BETHANY
DAS WASSER des Flusses stand so niedrig, daß ich die mit Trauerweiden bewachsene Insel an diesem Abend trockenen Fußes erreichte.
Es war ungewöhnlich kühl diesen Herbst, und ich führte den Stand des Flusses darauf zurück, daß in den fernen Bergen, die sich als kaum zu erahnende Schemen am nördlichen Horizont abzeichneten, der Niederschlag bereits als Schnee zu Boden ging. Erst im Frühjahr würde die Schmelze zu neuen Überschwemmungen führen. Dann läge die Stelle, an der ich mich nun befand, wohl zwei Meter unter der Oberfläche des reißenden Flusses.
Das Singen der Telegraphenleitungen mischte sich unter den Chor der Zikaden, die unermüdlich im paarungslüsternen Konzert wetteiferten. Bald würden sie verstummen. Im Winter ruhte die Stadt für Monate wie tot, nur aus der Kanalisation würde sich die sumpfige Schwüle nicht vertreiben lassen, würde das Ungeziefer weiter rumoren und rastlos seine abscheuliche Brut gebären.
Ein gutes Stück flußaufwärts befanden sich die in den weichen Specksteinuntergrund der Stadt gegrabenen Zisternen, in denen die Frauen ihre Wäsche wuschen.
Im Flußbett wimmelte es nur so von feucht glitzernden Ratten, die in den runden Austrittsöffnungen der Abwasserkanäle hervorragende Brutstätten fanden. Niemand unternahm etwas gegen diese Plage. In der Regel fielen sie in ihrer natürlichen Feigheit nur Kinder und Schwache an, die sich in ihr Revier begaben, so daß ich mich sicher fühlen konnte.
Im Licht des Sonnenuntergangs glühten die Uferbebauung und die noch höher aufragenden Türme der Kernstadt, als ob Cathay brenne.
Schon einmal hatte ich erlebt, daß die Stadt brannte. Das war nun wohl fast auf den Tag genau zwölf Jahre her, und noch heute zeugten unzählige rußige Ruinen von dem einstigen Inferno, das wie ein Sturm über die altehrwürdigen Mauern gefegt war und die letzten Reste von Kultur im dekadenten Cathay hinweggebrannt hatte.
Selbst auf der flachen Insel, auf der ich nun stand, fanden sich Spuren jener schrecklichen Tage. Ich mußte nur ein wenig mit dem Fuß zwischen den algenüberzogenen Steinen und fächerförmigen Muscheln scharren. Die meisten Zeugnisse der Vergangenheit hatte der Fluß in seiner stetigen Drift sicherlich mit ins endlos weite Meer gerissen, doch hartnäckig widersetzten sich die Opfer von einst dem Vergessen.
Da, das beinern schimmernde Fragment eines Kinderschädels. Der Größe nach zu urteilen, war das Kind kaum über das Säuglingsalter hinaus gewesen. Ob es in den aus Degeneration geborenen Riten oder der darauffolgenden Feuersbrunst gestorben war, vermochte ich anhand dieses Bruchstückes nicht zu sagen, doch das machte auch keinen Unterschied.
Die Geschehnisse jener finsteren Tage, die auf ewig an diesem Ort das Antlitz der Erde verdunkeln würden, riefen sich mir ins Gedächtnis zurück.
MAN HATTE MICH zu dem Zweck nach Cathay geholt, daß ich ein Haus baue. Das war nichts Ungewöhnliches an sich, denn ich bin Architekt. Ich hatte Häuser in Deutschland gebaut, einige größere Projekte, die sich über Jahre hingezogen und mir zu einem hervorragenden Ruf verholfen hatten.
Doch niemals hatte ich Erfüllung in dem gefunden, was ich tat. Meine Gebäude schienen leer, auch wenn sie bewohnt waren, seelenlos, auch nach Jahren noch.
Dann traf ich auf einem Empfang, zu dem mein damaliger Bauherr und Auftraggeber geladen hatte, einen Mann, der mir durch sein bestimmendes und beherrschendes Auftreten imponierte. An der Tafel hatte ich ausgerechnet neben ihm gesessen, und während wir aßen, hatte er mich in ein angeregtes Gespräch verwickelt, in dessen Verlauf ich erfuhr, daß sein Name Jakob Bellthal lautete und daß er nicht in Deutschland lebte, sondern in Cathay, einer Stadt am Rande der südlichen Himalaya-Ausläufer.
Bellthal beschrieb das Leben dort in den buntesten Worten, und mich ergriff eine unglaubliche Sehnsucht nach der Ferne. Weg, hinfort aus dem faden Leben, das ich bis dahin geführt hatte, auf ins Abenteuer, auf in eine Welt der Herausforderungen. Ich wurde zum interessierten Zuhörer, und Bellthal war ein Mann, der sich selbst gerne reden hörte.
Ich unterbrach ihn während der mehr als einstündigen Rede nicht. Dann erkundigte er sich nach mir und dem Grunde meiner Anwesenheit auf dem Empfang.
Als er von meinem Beruf erfuhr, stieß er einen Laut des Entzückens aus und sagte: "Mein Freund, welch ein Glück, daß ich Ihnen begegnet bin. Sie scheinen mir der rechte Kerl für die Sache zu sein, die ich als nächstes angehen will.". Und begann zu berichten, von einem Projekt, einem Wohnhaus für ihn und seine Gemahlin, doch anders als jedes bislang errichtete Haus solle es werden. Pläne, ja, Pläne habe er bereits - im Kopf, doch er bräuchte jemanden, der sie aufs Papier brächte. Am Geld solle es nicht mangeln.
