Schweitzer Fachinformationen
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Sonntag, 9. Dezember
Kerstin Diercke klopfte sich den Schnee vom Mantel. Tommy hüpfte aufgeregt um sie herum, als würden sie gerade aufbrechen und hätten nicht einen einstündigen Spaziergang durch den Eller Forst hinter sich.
»Ruhig jetzt, Tommy«, ermahnte sie den Hund, bevor sie die Haustür aufschloss.
Tommy trottete brav hinter ihr ins Treppenhaus. Kerstin hoffte, dass Nora inzwischen wach war. Sie hatte Brötchen gekauft und wollte gemütlich mit ihrer Tochter frühstücken. Danach würden sie einen Ausflug machen, vielleicht in den Aquazoo oder, wenn Nora Lust dazu hatte, zum Schlittenfahren in die Eifel oder ins Sauerland. Kerstin hatte im Radio gehört, dass dort viel Schnee lag. Egal was sie unternahmen, Hauptsache Nora kam ein bisschen auf andere Gedanken. Seit Tagen hatte sie die Wohnung nicht verlassen, und Kerstin hatte mehr als einmal gehört, wie sie in ihrem Zimmer weinte. Sie hätte ihrer Tochter gern die Last der Trauer abgenommen, zumindest einen Teil davon, doch das war unmöglich. Sie hatte selbst als Kind ihre Freundin Petra bei einem Autounfall verloren und erinnerte sich gut an dieses Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit. An den Hass auf alle Erwachsenen, die das Grauen nicht hatten verhindern können, an die Angst, weil mit einem Schlag das Vertrauen weg war, dass ihre Eltern für jedes Problem eine Lösung parat hatten. Petras Tod hatte der Allmacht der Erwachsenen ein Ende bereitet. Kerstin reagierte mit Protest und Verweigerung, tat nichts mehr für die Schule und machte andere Dummheiten. Glücklicherweise brachten ihre Eltern viel Verständnis auf, und so überwand sie ihre Trauer und Wut irgendwann.
Seufzend schloss Kerstin die Wohnungstür auf. Es war schon seltsam, wie sich ihr eigenes Schicksal bei ihrer Tochter wiederholte. Seltsam und traurig. Sie legte die Tüte mit den Brötchen auf dem Esstisch ab, schickte Tommy auf seine Decke und lief den Flur entlang zu Noras Zimmer.
Vorsichtig klopfte sie. »Nora! Ich habe Brötchen mitgebracht!«
Im Zimmer blieb alles still. Kerstin öffnete die Tür. Nora lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie reagierte nicht, als Kerstin eintrat.
Kerstin setzte sich auf die Bettkante und nahm Noras Hand. »Komm, Liebes, wir frühstücken gemeinsam, und dann machen wir einen Ausflug. Du darfst dir aussuchen, wohin.«
Nora schüttelte stumm den Kopf.
Gestern hatte Kerstin ihr von ihrer Freundin Petra erzählt, in der Hoffnung, Nora damit ein bisschen zu trösten, doch offenbar hatte die Geschichte ihre Wirkung verfehlt. »Bitte, zieh dich an, Nora. Und wenn du nichts unternehmen willst, dann machen wir ein Spiel. Meinetwegen sogar Monopoly.«
Kerstin mochte das Spiel nicht, sie zog Brettspiele vor, die Geschicklichkeit oder Kombinationsgabe erforderten, nicht pures Glück und eine Portion Skrupellosigkeit, doch sie wusste, dass Nora es liebte, die Geldscheine zu zählen und in wohl sortierten Stapeln vor sich auszubreiten.
»Mama?«
»Ja, Liebes?«
»Kommen alle Mörder in die Hölle?«
»Du lieber Himmel, wer hat dir denn das erzählt?« Kerstin strich ihrer Tochter über das Haar. »Sie müssen büßen für das, was sie getan haben. Aber der liebe Gott ist gütig, er verzeiht uns unsere Sünden, wenn wir aufrichtig bereuen.«
Nora nickte. »Dieser Mann …«
Kerstin verfluchte stumm ihren Sohn. Er hatte Nora gestern berichtet, dass ein Mann verhaftet worden war. Er hatte im Internet davon gelesen. »Wenn dieser Mann es getan hat, wird er dafür bestraft werden. Er kommt ins Gefängnis. Die Polizei wird dafür sorgen, dass er nie wieder einem Mädchen wehtun kann. So, und jetzt aufstehen! Marsch!« Sie kitzelte Nora am Bauch, die sich kringelte und leise gluckste. Für einen Augenblick war sie wieder das fröhliche Mädchen, und Kerstin schöpfte Hoffnung.
Zeit, alles, was sie brauchten, war Zeit.
Kerstin stand auf und ging zum Schrank. »Was möchtest du anziehen? Die rosa Cordhose und dazu die Bluse, die Papa dir geschenkt hat?« Sie öffnete die Schranktür und suchte nach der Hose. Der Wäschestapel kippte ihr entgegen, dahinter kam ein Schuhkarton zum Vorschein. »Nanu, was ist denn da drin? Hast du etwa doch noch ein Paar Winterstiefel, die dir passen? Dann müssten wir keine neuen kaufen.«
»Nein, das sind meine Sachen!« Nora sprang aus dem Bett und riss ihr den Karton aus der Hand.
Der Deckel löste sich, und der Inhalt verteilte sich auf dem Teppich; Schokoriegel, Haarspangen, zwei Lippenstifte, Wimperntusche, Lidschatten in verschiedenen Farben, mehrere Fläschchen Nagellack, Parfüm, ein kleiner Block mit Pferdebildern.
