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Der Tatort war noch bemerkenswerter, als Julius Kern ihn sich vorgestellt hatte.
In ein schneeweißes Hemd gekleidet, lag die gewaschene, frisierte und geschminkte Leiche von Elisabeth Woelke in der Mitte ihres Wohnzimmers auf dem Esstisch aufgebahrt. Und auch der Rest des Raums sah aus, als sei er für einen ganz besonderen Anlass hergerichtet worden. Jedes Möbelstück, jede Lampe, sogar die Glühbirnen waren penibel gereinigt worden. Die Fensterscheiben waren so blank poliert, dass man glauben konnte, es seien gar keine eingesetzt gewesen. Die Bilder und ihre Rahmen waren mit Glas- und Holzpolitur behandelt worden; sogar die Nägel, an denen sie aufgehängt waren, glänzten. Einfach alles in diesem Raum war mit unglaublicher Akribie geputzt und geordnet worden, die Fernbedienungen auf dem Couchtisch, die Bücher in den Regalen, die Fotos auf dem Schreibtisch - einfach alles glänzte und verströmte den Duft von Reinigern und Pflegemitteln.
Kern war tief beeindruckt. Der Raum strahlte in seiner makellosen Reinheit eine unheimliche Kälte aus, die sich schwer beschreiben ließ.
»Wie in einem OP«, sagte er leise zu sich selbst. Jetzt erst bemerkte Quirin Meisner, dass Kern eingetroffen war.
Meisner war der Leiter der Mordkommission, die mit der Aufklärung der Mordserie beschäftigt war, die nun das dritte Opfer innerhalb von kaum acht Monaten gefordert hatte. Knapp eine Stunde zuvor hatte er Kern aus Brandenburg kommen lassen, damit er sich den Tatort ansehen konnte.
»Julius, danke, dass du so schnell gekommen bist!«, begrüßte er Kern.
»Das ist diese verdammte Stadt«, entgegnete der, während er sich weiter in dem steril wirkenden Raum umsah. »Zieht die ganzen kranken Freaks an. Und keinen interessiert's.«
»Hat Brandenburg dich etwa weich gemacht?«, erwiderte Meisner spöttisch.
Julius Kern arbeitete seit mittlerweile fünf Jahren für das LKA Brandenburg. Seine Karriere hatte er aber in Berlin begonnen. Dort war er schon früh durch seine außergewöhnliche Art des Ermittelns aufgefallen. Immer wieder waren es allein seine Erkenntnisse gewesen, die den entscheidenden Ausschlag für die Ergreifung von Verbrechern gegeben hatten. Kern gab niemals auf. Auch dann nicht, wenn alle seine Kollegen bereits mit ihrer Weisheit am Ende waren.
»Das ist die Dritte. Ich habe schon nach dem zweiten Mord überlegt, dich ins Team zu holen, aber du weißt ja selber, wie das dann immer ist.«
»Warum musst du mich bloß in so einen kranken Fall reinziehen?«
Meisner brauchte nicht lange zu überlegen.
»Wäre es dir lieber, man würde dich nur noch für Falschparker einsetzen?«
»Dann erzähl mal.«
»Er geht immer gleich vor. Erst betäubt er sie mit Chloroform, dann ertränkt er sie.«
»Kampfspuren?«
»Nein, sie scheinen sich nicht zu wehren. Auch keine Einbruchspuren.«
»Sie kannten ihn?«
Kern blickte sich weiter um. Obwohl er in seiner Laufbahn schon einiges zu sehen bekommen hatte, war der Anblick, der sich ihm an diesem Ort bot, selbst in seinen Augen bemerkenswert. Die unglaubliche Mühe, die sich der Täter nach dem Mord damit gemacht hatte, Sauberkeit und Ordnung herzustellen, war geradezu unheimlich.
»Meinst du, es war eine Art Ritualmord?«, fragte Kern.
»Haben wir auch überlegt. Aber die Experten finden nichts, was darauf hinweist.«
»Aber ausschließen können sie es nicht?«
»Sie sagen, wenn er religiöse Motive hätte, würde er es uns wissen lassen. Tut er aber nicht.«
»Was will er dann? Es sieht nicht so aus, als ob der Tod des Opfers sein Ziel wäre. Das könnte er viel leichter haben. Ich meine, wie lange braucht man, um so zu putzen?«
»Die Kollegen sagen, vier bis sechs Stunden. Wenn er allein war.«
»War er«, sagte Kern.
»Warum so sicher?«, wollte Meisner wissen.
»Dieser Kerl will absolut nichts falsch machen. Und einen Mitwisser zu haben, wäre verdammt falsch.«
»Wo wären wir mit unserer Arbeit, wenn Mörder keine Fehler machen würden?«, wandte Meisner ein.
»Dieser Kerl macht keine Fehler.«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil du mich sonst nicht geholt hättest.«
Sie schmunzelten. Kern und Meisner kannten einander seit vielen Jahren. Sie hatten oft zusammengearbeitet, bevor Kern nach Brandenburg versetzt worden war. Meisner war um einiges älter als Kern, weswegen dieser ihn immer auch als väterlichen Freund gesehen hatte.
»Er ist verdammt kräftig«, stellte Kern fest. »Er muss sie das Chloroform eine ganze Weile lang einatmen lassen. Also, ich würde mich da wehren. Und dann hebt er auch noch die Leiche auf den Tisch. - Habt ihr schon einen Spitznamen für ihn?«
»Die Jungs nennen ihn Putzteufel.«
»Nicht schlecht.«
Je genauer Kern sich umsah, desto bewusster wurde ihm das Ausmaß der Sauberkeit, die der Täter hinterlassen hatte.
