Schweitzer Fachinformationen
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Oben scheint das Licht. Weiß durchdringt es das Blau, das immer höher zu steigen scheint. Ohne klare Konturen leuchtet es, gebrochen von den leichten Wellen, immer in Bewegung. Nach oben steigen die Bläschen durch die Stille, nach oben recken sich auch die Arme, um sich festzuhalten, zu greifen, doch das Wasser lässt sich nicht packen. Das totenstille Blau um mich herum gibt nach, auch unter meinen Füßen, die wie meine Hände Halt suchen und ihn nicht finden. Ich sinke unter dem Licht.
Nur wenige Sekunden ist es her, dass ich in das Becken stürzte. Wo ist Papa? Ich hatte ihn an diesem Hochsommertag in dem Freibad aus den Augen verloren. Die Sonne schien. Licht, Hitze und Tausende Füße haben den Rasen in grauen Staub und graue Halme verwandelt. Wo ist Papa? Überall Menschen, aber wo ist er? Ich laufe, ich weine, ich bin allein. Ich laufe schneller.
Dort ist das Schwimmerbecken. Kein Ort für mich, denn ich kann nicht schwimmen, aber ich glaube, mein Papa ist dort. Ich laufe immer noch, das Wasser leuchtet blau, die Menschen juchzen und lachen, die weißen Kunststofflamellen am Rand schlucken das überschwappende Wasser. Die Lamellen kommen auf mich zu, ich bin offenbar ausgerutscht. Doch genau weiß ich den Ablauf bis heute nicht.
Das weiße Licht im sich bewegenden Blau ist die nächste Erinnerung. Ich sinke im Wasser. Nichts zu hören, dann wird es dunkel. Keine Erinnerung an Angst oder Panik, Atemnot und den Versuch zu schreien. Keine Erinnerung an das, was dann passiert sein muss. Wie tief war ich unten? Wie lange? Wann kam der zupackende Griff, der mich, den kleinen Jungen, nach oben ans Licht und vor allem an die Luft zog? Die Bilder sind verschwunden, vermutlich für immer. Wird die Angst übermächtig, zerstört sie die Bilder. Wie ein Filmriss.
Das nächste Bild in meinem Gedächtnis zeigt diffus einen Jungen, einen »großen Jungen«. Ich bin wieder oben und sehe ihn, aber nicht sein Gesicht. Dass er mir das Leben gerettet hat, dass ich ohne ihn ertrunken wäre - das hat er vermutlich erst später verstanden. Auch an sein Gesicht werde ich mich erst später erinnern.
»Kannst du nicht schwimmen?«, fragt er. »Nein!« Dann beginne ich zu weinen und will raus aus dem Becken. Ich glaube, der Junge hat mir dabei geholfen. Doch auch diese Bilder bleiben unklar. Ich laufe wieder. Ich weine und weine. Wo ist Papa? Wo ist Mama? Die Sonne scheint weiß, der Boden bleibt grau, das Wasser läuft an mir herunter. Mehr weiß ich nicht mehr.
»Mama, ich bin ins Wasser gefallen!« Ich habe sie auf einer Wiese gefunden. Neben ihr liegen die bunte Kinderdecke für mich und das Handtuch. Ich weine und weine. »Hast du viel Wasser geschluckt?« »Ja, ganz viel.«
Mehr kann ich nicht erzählen. Auch nicht davon, was danach geschah, ob ich über den Sturz und das Versinken gesprochen habe, den »großen Jungen« und wann ich aufhörte zu weinen. Ich weiß es nicht mehr.
Ich habe als Kind sehr spät schwimmen gelernt. Beim Schulschwimmen bleibe ich der einzige im Nichtschwimmerbecken. Der Versuch eines Sportlerlehrers, mich zum Tauchen zu zwingen, endet mit Kratzern und blauen Flecken an seinen Beinen. Ich wehre mich mit allen Kräften, die ein Elfjähriger aufbringen kann. Die Frage, warum ich so heftig reagiere und einen Lehrer verletze, stellt er weder mir noch meinen Eltern.
Die Motorengeräusche der kleinen Sportflugzeuge gehören zu meiner Kindheit. Der kleine Flugplatz von Neumünster liegt nicht weit entfernt von unserem Zuhause. Im Sommer drehen die Maschinen ihre Runden über dem Stadtrand, an den Wochenenden sind es besonders viele. Andere Menschen mag der Geräuschpegel stören, für mich klingen die Motoren nach Sonntag.
An einem dieser Sonntage fahren wir mit dem VW-Käfer die wenigen Kilometer zum Flugplatz. Dort haben sich Fallschirmspringer getroffen, die in die Flugzeuge steigen und sie im Himmel über Neumünster wieder verlassen, um punktgenau auf dem Gras der Start- und Landebahn wieder auf die Erde zu gelangen. Immer wieder kommen brummend neue Flugzeuge. Nicht immer ist es im heißen hellen Sonnenlicht klar zu erkennen, wie die Springer durch die Türen in die Tiefe springen. Spätestens, wenn sich der Fallschirm öffnet, sind sie gut auszumachen. Deutlich abgebremst schweben sie über dem Boden ein, bis sie aufsetzend sich in der derselben Sekunde abrollen, um die Wucht der Landung auf den Körper abzufangen.
