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Das Kind hörte einfach nicht auf zu schreien.
Julius Kern hatte das herzzerreißende Weinen schon im Hausflur gehört, noch bevor er das Apartment in dem anonymen Wohnkomplex im Berliner Stadtteil Wedding betreten hatte. Das unaufhörliche Wimmern des Kindes beeindruckte ihn sogar noch mehr, als es die Leiche der Mutter tat, die kreisend an einem Strick von der Decke baumelte.
»Ich habe so was noch nie erlebt«, hatte Quirin Meisner am Telefon gesagt. Kern war daraufhin sofort in seinen Wagen gestiegen und zum Fundort gefahren.
Meisner, Erster Kriminalhauptkommissar beim LKA Berlin, war einer von Kerns ältesten Freunden. Sie kannten einander, seit Kern vor vielen Jahren seinen Dienst in der Abteilung für Delikte am Menschen angetreten hatte. Meisner, das bedurfte zwischen den beiden keiner Erwähnung, hätte Kern nicht gerufen, wenn nicht etwas wirklich Außerordentliches vorgefallen wäre.
Aufmerksam musterte Kern nun den Raum, in dem die junge Mutter Jaqueline Ertel ihrem Leben ein furchtbares Ende gesetzt hatte.
»Wie lange hängt sie da schon?«, fragte er, während er die Leiche der Frau näher betrachtete. Ihr totes Gesicht war voll von getrocknetem Blut, das ihr aus Mund und Nase gelaufen war. Außerdem war ihr Speichel auf den Brustkorb geronnen und hatte einen dunklen Fleck auf ihrem T-Shirt hinterlassen. Unter der Toten hatte sich zudem eine Urinpfütze gebildet, nachdem die Schließmuskeln der Frau letztlich versagt hatten.
»Sie sollte schon abgehängt sein. Aber ich wollte, dass du alles noch so siehst, wie wir es vorgefunden haben. Wir haben übrigens zuerst den Ehemann entdeckt, dann sie«, antwortete Meisner.
Kern sah sich unwillkürlich um.
»Der Mann auch? Wo?«, fragte er, nachdem er keine Anzeichen dafür erkennen konnte, dass sich noch eine weitere Leiche in der kleinen Wohnung befand.
»Nicht hier«, wiegelte Meisner ab. »Er hatte eine eigene Wohnung. In Hellersdorf.«
»Hat sie was mit seinem Tod zu tun?«, fragte Kern unsicher und deutete dabei auf die Leiche der jungen Frau, die nun von den Assistenten des Rechtsmediziners mitsamt der Schlinge um ihren Hals losgeschnitten und in einen schwarzen Kunststoffsarg gelegt wurde. Meisner nickte.
»Sie hat ihn wahrscheinlich vergiftet, wir haben das Zeug in ihrer Handtasche gefunden. Danach muss sie hergefahren sein und sich selbst gerichtet haben.«
»Was ist mit dem Kind?«, wollte Kern dann wissen. Meisner antwortete zunächst nicht. Er machte nur eine kleine Geste in Richtung Kinderzimmer.
»Die Kleine ist noch keine zwei Jahre alt«, sagte er dann. »Ich verstehe das nicht. Warum erhängt sich eine Mutter, während nebenan ihre Tochter liegt?«
Kern warf einen kurzen Blick in das Kinderzimmer, in dem eine Kollegin der Schutzpolizei das Mädchen bis zum Eintreffen des Krankenwagens zu beruhigen versuchte. Der Rechtsmediziner Dr. Adrian Homann, der die erste Leichenschau am Fundort vorgenommen hatte, wollte sich zunächst vergewissern, dass das Kind keine Anzeichen von Unterernährung oder Unterkühlung zeigte, bevor er es schließlich zur Beobachtung in die Kinderklinik eingewiesen hatte. Kern trat vorsichtig an seine Kollegin heran und strich der Kleinen sanft mit dem Zeigefinger über die Stirn.
Was musst du heute durchgemacht haben?
»Hat sie noch Verwandte?«, fragte er leise, als wolle er verhindern, dass das Mädchen es hören konnte.
»Wir sind dran«, gab Meisner zur Antwort. Erst als er den besorgten Blick seines Freundes bemerkte, fügte er seiner dienstlichen Antwort noch eine persönliche hinzu: »Sie wird in gute Hände kommen. Es gibt viele gute Pflegefamilien.«
»Wer kann einem Kind schon die Mutter ersetzen?«, flüsterte Kern und berührte sanft die kleinen Finger des Mädchens, die es gerade in seine Richtung ausgestreckt hatte.
Während Ertels Leiche aus der Wohnung getragen wurde, deutete Meisner dem Rechtsmediziner an, dass er noch einmal kurz mit ihm sprechen wolle. Unterdessen wandte sich Kern wieder von dem Kind ab und ließ seine Blicke erneut prüfend durch den Raum schweifen, in dem sich das Drama abgespielt hatte.
An den Wänden hingen Poster aus den Neunzigerjahren, auf denen fliegende Einhörner, traurige Clowns und Regenbögen abgebildet waren. Die Bilder waren nicht gerahmt, nur mit Klebestreifen an die abgenutzte Raufasertapete geklebt. Das Sofa war mit einem Tigerfellmuster bezogen, und auf dem gekachelten Couchtisch lagen neben diversen Fernbedienungen halb volle russische Zigarettenschachteln und abgegriffene Rätselzeitschriften. Zudem stand ein überfüllter Aschenbecher darauf.
Nicht gerade ein Palast.
Als Meisner mit Dr. Homann zu sprechen begann, wandte auch Kern sich den beiden zu.