Ungläubig starrte Kerstin auf den Boden. »Was in aller Welt machst du denn mit den Schminksachen, Nora? Wann hast du sie gekauft? Und von welchem Geld?«
Nora stand mit gesenktem Kopf da, den leeren Karton noch in der Hand.
»Nora! Ich möchte eine Antwort! Woher hast du diese Sachen?«
»Sie gehören Toni und mir«, flüsterte Nora. »Aber ich habe sie aufbewahrt, weil es bei Toni nicht geht. Ihr Vater würde sie umbringen, wenn er Schminksachen bei ihr fände!« Sie schlug die Hand vor den Mund, als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte. Leise begann sie zu weinen.
Kerstin nahm ihre Tochter in den Arm und strich ihr über das Haar. Dann löste sie sich aus der Umarmung und wiederholte ihre Frage: »Von welchem Geld habt ihr diese Dinge gekauft, Nora? Schminke kostet viel Geld. Das sind teure Markenprodukte. Ganz zu schweigen von dem Parfüm. Woher hattet ihr das Geld?«
»Toni hatte es.«
»Woher? Sie bekommt – sie hat nicht mehr Taschengeld bekommen als du. Ich habe mit ihrem Vater darüber gesprochen. Die Dinge in diesem Karton sind über hundert Euro wert.«
»Wir wollten das nicht!«, schluchzte Nora.
»Was wolltet ihr nicht?« Kerstin wurde es plötzlich kalt. Eine Ahnung stieg in ihr auf.
»Die Sachen. Wir haben sie – wir haben sie geklaut. Es tut mir leid, Mami!«
Hin und her gerissen zwischen Wut, Trauer und Angst fasste Kerstin ihre Tochter bei den Armen. »Aber warum denn, Nora?«
»Es war ganz einfach.«
Kerstin hielt Nora von sich weg und betrachtete sie. »Du weißt, dass das nicht richtig ist? Diebstahl ist ein Verbrechen.«
Nora nickte. »Ich tu es nie wieder, Mami, ich verspreche es.«
»Aber warum, Nora, warum habt ihr das getan? Wessen Idee war das?«
»Das war diese Leonie.« Nora hatte aufgehört zu weinen. »Sie hat uns dazu überredet. Es war wie eine – wie eine Art Mutprobe. Wir wollten nichts Böses.«
Kerstin zog Nora an sich. Hielt sie fest. Doch das Mädchen in ihren Armen fühlte sich mit einem Mal fremd an. Noch vor einer Stunde hätte sie ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Nora niemals etwas Derartiges tun würde. Ladendiebstahl. War sie nicht mit ihrem Sohn gestraft genug? Hatte Jan sich nicht schon genug Fehltritte geleistet und seine Eltern damit in den Wahnsinn getrieben? Und jetzt fing Nora genauso an? Nein. Das durfte nicht sein. Diese Leonie war schuld. Sie schien einen schlechten Einfluss auf ihre Tochter zu haben. Wie gut, dass Nora das bereits erkannt hatte. Doch die Sache war noch nicht ausgestanden.
»Du weißt, dass ich das der Polizei melden muss, Nora«, sagte sie. »Schon allein wegen Toni.«
»Aber warum denn?« Nora sah sie verängstigt an.
»Weil die Beamten alles über Toni wissen müssen. Sie haben zwar einen Mann verhaftet, aber damit ist der Fall nicht abgeschlossen.«
»Aber das Klauen hat doch nichts …« Nora weinte wieder.
»Nein, vermutlich hat es nichts mit dem zu tun, was mit Toni passiert ist. Aber erzählen muss ich es trotzdem. Michael und Nicole sollten es auch wissen.«
Kerstin ließ ihre Tochter los und trat an den Schrank, um die herausgefallenen Kleidungsstücke erneut einzuräumen. Hinter ihr schluchzte Nora laut und hemmungslos. Kerstin schloss die Augen. Mit einem Mal kamen ihr Zweifel. Musste sie wirklich überall herumerzählen, dass Nora und Toni geklaut hatten? Wer hatte etwas davon? Kein Mensch. Es schadete niemandem, wenn sie sich einmal im Leben nicht ganz korrekt verhielt. Und ihrer Tochter ersparte sie damit zusätzliches Leid.
Lydia trat mit dem Kaffeebecher ans Fenster und schaute auf die Bilker Allee hinab. Es hatte wieder angefangen zu schneien, doch der Schnee blieb nicht liegen, verwandelte sich auf der Straße in grauen Matsch, der rasch taute. In einem Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite blinkte ein bunter Weihnachtsmann.
Lydia trank den letzten Schluck Kaffee und wandte sich ab. Sie fühlte sich ungewohnt ruhig und ausgeruht. Wider Erwarten war sie gestern Abend sofort eingeschlafen und hatte die Nacht ohne Albträume hinter sich gebracht. Ein seltenes Glück. Sie stellte die Kaffeetasse auf der Spüle ab, fuhr sich vor dem Spiegel im Flur noch einmal durch ihr strubbliges Haar und stieg in ihre Stiefel. Nachdem sie sich Parka, Schlüssel und Dienstwaffe geschnappt hatte, verließ sie die Wohnung.
Draußen roch es nach Winter. Lydia sog die kalte Luft ein. Von ihrer Haustür bis zum evangelischen Krankenhaus waren es nur ein paar Minuten zu Fuß, trotzdem nahm sie den Toyota. Sie parkte im Halteverbot und marschierte durch den Eingangsbereich zu den Fahrstühlen. Am Abend zuvor hatte sie nicht mit Palmerson sprechen dürfen, vielleicht hatte sie heute mehr Glück.
Der Beamte vor der Zimmertür grüßte sie gähnend.
»Irgendetwas, das ich wissen müsste?«, fragte Lydia.
»Nee«, antwortete der...
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