Und ich erfuhr, daß die einzige Süßwasserquelle der am Ozean gelegenen Stadt von seinem Trust verwaltet wurde. Was er mit den entflammten Worten eines begeisterten Geschäftsmannes akklamierte, hatte für mich einen irgendwie schalen Beigeschmack. Ich hatte den Eindruck, als bedeute diesem Mann das Leben eines Menschen nur wenig. Seine Macht über die Bewohner Cathays schien er ohne Skrupel auszuspielen. Wehe dem, der sich in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihm begab.
Dann änderte sich der Tonfall seiner Rede, und Bellthal verwandelte sich zurück in einen aufgeschlossenen Kosmopoliten. Er schlug mir vor, ihn auf seiner Rückfahrt zu begleiten und mir den Ort anzuschauen, den er sich für sein zukünftiges Heim ausgesucht hatte.
Was hätte mich in Deutschland halten sollen? Ich schlug ein und besiegelte den Handel.
Da schlug es Mitternacht. Sektkorken knallten, die Kirchturmglocken läuteten in der Ferne, und ein farbenfrohes Feuerwerk verglühte am Nachthimmel.
Ein neues Jahr begann.
CATHAY zeigte sich bei meiner Ankunft im Hafen als eine blühende Stadt, der aber eine nur schwer greifbare Schwermut zu eigen war. Seine Bewohner, gut dreißig von hundert waren deutscher Abstammung, hatten sich zweifellos an die ungewöhnlichen Lebensumstände dort gewöhnt.
Mir fiel von Anfang an die Orientierung in der Stadt schwer. Die Grundlagen der Stadtplanung waren mir geläufig, doch Cathay schien in dieser Hinsicht keinen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. Seine Viertel verteilten sich auf verschiedene Höhenebenen, so daß das Bild der Stadt von Hundertschaften kleiner Treppen und Stiegen, Tunneln, Arkaden und Brücken bestimmt wurde. Eine wahre Fundgrube für einen Architekten, denn hier ließen sich die verschiedensten Spielarten der Baukunst studieren. Vorherrschend war eine archaisierende Form der Neogotik, die von den Einwanderern mitgebracht und mit den Urformen einer fernöstlichen Architektur vermischt worden war. Ich selber lebte in einem solchen Haus, war in einem der weniger feuchten oberen Geschosse untergebracht. Die Feuchtigkeit in Cathay ist an manchen Tagen erdrückend. Es regnet durchschnittlich zweihundertsiebzig Tage im Jahr, und die durch Verdunstung in der Luft befindliche Nässe schlägt sich auf allem nieder und sorgt für eine unglaublich rasche Korrosion. Und wenn die Fluten des Kar steigen, drücken sie das Grundwasser in die Keller.
Ich habe davon gehört, daß sich an schwülen und feuchten Tagen besonders viele Selbstmorde in der Stadt ereignen.
Nun, meine Wohnung befand sich in ausreichender Entfernung vom Fluß, doch wenn die von Südwinden über der See zusammengetriebenen Wolken sich an den Hängen der Dschungelgebirge im Norden entluden, setzte tagelang anhaltender Dauerregen ganz Cathay unter Wasser.
Nur drei der acht Wohnungen des Hauses in der Eisenstraße waren überhaupt bewohnt. Es war ein Bau aus den Gründertagen der Stadt, mit tiefen Kellern, die mehrere Etagen weit in den Grund vordrangen, Wurmlöchern gleich - klamm, finster und kaum belüftet.
Auch in diesen Kellern gab es Wohnungen. Hier hausten mitunter die Ureinwohner, die in einer fragwürdig sprunghaften Mimikry gewisse Züge des europäischen Lebens angenommen hatten.
Das Haus, das ich für Bellthal plante, sollte den Traditionen der Stadt folgen. Es würde einen absolut quadratischen Grundriß aufweisen und nach außen klar strukturiert erscheinen; im Inneren wünschte sich der Industrielle aber ein wahres Labyrinth von Räumen, die er grob skizziert hatte.
In den tiefsten Kellern wollte er Baderäume und Zisternen untergebracht sehen, in deren Pracht sich der Reichtum, den er durch das wertvolle Naß gemacht hatte, widerspiegeln sollte. Mich wunderte diese hingebungsvolle Anbetung des Elements zwar, doch ich hatte wohl schon absonderlichere Wünsche erfüllen müssen.
Und auch hier begegnete ich bald einer recht merkwürdigen Vorgabe des Bauherren. Ins Fundament des Gebäudes sollten, so verlangte er, die Zahlen 4, 9, 2, 3, 5, 7, 8, 1 und 6 aus korrosionsbeständigem Kupfer eingelassen werden. Erklärung gab er mir keine, und das brauchte er auch nicht, denn er bestimmte in jeder Bauphase, wie vorgegangen wurde. Ich war alleine für die Ausführung seiner Vorstellungen zuständig und hatte alle Hände voll zu tun, Lösungen für die zum Teil schwierigen Probleme zu finden, die sich uns in den Weg stellten.
Die ersten Wochen nahmen denn auch häufige Besuche bei Bellthal zur Besprechung des Projektes in Anspruch, bevor überhaupt die Arbeiten beginnen konnten.
Ich begab mich hierzu...