»Das hätte kaum schlimmer laufen können«, begann Homann, während er Kern mit einem Nicken grüßte. »Wegen der niedrigen Decke ist sie keine zehn Zentimeter tief in die Schlinge gefallen. Da ist alles schiefgegangen.«
»Also kein Genickbruch«, schlussfolgerte Kern und schüttelte betreten den Kopf.
»Dafür müsste der Knoten der Schlinge vorn oder seitlich liegen«, erklärte Homann. »Ihrer lag aber im Nacken, da geht es nur beim Long Drop schnell. Wenn man so um die fünfzig Zentimeter tief fällt. Alle Blutgefäße, die zum Gehirn laufen, verschließen sich, und das Opfer wird sofort bewusstlos. Geht ruckzuck und ist schmerzlos. Wenn man sich allerdings zu vorsichtig in den Strick sinken lässt, dann erstickt man ganz langsam. Mit allem, was dazugehört: Einblutung in die Augen, Lungenüberblähung und Strangfurche am Hals.«
»Hast du Kampfspuren gefunden?«, fragte Meisner.
»Nein. Ich muss sie natürlich noch auf dem Tisch sehen, aber, ehrlich gesagt, wenn sie an den Händen und Armen schon keine hat, dann finde ich woanders auch keine mehr. Sie hat sich anscheinend wirklich aus eigenem Entschluss erhängt.«
Kern bemerkte, dass Meisner sich damit nicht zufriedengeben wollte.
»Adrian, bist du absolut sicher?«, hakte er in einem Tonfall nach, der dem Arzt zweifelsfrei zu verstehen gab, dass er Bedenken gegen die Selbstmordtheorie hatte. Homann wusste, dass Meisner sich nur ungern mit den Ergebnissen der ersten Leichenschau zufriedengab.
»Einen Menschen gegen seinen Willen zu erhängen ist so gut wie unmöglich«, erklärte er daher. »Er würde wie verrückt um sein Leben kämpfen und dabei enorme Kräfte aufwenden. Er würde treten, um sich schlagen, sich fallen lassen, schreien, toben, spucken, kratzen. Ohne Abwehrverletzungen und Kampfspuren läuft das nicht ab. Mal ganz zu schweigen von den Nachbarn, die das alles mitbekommen müssten.«
»Und wenn sie was im Blut hatte? Drogen vielleicht?«, hakte jetzt auch Kern nach.
»Klar, prüfe ich noch. Aber wenn sie so auf Droge gewesen wäre, dass man sie ohne Gegenwehr einfach hätte aufhängen können, dann müsste es Spuren davon geben, dass jemand sie gehoben und gestützt hat.«
Weder Kern noch Meisner konnten den Argumenten des Mediziners etwas Schlüssiges entgegensetzen.
»Danke, Adrian. Wir sprechen dann, wenn du sie genau gesehen hast. Und ihren Mann.«
Homann verabschiedete sich und folgte seinen Kollegen, die den Sarg mittlerweile zum Leichenwagen gebracht hatten.
Kern sah seinen Freund kritisch an.
»Okay, jetzt mal Schluss damit«, begann er. »Das ist eine tragische Geschichte. Eine Mutter hat ihren Mann ermordet und sich danach erhängt.«
»Es spricht wirklich alles dafür«, bestätigte Meisner.
»Und warum«, fuhr Kern fort, »bin ich dann hier?«
Julius Kern galt unter seinen Kollegen als einer der besten Ermittler des LKA Berlin. Meisner, daran konnte kein Zweifel bestehen, hätte ihn niemals wegen eines tragischen Familiendramas in einem sozialen Problembezirk zurate gezogen. Und er hätte niemals leichtfertig die Einschätzung seines langjährigen Kollegen von der Rechtsmedizin infrage gestellt.
»Also gut, kommen wir zum Punkt«, setzte Meisner daher an. »Wir haben nicht nur das Gift bei ihr gefunden. Da war noch was. Und ich verspreche dir, es wird dich interessieren.«
Meisner griff in die Innentasche seines Mantels und zog eine Plastiktüte hervor, die vom Erkennungsdienst mit einer Nummer versehen worden war. Kern erkannte, dass sich ein Zettel und ein Briefumschlag darin befanden.
»Also?«, fragte er mit ruhiger Konzentration.
Ohne eine Miene zu verziehen, reichte Meisner ihm den Beutel. Kern atmete noch einmal tief durch, bevor er ihn herumdrehte und las, was auf dem Zettel geschrieben stand. Nachdem er die Botschaft gesehen hatte, hob er den Kopf und ließ den Blick erneut im Raum umherschweifen. Der Geruch von Fäkalien, Bier und kaltem Zigarettenrauch stand in der Luft, während das Kind unaufhörlich weiterschrie und weinte, als könne es fühlen, welches Drama sich in dieser Wohnung abgespielt hatte. Noch einmal las er die Botschaft auf dem Zettel und wandte sich dann mit gerunzelter Stirn an seinen Kollegen.
»Du hast recht«, bestätigte Kern. »Diese Geschichte interessiert mich.«
Meisner wandte seinen Blick keine Sekunde lang von Kern ab.
»Dann bist du im Team«, sagte er kurz und sachlich.
»Sehr gut«, erhielt er zur Antwort. »Diese Stadt hat so viele Irre, da brauchen wir den hier nicht auch noch.«
Weiterer Worte bedurfte es nicht. Während das Kind im Nebenraum einen kurzen Augenblick lang zu weinen aufgehört hatte, betrachtete Kern den abgeschnittenen Strick, an dem die Frau an diesem Tag den Tod gefunden hatte. Ohne es selbst zu bemerken, wiederholte er flüsternd, was er gelesen hatte:
»In drei Tagen wirst Du Deinen Mann...