Und ein Junge. Er malt ein Bild vom Haus, hat sie gesagt.«
»Wozu tut er das?«
Ich zucke mit den Schultern. »Manche Leute sind schon komisch.«
»Stimmt.« Al setzt sich in seinen Schaukelstuhl und holt Pfeife und Tabak hervor. Während er die Pfeife stopft und anzündet, tun wir beide so, als würden wir Betsy und den jungen Mann nicht durch das Fenster beobachten.
Nach einer Weile steigt der Junge herunter und legt seinen Malblock auf die Motorhaube. Er reicht Betsy die Hand, und sie lässt sich hinunter und in seine Arme gleiten. Sogar aus dieser Entfernung kann ich die Leidenschaft zwischen den beiden spüren. Sie bleiben einen Augenblick stehen und unterhalten sich, dann nimmt Betsy ihn an der Hand und zieht ihn mit sich - oh Gott, sie bringt ihn hierher zum Haus. Einen Moment lang überkommt mich Panik: Der Fußboden ist staubig und mein Kleid schmutzig, meine Haare sind ungekämmt. Auf Als Arbeitsanzug sind Schlammspritzer. Es ist lange her, dass ich mir zuletzt Gedanken darüber gemacht habe, wie ich auf einen Fremden wirken könnte. Aber während sie auf das Haus zukommen, fällt mir auf, wie der Junge Betsy ansieht, und mir wird klar, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Er hat nur Augen für sie.
Jetzt ist er da, steht vor der Tür. Schlaksig, lächelnd und strotzend vor Energie, füllt er den ganzen Türrahmen aus, als er die Fliegengittertür öffnet. »Was für ein wunderbares Haus«, murmelt er und reckt den Hals, während er seinen Blick durch den Raum und zur Decke schweifen lässt. »Das Licht hier ist außergewöhnlich.«
»Christina, Alvaro, das ist Andrew«, sagt Betsy, die hinter ihm durch die Tür tritt.
Er nickt uns zu. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich hier so ohne Einladung hereinplatze. Betsy hat geschworen, das sei in Ordnung.«
»Wir legen nicht viel Wert auf Förmlichkeiten«, sagt mein Bruder. »Ich bin Al.«
»Leute ganz nach meinem Herzen. Und nennen Sie mich Andy, bitte.«
»Also, ich bin Christina«, sage ich.
»Ich sage Christie zu ihr, aber das tut sonst niemand«, fügt Al hinzu.
»Dann also Christina«, sagt Andy und richtet den Blick auf mich. Ich kann kein Urteil darin erkennen, nur eine gewisse anthropologische Neugier. Trotzdem lässt mich seine offenkundige Aufmerksamkeit erröten.
Schnell drehe ich mich zu Al und sage: »Erinnerst du dich an das Buch Die Schatzinsel? Sein Vater hat die Bilder dazu gemalt, sagt Betsy.«
»Wirklich?« Al strahlt. »Das sind Bilder, die man nicht vergessen kann. Ich habe das Buch wahrscheinlich ein Dutzend Mal gelesen. Wenn ich es mir recht überlege, ist es vielleicht das einzige, das ich je zu Ende gelesen habe. Ich wollte Pirat werden.«
Andy grinst. Er hat große, weiße Zähne wie ein Filmstar. »Ich auch. Eigentlich will ich das immer noch.«
Betsy hat den riesigen Malblock in der Hand. Stolz wie eine junge Mutter kommt sie zu mir herüber, um ihn mir zu zeigen. »Schau, was Andy gemacht hat, Christina, in der kurzen Zeit.«
Das Papier ist noch feucht. Mit kräftigen Pinselstrichen hat Andy das Haus auf einen weißen Kasten mit zwei Giebeln, die in Richtung Meer zeigen, reduziert. Die Felder sind grün und gelb, mit stacheligen Grashalmen, die hier und da aufragen. Beinahe schwarze Tannen, in Violett angedeutete Berge, wässrige Wolken. Obwohl das Aquarell nur eine flüchtige Skizze ist, weisen die Pinselstriche eine Bewegung auf, als würde ein Wind durch das Bild fegen - es ist offensichtlich, dass der Junge etwas von der Sache versteht. Die Fenster sind bloß angedeutet, aber man hat das merkwürdige Gefühl, hineinsehen zu können. Das Haus wirkt wie in der Erde verwurzelt.
»Es ist nur ein Entwurf«, sagt Andy und tritt neben mich. »Ich werde noch weiter daran arbeiten.«
»Sieht aus wie ein Ort, an dem es sich gut leben lässt«, sage ich. Das Haus wirkt lauschig und gemütlich, eine Märchenversion von dem Haus, in dem Al und ich tatsächlich wohnen. Die Zeichen seines Verfalls sind nur durch einige blaue und braune Farbkleckse angedeutet.
Andy lacht. »Das wisst ihr besser als ich.« Er fährt mit zwei Fingern über das Papier und sagt: »So klare Formen. Dieser Ort hat etwas Außergewöhnliches . Lebt ihr hier schon lange?«
Ich nicke.
»Das spüre ich. Das Haus ist voller Geschichten....
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