Immer wieder fallen Springer herab. Mindestens 100 Zuschauer folgen erst dem ungebremsten Flug, dann dem Öffnen des Fallschirms und dann der Landung im Gras. Familien wie wir haben sich versammelt, um trotz praller Sonne den Springern zuzusehen.
Und wieder einer. Er springt aus dem Flugzeug, das brummend weiterfliegt, und fällt vom Himmel. Dutzende Male haben wir diese Sprünge verfolgt. Jetzt müsste sich, wie bei allen anderen zuvor, der Fallschirm öffnen. Warum öffnet er sich nicht? Der Springer rast auf das Gras zu, dann öffnet sich der Fallschirm ein klein wenig, doch zu spät, um den Fall wirklich abzubremsen. Plötzlich der Aufprall und dieses hörbare Knacken, das ich nie vergessen werde. Die Menschen rufen entsetzt »Oh!«. Es klingt, als ob sie gleichzeitig das Wort ausrufen, um dann noch in der Silbe leiser zu werden, als sie erkennen, dass vor ihren Augen etwas Unwiderrufliches, ein Unglück geschehen ist.
Der dicke Mann mit der Halbglatze hinter der Absperrung ruft etwas. Es klingt wie ein Befehl, den er ausspricht. Vermutlich hat er einem Kollegen das Wort »Krankenwagen!« zugebrüllt. Dann steigt er in den VW-Käfer des Flugplatzes, der ohne Nummernschild bereitsteht, und rast dorthin, wo der Fallschirmspringer mit diesem entsetzlichen Geräusch aufgeschlagen ist. Das eigentümliche Geräusch des Käfer-Motors, dieses Aufheulen, kann ich immer noch hören. Und die Stimme des Mannes mit der Glatze.
Ich stehe vor dem hohen Gras, neben mir mein Vater. Ich schaue in die Richtung, in die der Käfer rast. Inzwischen ist der Fallschirm zu Boden gefallen. Ich blicke weiter dorthin, ohne etwas zu erkennen. Um uns herum drehen sich viele Menschen um. Leise sprechend oder schweigend gehen sie zum Parkplatz. »Lass uns besser losfahren«, sagt mein Vater.
Am nächsten Tag zeigt meine Mutter uns einen kleinen Artikel in der Lokalzeitung über das Unglück. Der Fallschirmspringer ist tot.
Meine Mutter erinnert sich gut an den Arzt und seinen Ruf. »Pferdedoktor« nannte man Dr. Jungmann* in Neumünster. Trotzdem war sein Wartezimmer immer voll, der Mann war damals der einzige Experte für Hals, Nasen und Ohren im Ort. Ich schnarchte laut. Die nächtlichen Geräusche waren für ein Kind in meinem Alter nicht nur ungewöhnlich, sondern auch störend für meinen Bruder, mit dem ich in den ersten sechs Jahren meines Lebens ein Zimmer teilen musste.
Der Hausarzt weiß nur einen Rat: »Die Polypen müssen raus.« Damit bin ich ein Fall für Dr. Jungmann ohne zu ahnen, wie der Mann mit seinen Patienten umgeht, selbst wenn sie noch Kinder sind. Unter Polypen kann ich mir kaum etwas vorstellen, das Problem des Schnarchens habe ich nicht verstanden. Ich habe Angst, weil ich nicht weiß, was geschehen wird und weil es schon im Wartezimmer nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln riecht. Mich beruhigt nur, dass meine Eltern bei mir sitzen. Ich erinnere mich an einen dunklen Raum mit viel Braun und vielen schweigenden Patienten, die im Kreis um einen Tisch sitzen und warten.
Wie ich zum Stuhl im Behandlungszimmer gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich bin allein mit Dr. Jungmann und seinen Helferinnen. Die Erinnerung an Gesichter und Mobiliar ist fort, nur die an das Tuch ist geblieben, das auf meinem Gesicht liegt. Dahinter scheint ein Licht, vermutlich die Lampe des Arztes, der in meinen Rachen leuchtet. Eine Metallkonstruktion verhindert, dass ich den Mund schließen kann. Sie schmeckt nach Eisen. Dann sehe ich die Tropfen, die eine Helferin aufs Tuch träufelt. Ein scharfer Geruch dringt in meine Nase. Dann stoppt bis auf wenige Bruchstücke die Erinnerung.
Später erfahre ich: Dr. Jungmann will mich mit Äther betäuben, ein in den 1960er-Jahren übliches Verfahren. Doch die Chemikalie wirkt nicht bei jedem Patienten. Ich gehöre zu jenen, die nicht einschlafen, sondern erregt und panisch reagieren. Damit hat Dr. Jungmann offenbar nicht gerechnet. Er erwartet ein ruhig schlafendes Kind.
Ich weiß heute, dass der Arzt und die Frauen die Operation fortsetzten, und vermute, dass sie mich festhielten und auf den Stuhl drückten, vermutlich mich auch am Hals packten. Ich erinnere mich an...
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