»Mann, der könnte mal zu mir kommen. Meine Bude sieht aus!«
»Ist Nathalie immer noch .?«, fragte Meisner vorsichtig.
»Was soll ich machen? Sie hat ihre Gründe.«
Kerns Frau Nathalie hatte ihn mit ihrer gemeinsamen Tochter Sophie vor einiger Zeit verlassen.
»Musst mir nichts erzählen. Ich weiß ja selber, wie das ist, wenn einem die Familie Sorgen macht.«
Der Leiter des Erkennungsdienstes trat an die beiden heran.
»Wir haben alles. Die Jungs von der Gerichtsmedizin würden sie gern mitnehmen«, sagte er.
»Ist denn was dabei?«, fragte Meisner, ohne ernsthaft auf eine positive Antwort zu hoffen.
»Na ja, wie bei den beiden anderen. Kein Blut, keine Haare, keine DNA. Kein einziger Fingerabdruck in Wohnzimmer, Bad oder Flur. Nicht mal vom Opfer. In den anderen Räumen scheint er nicht gewesen zu sein.«
»Was ist mit den Mitteln, die er benutzt hat?«
»Die Liste kriegst du so schnell wie möglich. Sonst kann ich dir leider nicht groß weiterhelfen. Er hat wieder mal alles sauber gemacht.«
»Warum macht er das denn?«, fragte Kern. »Wenn man einen Mord begangen hat, dann haut man doch so schnell wie möglich ab. Aber er bleibt noch stundenlang in der Wohnung.«
»Die Psychologen sagen, er hat dabei uns im Visier. Er will uns seine Stärke beweisen«, antwortete Meisner.
»Nach dem Motto Ätschibätsch, ihr kriegt mich nicht? Das ist diese verdammte Anonymität der Großstadt. Millionen Menschen, und keiner kennt den anderen. Und das kommt dann dabei raus: durchgeknallte Spinner mit einer Mission. Was ist das für ein Hemd, das sie anhat?«
Kern ging zu der Leiche hinüber, Meisner folgte ihm.
»Die Hemden bringt er mit. Immer der gleiche Hersteller, Massenware. Kann man überall kaufen.«
»Er uniformiert sie?«
»Wenn du so willst, ja.«
Kern überlegte.
»Er nimmt ihnen die Persönlichkeit. Alles, was ihre Individualität ausmacht. Ihre Kleidung, ihre Frisur. Sogar ihren Schmutz. Er macht sie alle gleich. Im Tod. Wer waren die anderen Opfer?«
»Ich gebe dir die Akte im LKA«, antwortete Meisner, bevor er sich dem Kollegen vom Erkennungsdienst zuwandte. »Kannst du uns kurz allein lassen, bitte?«
»Klar.«
Nachdem keiner mehr in Hörweite war, sagte Meisner leise:
»Dieser Kerl macht mit uns, was er will. Wir haben absolut nichts. Er lässt uns wie Idioten dastehen, und ich fürchte, er wird damit nicht aufhören. Kannst du mir helfen? Ich weiß langsam nicht mehr, was ich noch machen soll.«
»Was sagt denn Castella dazu?«
»Die lass meine Sorge sein.«
Kern sah sich weiter um. In diesem Zimmer hatte Leben stattgefunden. Lachen und Weinen. Wahrscheinlich hatte die alte Frau ihre Enkel hier empfangen, Gäste hierher eingeladen. Aber ihr letzter Gast hatte das alles ausgelöscht. Jetzt sah nichts in dem Raum mehr nach Leben aus. Es war einfach nur ein Zimmer. Sauber, ordentlich, kalt.
»Ich habe eine Bitte«, setzte Kern an. »Ich möchte mit ihr allein sein.«
»Wie, allein?«
»Bevor du sie wegbringen lässt. Fünf Minuten. Nur die Leiche und ich.«
Meisner wunderte sich zwar, andererseits kannte er seinen Freund Julius und dessen ungewöhnliche Ermittlungsmethoden. Gerade deshalb hatte er ihn ja auch angefordert.
»Was versprichst du dir davon?«, wollte er trotzdem wissen.
»Er will uns was sagen. Die Sauberkeit und die Ordnung sind eine Nachricht an uns. Wenn ich den Raum so erlebe wie er, dann verstehe ich sie vielleicht.«
Meisner hatte keine Einwände. Die Spuren waren gesichert und alle Fotos gemacht.
»Okay, zehn Minuten. Aber dann müssen wir sie wirklich wegbringen.«
Innerhalb weniger Minuten hatten alle die Wohnung verlassen. Das Team vom Erkennungsdienst, die Schutzpolizisten und die Mitglieder der Mordkommission hatten sich zurückgezogen.
Jetzt war es auf einmal ganz ruhig in der Wohnung. Die Stille, die von der perfekten Reinheit des Ortes noch verstärkt wurde, hing wie eine dunkle Wolke in der Luft. Julius Kern stand allein in dem perfekt gesäuberten Raum vor der makellos hergerichteten Leiche von Elisabeth Woelke. Sekundenlang sah er in das tote Gesicht der Frau, das sie, geschminkt, wie es war, so aussehen ließ, als sei sie einfach nur kurz eingeschlafen.
Kern ging ans Fenster. Die Wohnung lag im Berliner Stadtteil Charlottenburg, nicht weit vom Schloss Charlottenburg entfernt, das regelmäßig Horden von Touristen anzog.
»Muffiges Betriebsfeierflair«, flüsterte er leise in den Raum, als sein Blick auf die Eckkneipe fiel, die auf der anderen Seite der mit groben Steinen gepflasterten Straße lag. »Wahrscheinlich gibt's im Keller 'ne Kegelbahn.«
Es war ein...